„Was ist des Deutschen Vaterland?“ in London

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Autor: unbekannt
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Titel: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ in London
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 175-176
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[175] „Was ist des Deutschen Vaterland?“ in London. Am 21. Februar Abends 8 Uhr traten in einem brillant erleuchteten, von Damen in voller Balltoilette und Herren mit schneeweißen Handschuhen reichlich gefüllten Saale den Westendes 38 stattliche deutsche Männer und Jünglinge, größtentheils charakteristische Köpfe und ausdrucksvolle, bärtige Physiognomien, in einem Halbkreise auf und fragten plötzlich mit vollem kräftigen Chor in das gemischte englisch-deutsche Publicum hinein:
  „Was ist des Deutschen Vaterland?“
Zufällig, aber doch just 38 deutsche Mitglieder des Islington-Gesangvereins – auf jeden deutschen Staat zu Hause Einer – fragten es und wiederholten die Frage immer zorniger und leidenschaftlicher, bis sie endlich in einem charakteristischen Piano die bekannte richtige Antwort gaben und dann stürmisch, schmetternd, zornig befehlend, kategorisch fordernd, in triumphirender Fuge wiederholend sich darin einigten: „Das soll es sein! Ja, das soll es sein!“ Wir wußten’s längst. Nachdem es der alte Arndt in großer, bewegter Zeit vor einem halben Jahrhundert zum ersten Male in aufflammendem patriotischen Zorne in’s deutsche Volk hineingefragt, haben wir’s zu unserer Nationalhymne, zu unserer Einheits-Standarte erhoben und immer gesungen, sobald uns das Herz für Deutschlands Ehre und Einheit schlug. Der alte Arndt ist neunzig Jahre alt geworden und hat es doch nicht erlebt, was er und seitdem Millionen mit ihm wohl millionenmal als unerläßlich und gar nicht mehr fraglich als Grundbedingung deutscher Einheit und Ehre forderten. Aber über seinem Grabe lebt es und klingt es hinaus, so weit die deutsche Zunge klingt, so weit man deutsche Lieder singt: in aller Herren Ländern, unter allen Längen- und Breitengraden regt sich und bewegt sich und verkörpert sich die alte Arndt’sche Forderung der Deutschen, die von einem andern Dichter, dem größten, universalsten, deutschesten, kosmopolitischen Schiller, in aller Welt zu sich gekommen, vereinigt, im deutschen Geiste erhoben und stolz geworden an der Verwirklichung eines einigen Deutschlands arbeiten, das vielleicht die Arndt’schen und des deutschen Volkes Forderungen einst glänzend und weit, weit um die Erde herum übertreffen wird. Die Deutschen, in aller [176] Welt, rund um die Erde herum zerstreut, haben sich nicht verloren, sind dem „Vaterlande“ nicht verloren, sondern haben alle, alle, wo nur einige Dutzende sich vereinigen konnten, in tausend Städten des weiten Amerika, in Sibirien, am Amur, in Moskau und Petersburg, in Smyrna, Athen und Constantinopel, in Rom und Turin, in Lissabon und Oporto, in London und Manchester und andern englischen Städten sich von ihrem größten Dichter zusammenrufen lassen und einen neuen Bund mit dem Vaterlande und seinen Einheitsbewegungen geschlossen.

Das Schillerfest im Krystall-Palaste in London war grandios und glänzend mit einer Schaar von etwa 14,000 Theilnehmenden. Wir erwarteten auch dauernde Wirkungen und Früchte davon. Die Krystall-Palast-Compagnie zahlte dem Comité ein Drittel der großen Einnahme. Damit ließ sich, wie allgemein gehofft ward, viel Gutes und Schönes begründen, wenigstens die „Schiller-Anstalt“ (deutsche Bibliothek, deutsche Vorträge, Concerte u. s. w.), die Dr. H. Beta schon beim Zusammentritt des ersten Comité’s am 11. October in ihren Grundrissen vorlegte. Aber die Vorbereitungen zum Feste und die Nachwehen, durch die Frechheit eines Vorsitzenden und nicht wieder loszuwerdenden Morgenländers in Mißstimmungen und Täuschungen auslaufend, unter Anderem in die, daß von der Einnahme nicht nur nichts übrig blieb, sondern auch noch nachgezahlt werden mußte, ohne daß jemals speciell Rechnung abgelegt ward, die Ängstlichkeit Anderer, die eine Schiller-Anstalt mit großem Namen und viel Capital haben wollten, verschleppten und tödteten die Anstalt. Nach vielen Wochen traten mehrere Deutsche wieder zur Bildung eines Schiller-Vereins zusammen und zwar ganz mit dem Zwecke und Plane der Schiller-Anstalt. Sie nannten gar keine Namen, geschweige große, forderten aber 300 Pfund, um anzufangen. Wie ich höre, sind zu diesem Zwecke von den 100,000 Deutschen in London fünf Pfund (von einem Einzigen) gezeichnet worden, außerdem etwa vierzig Pfund bedingungsweise von Comité-Mitgliedern. Beispielsweise führe ich an, daß Jemand fünf Pfund beizutragen versprach, wenn die 300 Pfund beisammen wären. In Manchester, mit nicht halb so viel Deutschen, fing man den Schillerverein beim Schillerfeste mit 600 Pfund an und erfreut sich seitdem der segensreichsten Wirkungen.

Die so zerstreuten und verstimmten Einheitsbedürfnisse der Deutschen in London suchen sich inzwischen nach andern Richtungen und in andern Formen geltend zu machen. Man arbeitet an der Begründung eines großen deutschen Central-Hotels, spricht von dem Baue einer deutschen Bierbrauerei (der Mangel an deutschem Bier hier hat große Schuld an deutscher Zerfahrenheit), und ein respectabler Verein „Erholung“ ruft deutsche Familien zu gemeinschaftlichen Abendessen und Bällen zusammen. Die mancherlei einzelnen deutschen Vereine haben durch das Schillerfest an Wärme, Zahl und Wirksamkeit zugenommen. Auch an einer politischen Vereinigung der Parteien zum Anschluß an die deutsche Einheitsbewegung wird jetzt gearbeitet. Manche Vertreter extremer politischer Richtungen haben bereits erklärt, daß sie dem großen Radical-Zwecke, der Einheit, alle sonstige Partei-Interessen freudig opfern würden, so daß wir Hoffnung haben, Republikaner und Royalisten, Demokraten und Constitutionelle in den einen großen deutschen Geist der Einheitbestrebungen verschmelzen zu sehen.

Auch das 38fach ertönende „deutsche Vaterland“ in einem der fashionabelsten Säle des Westendes war ein edler deutscher Einheitston vor einem gewählten englischen und deutschen Publicum, der Anfang eines „deutschen Concerts“, des ersten in London, veranstaltet von dem deutschen Ehrenmanne und Trombone-Virtuosen, Herrn Moritz Nabich, und durchweg gespielt und gelungen von deutschen Künstlern und Künstlerinnen ersten Ranges. Mit Herrn Nabich wirkten die Herren E. Pauer, Componist der Freiligrath’schen Schiller-Cantate, dem englische Anerkennung kurz darauf den Professortitel verlieh, Weiß, Pape, Svendsen und de Becker, die Damen Rudersdorff und Weiß, lauter Namen, die seit Jahren in London geehrt sind und auf englischen Concert-Programms glänzen. Wir wollen hier kein Concert-Referat liefern, sondern den Abend des 21. Februar in London nur als eine schöne, volle Blüthe deutscher Kunst und Cultur, deutschen Einheitsbedürfnisses, deutscher Anerkennung vor dem englischen Publicum verzeichnen und hinzusetzen, daß Herr Nabich und seine deutschen künstlerischen Freunde diesen Abend als den Anfang anderweitiger deutscher Kunstgenüsse betrachten, die demnächst dem Schillervereine zu Gute kommen sollen.

Musik, die schöne, flüssige Kunst, Stimmungen hervorzurufen, zu erwärmen, zu veredeln und zu beleben und diese im Leben zu fixiren, auszubauen (weshalb Jean Paul die Baukunst „gefrorne Musik“ nennt), hat in der Posaune des Herrn Nabich gewiß einen gewaltigen Baumeister gefunden, dem bereits vor Jahren die höchsten Autoritäten musikalischer Kritik, Spohr in Deutschland, Berlioz in Paris, Balfe in London etc. erste Preise ihrer Anerkennung zusprachen. Freilich das große Publicum, obgleich auch an jenem Abende ungemein enthusiastisch, muß erst lernen, verwöhnt wie es ist durch Virtuosen-Künste, diese Kunst des reinen, weichen, gesungenen Tones, der jeder Kraft und Stimmung, vom leisesten Hauche bis zum Todte erweckenden Mozart’schen „dies irae“-Donner, fähig ist, verurtheilsfrei und mit Verständniß zu würdigen. Nur solche Musik kann zur Baukunst gefrieren. Wir hoffen, daß die Nabich’sche Posaune Material zur „deutschen Vereinshalle“ in London liefere.