ADB:Pünjer, Bernhard

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Artikel „Pünjer, Bernhard“ von Arno Neumann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 146–153, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:P%C3%BCnjer,_Bernhard&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 00:37 Uhr UTC)
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Band 53 (1907), S. 146–153 (Quelle).
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Pünjer: Georg Christian Bernhard P., namhafter Docent der systematischen Theologie zu Jena im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, gehört äußerlich und innerlich zu den Frühvollendeten. Denn seine 35 Lebensjahre bergen einen außergewöhnlich werthvollen Inhalt.

P. wurde am 7. Juni 1850 im Schulhause zu Friedrichsgabekoog bei Büsum im Kreise Norderdithmarschen (Holstein), ganz nahe bei Wesselburen, der Heimath Hebbel’s, als vierter von fünf Söhnen geboren. Solch ein „Koog“ ist ein eingedeichtes, zum Körnerbau reifes Stück Schwemmland. Hier gab es nur sieben von einander getrennte Bauernhöfe. Auch das Schulhaus lag völlig einsam, nahe am brausenden Meere, mit weitem, ebenen Horizonte und zwischen wogenden Kornfeldern und fetten Viehweiden. Mit den begüterten, gebildeten, auf ihre republikanische Vergangenheit stolzen Marschbauern, den „Nachbarn“, hielt man so herzlichen Verkehr, daß später einer von ihnen, ganz von selber und völlig ungenannt, große Opfer brachte, um dem jungen Gelehrten die Wege zur Professur zu ebnen. Sonst war die Menschenleere des Landes oft geradezu gemüthbeängstigend. Als Schleswig-Holstein preußische Provinz wurde, war die Schule des Vaters Pünjer mit ihren 8 Schulkindern die kleinste Volksschule im ganzen Königreiche. Schon seit 1848 war die Familie antidänisch und begeistert deutsch gesinnt. Es herrschte der Geist größter Einfachheit und tiefen, fast zu tiefen Ernstes im Hause. Denn der Vater, als Sohn kleiner Leute in Trittau bei Hamburg geboren, hatte eine harte Jugend verlebt und war dabei selber hart geworden. Und die Marsch mit ihren eckigen und zähen Menschen hat auch nichts Erweichendes. Er war ganz Pflicht und Arbeit, ohne jede Fröhlichkeit und jeden Kunstsinn. Kaum daß Schiller’s Werke im Hause waren! Der Religionsunterricht diente ohne viel innere Antheilnahme der tradionellen Rechtgläubigkeit, wie sie der visitirende Bischof Koopmann, bekannt aus der Fehde mit R. A. Lipsius, wünschte, wenn er auch nicht in den üblichen Normaldictaten endete. Daher drängte der Vater den Sohn bald von selbst auf die Seite gesunder Opposition in der Stille. Die Mutter dagegen war eine begabte Lehrerstochter, eine geborene Schneekloth aus dem Kirchdorfe Hemmingstedt in Dithmarschen. Sie war ohne alle Bücherbildung, aber von unmittelbarer Herzlichkeit und beweglichem Frohsinne. Mit undogmatischem Gottvertrauen hat sie den Schmerz über den frühen Tod dreier hoffnungsvoller Söhne zu überwinden gewußt. Sie wurde auch von Bernhard überaus geliebt. Schon 1882 starb sie an einem Lungenschlage.

[147] Im 14. Jahre rang es der bildungsdurstige Sohn dem Vater ab, daß er, nach privater Vorbereitung durch den befreundeten Pastor Maaßen im nachbarlichen Kirchdorfe Wöhrden, gerade zu Ostern des Entscheidungsjahres 1866 in die Tertia des Gymnasiums zu Meldorf eintreten durfte. Er durchlief die Anstalt mit außerordentlicher Schnelle bis Ostern 1870 und lernte hier, wie sein Abiturientenaufsatz beweist, immer mehr, „daß Wissen Macht ist“. Am meisten zeichnete er sich im Religionsunterrichte aus. Aber auch sonst war er in allen Fächern tüchtig. Namentlich die Mathematik mit ihrer nüchternen Schärfe hatte es ihm so angethan, daß er beim Abgange zur Universität schwankte, ob er sich ihrem Studium nicht ganz widmen sollte. Schon damals zeigte er eine große stilistische Gewandtheit. In dieser doppelten Begabung erkennen wir deutlich das Erbtheil des Vaters. Seinen religiösen Standpunkt charakterisirte damals der selbstbewußte Maturus im Schüleralbum des Gymnasiums, höchst bezeichnend für seine spätere theologische Selbständigkeit und Freiheit, mit dem Spruche: „Ein jeglicher wird seines Glaubens leben“ (vgl. Röm. 1, 17; Gal. 3, 11).

Deshalb begann er auch seine Studien, als er sich für die Theologie entschieden hatte, 1871 in Jena, wo damals noch Hase den Mittelpunkt der Facultät bildete. Als der Krieg gegen Frankreich ausbrach, wollte P. sofort sein Studium unterbrechen und versuchte, als Freiwilliger angenommen zu werden. Allein umsonst! Wahrscheinlich hatten die Aerzte bereits die ersten Keime seiner späteren Krankheit gefunden. Geschwächt war seine Gesundheit wohl namentlich dadurch, daß er zwei Mal dem Ertrinken nahe gewesen war. Denn zuvor wird er uns als eine kräftige Jünglingsgestalt beschrieben. 1871 wechselte P. die Hochschule und ging, ein Feind aller Einseitigkeit, nach Erlangen, um den Geist einer kirchlich gebundenen Theologie auf sich wirken zu lassen. Befremdet zog er von hier schon ein Semester später nach Zürich zu A. E. Biedermann. Trotzdem führte er später die Strenge gegen sich selbst und sein Werthlegen auf das Geschichtliche im Christenthum auf einen nachwirkenden Einfluß des Erlanger v. Hofmann zurück. Biedermann wurde bald grundlegend für sein Denken. Von Zürich siedelte er 1872 nach der heimathlichen Universität Kiel über, um schließlich wieder in Jena zu landen. Hier war seit 1871 Rückert’s Nachfolger, R. A. Lipsius, immer mehr zum „allerseits anerkannten Führer“ geworden. Bald schloß sich auch P. in herzlicher Verehrung an ihn an. Der Einfluß, den Lipsius auf den jungen Theologen ausübte, und ihre freundschaftliche Intimität wuchsen bis zu Pünjer’s Lebensende beständig. Lipsius hat für seinen Schützling, in dem er gerne seinen einstigen Nachfolger sah, mit beinahe väterlicher Liebe gesorgt und ihm schließlich auch die Augen zugedrückt.

Nachdem sich der Student bereits durch eine lateinische Rede über die Entwicklungsgeschichte der Melanchthonischen Loci am 30. Mai 1874 das Lyncker’sche Baccalaureatsstipendium verdient hatte (Ratio, quae inter Melanchthonis locorum theologicorum formam priorem et posteriorem intercedat, exponitur. Jenae, typis Hermsdorfi, 1874. 19 p.), erreichte er im gleichen Jahre den äußern Abschluß seiner Studien. Zuerst promovirte ihn die philosophische Facultät auf Grund einer Dissertation über „Die Religionslehre Kant’s“ (Im Zusammenhange seines Systems dargestellt und kritisch beleuchtet. Jena, Maucke’s Verlag, 1874. VIII, 112 S.). Dann absolvirte er zu Michaelis in seiner Heimathprovinz vor dem evangelisch-lutherischen Consistorium in Kiel das theologische Amtsexamen mit dem „zweiten Charakter und zwar mit rühmlicher Auszeichnung“. Den Einzelcensuren gegenüber begreift man es, daß P. der Meinung war, man habe ihm nur um seiner liberalen Ueberzeugung [148] willen die erste Nummer vorenthalten. Den für die Anstellungsfähigkeit nothwendigen sechswöchentlichen Seminarcursus machte er nicht, weil er schon seit Jahren die brennende Sehnsucht im Herzen trug, akademischer Lehrer zu werden. Er kehrte vielmehr nach Jena zurück und wurde 1875 Licentiat der Theologie. Seine Arbeit pro venia docendi handelte über Michel Servet’s Lehrsystem (De Michaelis Serveti doctrina commentatio dogmatico-historica, Jenae, typis Maukii, 1876, IV, 110 p.). Nunmehr hätte er sofort Vorlesungen beginnen können, wenn nicht bereits 1874 ein großer gesundheitlicher Warner in Form eines Blutsturzes erschienen wäre. Daher zog er es vor, zunächst den Winter 1875 auf 1876 zur Gesammterfrischung seines angegriffenen Organismus in Mentone an der Riviera zu verbringen. Im Frühling 1876 erfolgte dann die Habilitation mit einer Probevorlesung über das Verhältniß des Darwinismus zur Religion und Sittlichkeit (Jahrb. f. prot. Theol. 1877, S. 59–83). Durch Otto Pfleiderer’s Berufung nach Berlin (1875) war in Jena damals gerade für einen Systematiker Raum geworden. P. blieb bis 1880 Privatdocent. Dann wurde er Extraordinarius. Seine Vorlesungen hat er seit einem schweren Typhusanfalle im J. 1876 nie wieder unterbrochen. Nach Vollendung seiner zweibändigen „Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der Reformation“ (Braunschweig, Schwetschke & Sohn. I, 1880, IX, 491 S.; II, 1883, VI, 399 S.) verlieh die Heidelberger Theologenfacultät dem Dreiunddreißigjährigen am Luthertage den Ehrendoctor. Leider hatten sich mitten im angestrengtesten Fleiße immer wieder von Zeit zu Zeit die Anzeichen eines Lungenleidens geltend gemacht. Daher unternahm er in den Ferien regelmäßig Erholungsreisen; so nach der stillen Einsamkeit der Heimathfluren 1879 und 1882, so 1884 nach Reiboldsgrün, wo er eine in sein Leben tief eingreifende Freundschaft mit der gleichgestimmten Familie Wittgenstein aus Döbeln schloß. Im April ging er nach Dresden, um sich, wie er schrieb, „künstlerisch zu erfrischen“. Denn er hatte es immer als einen Mangel empfunden, daß man ihm nicht von Jugend auf den Blick für das Schöne, für Malerei und Musik, geöffnet hatte. Von dieser Reise kehrte er in den Osterferien nach seiner eigenen Empfindung „schwerkrank“ heim. Er fieberte und war arbeitsunfähig. Am 6. Mai machte er seinen letzten Ausgang und besuchte D. Lipsius. Er war noch immer voll Hoffnung auf Genesung. Da plötzlich, in der Nacht vom 11. auf den 12. Mai, umdüsterte sich sein Geist; am 13. 6 Uhr Abends verlöschte sein Leben still wie eine Kerze.

Die alte Krankheit erschien durch allerlei gemüthliche Erregungen neu geweckt worden zu sein. Enttäuschungen über die nicht erfolgte Berufung in eine ordentliche Professur, zuerst nach Gießen, dann nach Zürich, schließlich nach Heidelberg, scheinen um so schmerzlicher gewesen zu sein, als er auch das Leben des Einsamen, wirthschaftlich Kämpfenden immer deutlicher empfand. Und es war sicher nicht nur seine Krankheit, sondern mehr noch die charaktervolle Weitherzigkeit seiner religiösen Position, welche ihm die Thore zum Glücke verschloß. War er doch inzwischen längst durch seine erfolgreiche Lehrthätigkeit und seine litterarischen Arbeiten zu einem Manne von Ruf geworden. Die Section freilich konnte nur hochgradige Lungentuberkulose und Herzerweiterung feststellen. Am 16. Mai Abends 6 Uhr wurde er neben der Garnisonkirche auf Universitätskosten bestattet. Diakonus Dr. Kind, einer seiner Freunde, amtirte, Geh. Kirchenrath D. Lipsius als am meisten getroffener Facultätsgenosse baute ihm in seiner Rede von rührender Schönheit ein Ehrendenkmal, später von D. Nippold in einer Einführungspredigt für die theologischen Seminaristen über I. Cor. 1, 22–24 secundirt. Den einzigen größeren Nachruf, [149] der ihm wurde, schrieb sein bester Freund, Professor D. Schmiedel in Zürich, damals noch sein College in der Jenenser Privatdocentur.

Bezeichnender Weise hatte P. 1876 seine Lehrthätigkeit mit einem Colleg über Schleiermacher eröffnet, also mit dem Quellstadium der modernen Theologie und dem eigentlichen Begründer der Religionspsychologie. Denn auch bei P. verbanden sich wie bei jenem die theologischen Interessen aufs innigste mit den philosophischen. Wenn er sich auch als Docent von hier aus über die gesammte systematische Theologie und Theile der Kirchengeschichte verbreitete, so gehörte doch seine eigentliche Liebe immer mehr und mehr der Religionsphilosophie. Man hörte P. gerne; denn er war von unbestechlicher Wahrhaftigkeit, objectiver Klarheit und zugleich von echter religiöser Wärme und sittlichem Ernste. Er hatte „als lebendiger Christ an sich erfahren, daß nur persönliche Frömmigkeit dem Streben den Frieden, der Arbeit des Lebens die rechte Kraft und Weihe geben kann“. Wir können feststellen, daß es immer die besten Theologen, die Principienringer, waren, die zu ihm gingen und mit ihm in freundschaftlichen Verkehr kamen. Mancher gute Name steht in den Listen derer, welche später als Getreue Büchergeschenke aus der von ihm hinterlassenen Bibliothek erhielten. Denn er war ausgezeichnet dazu geeignet, durch jene Zweifel und Seelenkämpfe hindurchzuführen, die junge Religionsvertreter so oft durchzumachen haben. Er vergaß bei seinen Vorlesungen die praktischen Interessen nie. Er schreibt in seinem theologischen Testamente (Die Aufgaben des heutigen Protestantismus, S. 21) über die theologische Wissenschaft: „Sie hat vor allem auch die Vorbildung der künftigen Diener am Worte in diesem Geiste (der Wahrheit und Weite) zu leiten, damit sie über der zunächst vorwiegenden Beschäftigung mit der menschlich bedingten Geschichte der Religion in kritischen, historischen und philosophischen Untersuchungen ihren göttlichen Inhalt zur Stärkung und Tröstung des fehlenden und ringenden Menschengemüths nicht aus dem Auge verlieren und sich dessen klar bewußt werden, daß sie der Gemeinde nicht die Dogmen dieser oder jener Partei, nicht die Weisheit dieser oder jener Schule zu predigen haben, sondern das schlichte und einfache Wort Gottes selbst“. Dementsprechend trieb er auch selbst praktisch theologische Arbeit im Vereine für innere Mission in einer Zeit, wo der Liberalismus sonst zumeist auf dem Gebiete der Herbergen zur Heimath, der Bekämpfung der Vagabundennoth, der Volksbibliotheken u. s. w. pietistischen Neigungen den Vortritt ließ. Auch den Bestrebungen des Gustav-Adolf-Vereins und der Heidenmission hat er sich lebhaft gewidmet, und wesentlich sein Votum war es, das in den entscheidenden Verhandlungen vom 4. und 5. Juni 1884 den Ausschlag gab, daß der „Allgemeine evangelisch-protestantische Missionsverein“ seine Thätigkeit nicht auf Indien, wo P. ein zu großes Entgegenkommen gegen den Brahmo-Somadsch fürchtete, sondern auf Japan richtete. Namentlich der Jenaische „Lehrlingsverein“ bewahrt ihm für seine Mithülfe, die wohl in Jugenderinnerungen aus Garten und Feld ein starkes Motiv hatte, ein gutes Gedächtnis.

Freilich im tiefsten Kerne war P. – das erkennt man schon am 14jährigen Knaben – eine wissenschaftliche Natur. Er war geboren zum Manne des Wortes und noch mehr der Feder, und auf diesem Wege hat er sich das Recht auf einen Platz in den Annalen der Wissenschaft erworben. Schon seine obengenannte Stipendiatenrede zeigt seine systematischen Neigungen deutlich, damals, als er das Gedächtniß der Reformation zu feiern hatte. Er befaßt sich mit der ersten evangelischen Glaubenslehre, die Philipp Melanchthon zum Verfasser hat. Er zeigt durch eine Vergleichung der ersten und dritten Auflage der loci, wie sich Melanchthon allmählich vom praktisch-frommen Standpunkte [150] des Luther’schen sola fide loslöste und durch ein Lehrsystem die Bildung einer neuen Kirchenpartei unter den Evangelischen veranlaßte. Grundlegend war dabei seine Abweichung vom servum arbitrium Luther’s. P. kritisirt auch seinerseits die lutherische Lehre von der Willensunfreiheit. Noch mehr in seinem Elemente befindet sich unser Autor, wenn er zur Erlangung der goldenen Sporen in philosophicis bald nachher die Religionsphilosophie Kant’s, des großen Problemstellers dieser Disciplin, darstellt und einer relativen Kritik unterzieht, d. h. ihre Widersprüche mit dem Gesammtsystem des Philosophen aufzeigt. Wichtig ist, daß der Kritiker schon jetzt jede Begründung der Religion auf die Moral abweist. „Denn“ – sagt er (S. VI) – „von diesem Gesichtspunkte aus können weder die außerchristlichen Religionen, sei es ihrem Wesen und ihrer Bedeutung nach begriffen, sei es ihrem historischen Bestehen nach erklärt, noch innerhalb des Christenthums ganz unbestreitbar tief religiöse Vorstellungen verstanden werden“. Er constatirt eine relative Unabhängigkeit beider Lebensgebiete. Die Postulatentheorie weist er als unhaltbar ab.

Die Wahl des Themas hing gewiß mit der damals werdenden neukantischen Zeitströmung zusammen. Liebmann und Lange hatten ihren Ruf: „Rückwärts zu Kant!“ erhoben. P. war einer der ersten Theologen, die Stellung nahmen zu jenen Fragen, über die sich heute jede theologische Schule in ihrer Art dutzendfach litterarisch geäußert hat. Der Einfluß von Lipsius macht sich bei unserm Denker bereits geltend (vgl. den Artikel „Lipsius“ von Scheibe!). Aber im Grunde will P. hier noch die Speculation Biedermann’s, zu dessen Füßen er begeistert gesessen hat, voll retten. Auch Schleiermacher hat ihn befruchtet. Gegen Kaftan[WS 1] tritt er mit bewußter Schärfe auf.

Diese Untersuchung über Kant wurde, wie der Schlußabschnitt mit einer lichtvollen Uebersicht über die Geschichte der Religionsphilosophie und mit gesunden Grundsätzen für die Religionswissenschaft beweist, die Keimzelle zu Pünjer’s Lebenswerke, von dem unten die Rede sein wird.

Die Habilitationsschrift wendet sich dagegen zunächst wieder einem mehr historisch-theologischen Gegenstande zu, freilich immer mit principieller Abzweckung. Er kann seine Natur nicht verleugnen. Er liefert einen Beitrag zur Dogmengeschichte, indem er die theologischen und philosophischen Lehren des vielseitigen Antitrinitariers Serveto aus den Quellen, namentlich nach der Schrift Christianismi restitutio (1535 bez. 1553), darstellt (S. 8–71), etwa nach den Maßstäben einer von Schleiermacher ausgehenden Dogmatik kritisirt (S. 71–93) und ihm seine Stellung in der Geschichte der Trinitätslehre und den Reformatoren gegenüber anweist (S. 93–110). Serveto, ein spanischer Arzt, Geograph und Theolog, wurde am 27. October 1553 auf Betreiben Calvin’s als Ketzer dem Scheiterhaufen überwiesen. Jetzt dagegen hat man ihm am 27. October 1903 zu Genf, wo er starb, und am 5. August 1906 in Paris, wo er studirte, Sühnedenkmäler errichtet. P. imponiren an Serveto mit seiner „vornizänischen Religion“ viele höchst moderne Ansätze, aber er wurde nach ihm weder religionis rationi noch Christianismi naturae gerecht.

Dieselbe sachlich kühle Darbietung des geschichtlich Vorliegenden in einem Quellenmosaik, dieselbe klare Durchleuchtung, wie sie bereits die philosophische und die theologische Dissertation werthvoll machen, zeigt in erhöhtem Maße das Hauptwerk, die „Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der Reformation“. Band I umfaßt den vorkantischen Stoff, die Religionsphilosophie des ungebrochenen philosophischen Dogmatismus. Band II führt die Darstellung von der kantischen Revolution der Geister bis auf Fechner fort. Als eine weitere Vorarbeit zu diesem großangelegten Buche sind eingehende Schleiermacher-Studien anzusehen. Ihre Frucht war die kritische Ausgabe von [151] Schleiermacher’s Reden (Braunschweig, Schwetschke & Sohn, 1879, V, 306 S.), noch heute für wissenschaftliche Zwecke die beste Ausgabe wegen ihrer umfassenden Parallelen zwischen dem Texte der 1., 2. und 3. Auflage. Denn bekanntlich ist die Fortentwicklung der Grundbegriffe: Religion, Gott, Welt, Historie bei dem großen Unionstheologen sehr bedeutsam. Für die Schleiermacher-Genießer freilich ist diese Ausgabe durch den Neudruck Otto’s mit seiner geistvollen Commentation überholt (2. Aufl. XVIII, 191, XLV S., Göttingen, Van den Hoeck & Ruprecht, 1906) Gerade in solcher Textvergleichung wie für Melanchthon und Schleiermacher zeigt sich die ganze Akribie Pünjer’scher Arbeitsweise.

In seinem Hauptwerke bietet P. auch für die vorreformatorische Zeit eine treffliche Skizze religionsphilosophischer Problemstellungen und Antworten, weil er den Begriff der Religionsphilosophie in so weitem Sinne nimmt, daß sie zugleich in gewissem Sinne Geschichte der Theologie und auch der Philosophie ist (vgl. seine Auseinandersetzung mit Nitzsch im Theolog. Jahresbericht für 1883 S. 236–238!). Besonders werthvoll aber ist die Berücksichtigung der Gegenwartsbewegungen, wobei namentlich die Schleiermacher’sche, die Hegel’sche und die Neukantische Schule mit ihren Einzelzweigen ausführlich gezeichnet werden. Im ersten Bande tritt die Kritik fast ganz zurück, weil der Verfasser von der Geschichte nur lernen wollte, ein vorhandenes religionsphilosophisches System nicht einfach adoptiren konnte, selbst weder das von Biedermann noch das von Lipsius, und ein eigenes, woran er hätte messen können – was er mit muthiger Bescheidenheit eingesteht – noch nicht besaß. Der zweite Band dagegen läßt, je mehr der Berichterstatter dem Heute näher rückt, um so deutlicher, wie naturgemäß, seine eigene Stellung durchblicken. Hier zeigen sich auch einzelne Gruppirungen und Beurtheilungen, die bei einem größeren Abstande von den Dingen berichtigt werden müssen. Lasson wäre z. B. zu Hegel zu rücken; Rothe, Weiße, Pfleiderer und Kaftan kommen ungebührlich kurz weg; Liebmann fehlt. Hier kann man jetzt R. Seydel’s Abriß (Religionsphilosophie im Umriß, hrsg. v. P. W. Schmiedel, 1893) als Ergänzung benutzen. Schwer vermißt man vom heutigen Standpunkte aus das ganze Ausland, namentlich Holländer, Franzosen und Amerikaner, wie sie Tröltsch und Reischle unlängst kurz charakterisirt haben. Freilich ist der Zusammenhang mit der nichtdeutschen Theologie zu Pünjer’s Zeiten noch sehr unentwickelt und P. selbst war es erst, der den Fachgenossen durch eine Abhandlung den französischen und englischen Positivismus erschloß (Der Positivismus in der neuern Philosophie [Komte, Mill, Spencer und verwandte Erscheinungen in der deutschen Philosophie], Jahrb. prot. Theol. 1878, S. 79–121, 241–272, 434–481; 1879, S. 1–62. Vgl. 1882, S. 385–404). Das Buch als Ganzes ist noch heute das standard work der Geschichte der Disciplin, welche allmählich bei den Theologen wieder zu Ehren kommt. Daher wurde es auch 1887 ins Englische übersetzt (History of the Christian Philosophy from the Reformation to Kant. Transl. by W. Hastie. Edinburgh, T. a. T. Clark). Pfleiderer, der selbst schon 1878 mit dem Versuche einer ähnlichen Darstellung vorangegangen ist, empfiehlt stets, das Studium der Religionsphilosophie mit Pünjer’s an Objectivität unerreichtem Buche zu beginnen. Denn er weiß selbst genau, wie seine eigene Stärke im Gegensatze dazu in einer Fruchtbarmachung des Stoffes für das lebende Subject besteht. Er hat sich selbst in späteren Auflagen unter Pünjer’s Einflusse sachlich bereichert.

Schon im Vorworte zum ersten Bande versprach unser Autor eine Schlußabhandlung absoluter Kritik. 1883 hatte sie vor seinen Blicken immer mehr die Gestalt eines dritten Bandes eigner Gedanken angenommen. Als der Tod den edlen Dulder überraschte, fand Lipsius in seinem Nachlasse zwei Entwürfe [152] für diesen systematischen Theil, von denen leider der vom Verfasser schließlich bevorzugte, welcher die „Definition der Religion“ als Abschluß bringen sollte, ein Torso war. Die Form des Grundrisses hatten sie beide. Aus ihnen konnte Lipstus mit gerechter Vorsicht den 1886 zu Braunschweig (Schwetschke & Sohn) gedruckten „Grundriß der Religionsphilosophie“ combiniren (vgl. über das Detail das Vorwort!).

Doppelt werthvoll erscheint es uns heute, in der Epoche der religionsgeschichtlichen Methode, daß der Verfasser bereits, wenn auch nach Pfleiderer’s Beispiele, gemäß Herder’s und Hegel’s Ideen und gemäß Schleiermacher’s Anregungen in der fünften Rede (Ueber die Religionen) von der Verwerthung der Religionsgeschichte ausgeht. An diese historische knüpft er eine psychologische und eine metaphysische Untersuchung an. Die Religion kommt auch ihm zu Stande durch das Zusammenwirken aller drei Elementarfunctionen unseres Seelenlebens, des Fühlens, Denkens und Wollens. Mit dem Nachweise der wesentlichen Uebereinstimmung der religiösen und der immanentmetaphysischen Erkenntniß trotz der specifischen Eigenart beider Gebiete schließt das Werkchen. Lotze-Fechner’scher idealistischer Monismus steht im Hintergrunde (S. 58). Die Möglichkeit „gemüthlicher Antheilnahme Gottes“ soll dabei gewahrt werden und erlaubt es P., den geläuterten Persönlichkeitsbegriff auf das Absolute anzuwenden. Seine Position ist also jetzt eine mittlere zwischen Speculation und Erfahrungstheologie, zwischen Biedermann und Lipsius, doch so, daß man seinen Ausgangspunkt von jenem noch empfindet. Er hat sich allmählich immer mehr von dem scharfsinnigen Züricher, dessen Tod 1885 er bitter beklagte, fortentwickelt. Neukantische Ideen haben ihn vorsichtiger gemacht. Aber auch mit Lipsius hat er sich schon 1882 in einer ungedruckten Arbeit über „Theologie und Metaphysik“ auseinandergesetzt; ebenso mit der Ritschl’schen Schule, deren „nüchternen Moralismus mit der dürftigen Trias: Gottvertrauen, Nächstenliebe und Berufstreue“ er bekämpft. Eine eingehende Würdigung von Biedermann’s Arbeiten brachte der Theologische Jahresbericht und ebenso konnte Lipsius aus dem Nachlasse eine verwandte Veröffentlichung versprechen. Alles zeigt den immer selbständiger werdenden Denker und eine Stellung zu den Grundproblemen der Theologie, die heute noch höchst erwägenswerth ist, wenn man auch in metaphysicis noch viel vorsichtiger treten wird. P. ist eben leider als Werdender abberufen worden.

Am „Theologischen Jahresberichte“ kann man seine Entwicklung in den letzten Jahren seines Lebens einigermaßen verfolgen. Denn seine einzelkritische Thätigkeit im „Litterarischen Centralblatt“, der „Theologischen Litteraturzeitung“ und der Beilage zur „Allgemeinen Zeitung“ hatte er seit 1881 zu einem großen Gesammtunternehmen zusammengefaßt, das seinen Namen hoffentlich dauernd lebendig erhalten wird. Er begründete damals mit einem Kreise von ersten theologischen Gelehrten, zumal des Thüringer Landes, nach dem Muster des „Jahresberichts über die Fortschritte der klassischen Alterthumswissenschaft“ (seit 1872) und des „Jahresberichtes für Geschichtswissenschaft“ (seit 1878) ein theologisches Parallelunternehmen, um „den Ueberblick über die Gesammtheit der theologischen Forschung zu erleichtern.“ Vollständigkeit, worin er heute beinahe unerreicht ist, erstrebte damals der „Theologische Jahresbericht“ noch nicht. Er wollte nur ein „Führer“ durch die Haupterscheinungen sein. Der Herausgeber verwaltete die Departements der Religionsgeschichte, Religionsphilosophie, Apologetik, Polemik, Encyklopädie ständig, der Ethik, des kirchlichen Vereinslebens, der Statistik und Todtenschau nach Bedürfniß. Eine Unsumme von feiner Arbeit ist hier aufgestapelt.

Daneben leistete er, wohl zugleich um seine knappen Geldmittel zu vergrößern, [153] gewichtige Beiträge zu Ersch und Gruber’s „Allgem. Encyklopädie der Wissenschaften und Künste“, II. Section, Bd. 33–40 (Karpokratianer, Katharinen, Katholicismus, Katharer, Theodor Keim, Kenotiker, Ketzer, Kirche, Kirchengeschichte, Kirchenjahr, Kirchenväter, Klerus, Knapp, Knox, Koptische Kirche, Kreuzauffindung), alles Arbeiten, welche den damaligen Stand der Forschung in mustergültiger Knappheit zusammenfassen. Ebenso haben ihm die „Allg. Deutsche Biographie“ und die 12. und 13. Auflage von Brockhaus’ „Conversationslexikon“ für gediegene Artikel dankbar zu sein.

Pünjer’s Schwanengesang war seine schöne Rosenvorlesung über „Die Aufgaben des heutigen Protestantismus“ (Jena, Dabis 1885, 23 S.) vom 4. Februar 1885. Seine Parole lautet hier: „Kampf gegen Rom und für gereinigtes Christenthum!“ Er will fromme, edle und aufgeklärte Menschen in einem erziehen. Er entrollt noch einmal die Fahne eines geistesfreien Christenthums, zeigt aber zugleich, wie er alles Parteiwesen aus dem Grunde seiner lauteren Seele haßt, ja gerade gegen den Protestantenverein ist er nach Lipsius’ Urtheile (Theolog. Jahresbericht für 1885 S. 362 f.) hier sogar zu hart, wenn er ihn schlechthin des Unverständnisses für die Eigenart des Religiösen zeiht. P. war also gewiß ein Liberaler aber im edelsten Sinne des Wortes. Νέος δ᾽ ἀπόλλυτ᾽, ὅντιν᾽ ἂν ϕιλῇ ϑεός.

Zu Pünjer’s Werken, welche im Vorausgehenden aufgeführt und bibliographisch genau bezeichnet sind, kommen noch hinzu: „Christenthum und Philosophie oder Glauben und Wissen“ (Kirchen- und Schulblatt für Sachsen-Weimar, 1880, S. 243–253, 278–286) und: „Pflicht und Aufgabe der Mission im Lichte der Religionsgeschichte“. Vortrag (Zeitschr. f. prakt. Theol. 1885, S. 21–30).

Ueber ihn handeln nur folgende Schriften: Worte, gespr. am Sarge d. D. Bernh. Pünjer, a. o. Prof. d. Theol., am 16. Mai 1885 in d. Garnisonkirche zu Jena: I. Rede des Diakonus Dr. Kind (S. 1–7); II. Rede des Geh. Kirchenraths Prof. D. Lipsius (S. 9–12); III. Gebet (S. 13). Jena, Neuenhahn, 1885. – P. W. Schmiedel, Prof. D. P. Pünjer † (Protest. K.-Ztg. 1885, Nr. 20, Sp. 458–460). – Auch „Jenaische Ztg.“, Sonntag, den 17. Mai 1885. – „Augsburger Allg. Ztg.“ Nr. 136, Sonntag, den 17. Mai 1885. – „Itzehoer Nachrichten“ Nr. 59, Sonnabend, d. 23. Mai 1885. – Lipsius, Theol. Jahresbericht f. 1884, S. 384 f, (vgl. f. 1885, S. 525). – Holtzmann und Zöpffel, Lexikon f. Theol. u. Kirchenwesen 2. Braunschweig, Schwetschke, 1888, Sp. 882b. – Schaff and Jackson, Encyclopedia of living divines, N York, Funk and Wagnalls, 1887. – Ernst Böhme, 350 Jahre Jenaischer Theologie. E. geschichtl. Skizze (Erw. Abdr. a. d. Zeitschr. „Pfarrhaus), 1898, S. 44. – Friedr. Nippold, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte, 3. umgearb. Aufl. III, 1 (auch u. d. T.: Gesch. d. Protestantism. seit d. deutsch. Befreiungskr., 1. Buch, Gesch. d. deutschen Theologie), Berlin 1890, S. 5757.
Werthvolles Material verdankt der Berichterstatter der Liebenswürdigkeit des Rectors Julius Pünjer zu Altona, des einzigen noch lebenden Bruders von Bernhard Pünjer, und den Gymnasialacten von Meldorf.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Julius Wilhelm Martin Kaftan (1848–1926); deutscher evangelischer Theologe.