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Seite:De Orchideen Meyrink.djvu/113

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Bei manchen Formen tritt mich dies Leiden weniger quälend an, – wie ich schon sagte: bei den stilisierten Linien der Sezession, aber unerträglich wird es bei den natürlichen, die quasi frei wachsen. –

Der Mensch! – Der Mensch! Was peinigt einen so beim nackten Menschen?! Ich kann es nicht ergründen. – Fehlen ihm Federn oder Schuppen, oder Lichtausstrahlungen?

Ich sehe ihn immer wie ein Gerüst vor mir, um das herum die eigentliche Hülle fehlt – leer wie ein Rahmen ohne Bild. – Doch wohin soll ich die Augen geben, die so gar nicht zu dieser Vorstellung passen und so unbegrenzt scheinen?“ –

Chlodwig Dohna hatte sich ganz in dem Thema verloren, sprang endlich auf und ging erregt im Zimmer auf und ab, indem er nervös an seinen Nägeln biß.

„Sie haben sich wohl viel mit Metaphysik oder Physiognomik befaßt?“ meinte ein junger Russe, Monsieur Petroff.

„Ich? Mit Physiognomik? – Nein. Brauche es auch gar nicht.

Wenn ich bloß die Hosenbeine eines Menschen ansehe, weiß ich alles über ihn und kenne ihn besser, als er sich selbst.

Lachen Sie nicht, mein Herr, es ist mein voller Ernst.“

Die Frage mußte Dohna immerhin in seinen sich fortspinnenden Grübeleien unterbrochen haben, – er setzte sich zerstreut nieder und empfahl sich plötzlich steif und förmlich von den Herren, die einander befremdet ansahen, aber nicht sonderlich befriedigt schienen: – es war ihnen zu wenig gewesen.

Am nächsten Tag fand man Dohna tot vor seinem Schreibtische.

Er hatte sich erschossen.

Empfohlene Zitierweise:
Gustav Meyrink: Orchideen. München o. J., Seite. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Orchideen_Meyrink.djvu/113&oldid=- (Version vom 31.7.2018)