aufsuchen,“ meinte er, „wie in früheren Zeiten, wenn ich nur den Anblick der mehr oder weniger nackten Menschen vermeiden könnte.
Sehen Sie, noch vor fünf Jahren konnte mich ein menschlicher Körper unter Umständen sogar begeistern, – griechische Statuen waren mir ein Kunstgenuß. – Und jetzt! – Seit mir die Schuppen von den Augen gefallen sind, quält mich ihr Anblick wie physischer Schmerz. – Bei den modernen Skulpturen mit den wirbelnden oder überschlanken Formen geht es noch halbwegs, aber ein nackter lebender Mensch ist und bleibt mir das Grauenhafteste, das sich denken läßt. – Die klassische Schönheit ist eine Schulsuggestion, die sich vererbt, wie eine ansteckende Krankheit. –
Betrachten Sie doch einmal eine Hand. Ein widerlicher Fleischklumpen mit fünf verschieden langen, scheußlichen Stummeln! Setzen Sie sich ruhig hin, schauen Sie so eine Hand an und werfen Sie alle Erinnerungen fort, die daran hängen, – betrachten Sie sie, kurz gesagt, wie etwas ganz Neues, und Sie werden verstehen, was ich meine.
Und gar wenn Sie das Experiment auf die ganze menschliche Gestalt ausdehnen! Da faßt einen das Grausen; ich möchte sagen, die Verzweiflung, – eine nagende Todespein. Man fühlt den Fluch der Vertreibung aus dem Paradies am eigenen Fleische.
Ja! – Wirklich schön ist eben nur das, was man sich mit Grenzen nicht vorstellen kann, – etwa der Raum; alles andere, begrenzte, selbst der prächtigste Schmetterlingsflügel, ruft den Eindruck der Verkrüppelung wach. –
Die Ränder, die Grenzen der Dinge – werden mich noch zum Selbstmorde treiben; sie machen mich so elend, und es würgt mich, wie sie mir in die Seele schneiden. –
Gustav Meyrink: Orchideen. München o. J., Seite. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Orchideen_Meyrink.djvu/112&oldid=- (Version vom 31.7.2018)