Zum Inhalt springen

ADB:Lipsius, Richard Adelbert

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Lipsius, Richard Adelbert“ von Max Scheibe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 7–27, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lipsius,_Richard_Adelbert&oldid=- (Version vom 11. Dezember 2024, 15:59 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Lipsius, Constantin
Band 52 (1906), S. 7–27 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Richard Adelbert Lipsius in der Wikipedia
Richard Adelbert Lipsius in Wikidata
GND-Nummer 11898926X
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|52|7|27|Lipsius, Richard Adelbert|Max Scheibe|ADB:Lipsius, Richard Adelbert}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=11898926X}}    

Lipsius: Richard Adelbert L., hervorragender protestantischer Theolog des 19. Jahrhunderts, ist geboren am 14. Februar 1830. In den Charakteren seiner Eltern und Großeltern, wie er selbst sie gezeichnet hat, finden wir bereits die wesentlichen Züge seiner Individualität vorgebildet, wie er auch in der Wahl des theologischen Berufs eine Tradition innehält, mit der bereits der Urgroßvater begonnen. Der Vater des Urgroßvateres war Landwirth und hatte in der Nähe von Sommerfeld im Kreise Krossen eine Pachtung. „Durch ihn ist, wie es scheint, die Familie von auswärts nach der Lausitz verpflanzt worden“, bemerkt Richter (s. u.), unter der Hinzufügung, daß die latinisirte Namensform auf einen gelehrten Beruf früherer Vorfahren hinzudeuten scheine, jedoch nicht auszumachen sei, ob ein Zusammenhang mit dem berühmten holländischen Philologen Justus Lipsius bestehe. Der Urgroßvater M. Christian Gottlob L., geboren 1740, † 1810, war Pfarrer zu Gießmannsdorf bei Luckau in der Niederlausitz. Von dem Großvater, dem M. Adolf Gottfried Wilh. L., der, nachdem er den Plan, Universitätslehrer zu werden, aufgegeben, ebenfalls Geistlicher wurde und 1841 als Oberpfarrer zu Bernstadt i. d. Oberlausitz starb, hören wir, daß unermüdliche Pflichttreue, große Arbeitskraft, reges gelehrtes Interesse, gründliche Kenntnisse vor allem auf dem Gebiete des classischen Alterthums, logische Schärfe, pädagogisches Geschick, das er an seinen beiden Söhnen und an fremden Knaben bethätigte, und frischer Humor ihn auszeichneten. Von der rationalistischen Kritik am Dogma war er nicht unberührt, aber, wie ihn persönlich ein warmes religiöses Gefühl und eine tiefe Verehrung für die Person Christi beseelte, so hielt er auch auf die Beobachtung altehrwürdiger christlicher Sitte in seinem Hause. In dieser lebhaften praktischen Frömmigkeit begegnete er sich mit der eigenthümlichen Sinnesweise seiner Frau. Sie stammte aus dem Hannoverschen und war eine Schwester des Dichters geistlicher Lieder Garve; ihre Erziehung hatte sie in der Brüdergemeinde genossen; mit Herrnhut, wo sie selbst als Erzieherin eine Zeitlang thätig gewesen, blieb sie dauernd in Verbindung. Es war eine innig fromme, feinsinnige, mit der damaligen Litteratur, besonders der erbaulichen, wohlvertraute, aber von aller Sentimentalität und salbungsvollen Manier freie Frau, die ebenfalls der geistigen Bildung der Söhne sich sehr annahm und die dann auch auf den Enkel, unseren L., vor allem wol in der Zeit, als sie seinem Vater das Hauswesen führte (1845–1849), eine nicht unbedeutende Wirkung ausgeübt hat. [8] Während nun der ältere der beiden Söhne, Gustav, später Amtsnachfolger des Vater, vor allem dessen Geistesart erbte, war der jüngere, Adelbert, der Vater unseres L., geboren 1805, mehr nach der Mutter geartet. Es war eine stille, sinnige Persönlichkeit, von großer Milde und Bescheidenheit. Dazu aber kam als Erbtheil vom Vater eine starke wissenschaftliche Begabung, großes pädagogisches Talent, schlichte Geradheit, strenge Wahrhaftigkeit und Charakterfestigkeit, Ausharren in der Erfüllung der Pflicht auch unter schwersten Leiden. Er widmete sich ebenfalls den theologischen und philologischen Studien und zwar in Leipzig, ward 1826 dort Collaborator an der Thomasschule und habilitirte sich 1827 in der philosophischen Facultät für biblische Exegese. Jedoch zwangen ihn Mangel an äußeren Mitteln, alsbald die Stelle eines Conrectors am Gymnasium zu Gera anzunehmen. Ueber vier Jahre wirkte er dort, dann, 1832, kehrte er für immer an die Thomasschule in Leipzig zurück; April 1861 erlebte er die Auszeichnung, zum Rector dieser Schule ernannt zu werden, doch schon am 2. Juli desselben Jahres rief ihn der Tod aus seiner Wirksamkeit ab. Als Schulmann war seine Bedeutung allgemein anerkannt; seine ausgedehnten und ungemein gelehrten und gründlichen Studien über[WS 1] die biblische Gräcität, besonders über die Septuaginta zu einem völligen Abschlusse zu bringen, hinderte ihn der Tod; nur Einzeluntersuchungen sind erschienen, z. Th. aus seinem Nachlasse von seinem ältesten Sohne herausgegeben. Bald nach seiner Uebersiedlung nach Gera hatte er seinen Hausstand gegründet mit Juliane Molly Rost, der ihm gleichaltrigen, an Bildung des Geistes wie des Gemüths gleich hochstehenden Tochter des ebenso geistreichen und gelehrten, wie jovialen Rectors der Thomasschule, und in Gera ward ihm auch sein erstes Kind, ein Sohn, unser L., geboren. Neben diesem wuchsen L. dann noch zwei Söhne und eine Tochter heran, die ebenfalls nachmals Hervorragendes geleistet haben, Constantin, † 1894 als Professor der Baukunst an der Dresdener Kunstakademie, Hermann, Professor der classischen Philologie in Leipzig, und Marie, bekannt als Musikschriftstellerin unter dem Namen La Mara.

Den ersten Unterricht empfing L. in einer Privatschule zu Leipzig und dann während eines für seine Entwicklung sehr bedeutungsvollen Jahres im Bernstädter Pfarrhause durch den Großvater. October 1841 trat er in die Quarta der Thomasschule ein. Von da ab ist es vor allem der Vater, der die Bildung des Sohnes leitet und ihn namentlich zu logischer Strenge, zu Bestimmtheit und Schärfe des Denkens erzieht. Tagebücher, die der Knabe mit einigen Unterbrechungen vom 7.–15. Lebensjahre geführt, offenbaren eine überraschende geistige Reife, Klarheit des Ausdrucks, eindringende und umfassende Beobachtung, Vielseitigkeit der Interessen, Umsicht und Gewissenhaftigkeit in allem Thun, auch dem kindlichen Spiele, ein zartes, theilnehmendes Gemüth. Die oftmals durchbrechende muthwillige Fröhlichkeit weicht freilich bald einer vorwiegend ernsten Stimmung, wie sie durch den jähen Tod des Vatersbruders und vor allem durch das nach langem, schweren Siechthum erfolgte Ableben der Mutter, die dem Knaben in seinem zwölften Jahre geraubt ward, veranlaßt war. Letzteres Ereigniß bestärkte ihn in dem Entschlusse, dem Studium der Theologie sich zu widmen. Eine sehr tiefgehende Vorbereitung hierfür bot der Religionsunterricht des Vaters. Die „Bibelkunde“ in Quarta und Tertia führte nicht nur durch die Lectüre in den Inhalt der neutestamentlichen Schriften, besonders der Paulinischen Briefe ein, sondern orientirte auch über den Werth ihres Lehrgehaltes und über litterarhistorische Fragen; außerdem wurden in Tertia auch die dogmatischen und ethischen Hauptbegriffe des Christenthums behandelt. In Secunda und Prima hielt der Vater „exegetische [9] Vorträge“ über ausgewählte Abschnitte des griechischen Neuen Testaments. Ward hier bei aller ungesuchten Erhebung, die von der jeder salbungsvollen Wortmacherei abholden, aber religiös-sittlich ernsten und würdigen Persönlichkeit des Lehrenden ausging, doch das bloß Erbauliche streng ferngehalten und lediglich der Zweck wissenschaftlicher Bildung verfolgt, so waren die Vorbereitungsstunden für die Confirmation, die der Vater von L. viele Jahre hindurch leitete und die er auch dem Sohne ertheilte, wie dieser sagt, „Stunden heiliger Weihe im höchsten Sinne des Wortes und sind für viele seiner ehemaligen Schüler der Anstoß zu einer ewigen Bewegung geworden“. Väterliche Anregung und Leitung machen sich aber nicht nur im allgemeinen in der Richtung des Sohnes auf streng wissenschaftliche theologische Arbeit geltend, sondern auch im besonderen in der tiefgehenden philologischen Basirung seines späteren Forschens wie vor allem in seinem theologischen Standpunkte. Namentlich in der letzten Periode seines Lebens ist die Uebereinstimmung mit der Denkweise des Vaters eine auffallende. Dieser vertrat gegenüber der Unterordnung unter den Buchstaben der Ueberlieferung die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und war ein Gegner der wiederaufgelebten engherzigen Orthodoxie; das Wesen des Christenthums erblickte er aber nicht in gewissen geoffenbarten Wahrheiten und Geboten, sondern darin, daß es eine That Gottes zur Erlösung der Sünder sei; herrnhutisches Erbtheil war es, wenn er überall die Person des Erlösers in den Mittelpunkt stellte und eine tiefe Auffassung von der Macht der Sünde hatte. Daß das Wesentliche des Christenthums mit den Resultaten des vernünftigen philosophischen Denkens im Einklang stehe, davon aber war er wiederum überzeugt, und er forderte auch für den Unterricht, daß die christlichen Lehren nicht nur durch den Hinweis auf die Autorität der heil. Schrift, sondern auch irgendwie rational, durch den Nachweis, daß sie nothwendige geistige Bedürfnisse des Menschen befriedigten, begründet würden. In dem humanistischen Theologen Melanchthon mit seiner ernsten Wissenschaft und seiner einfachen praktischen Frömmigkeit, seiner Glaubensfestigkeit und zugleich versöhnlichen Milde erblickte er sein Vorbild; in gewissem Sinne einer Ehrenrettung Melanchthon’s gewidmet war auch der letzte Vortrag, den unser L. vor einem gemischten Publicum gehalten. Auch das Verhältniß des Vaters zu den philosophischen Systemen der neueren Zeit, das gegenüber dem Pantheismus der Schelling-Hegel’schen Speculation ablehnend, dem ethischen Ernste der Kantischen und Fichte’schen Lehre zugeneigt war, hat der Sohn auf der Höhe seiner Entwicklung getheilt. Ostern 1848 bezog L. die Universität Leipzig. Bereits noch als Thomasschüler, danach als Student, indem er sich der Burschenschaft mit Eifer anschloß, nahm er, wie er das zeitlebens gethan, lebhaft Antheil an politischen Fragen. Damals waren es die revolutionären, republikanischen Ideen, die ihn ergriffen hatten, allerdings geadelt durch die nationale Begeisterung und ein ethisches Pathos. Seine Gefühle legte er, der schon früher bei anderen Anlässen daheim und in der Schule seine dichterische Kunst bewährt hatte, nieder in einer Reihe von warmglühenden, schwungvollen Gedichten, in denen bereits der tapfere, kampfesmuthige und kampfesfreudige Sinn des Mannes sich ankündet, die aber auch zum ersten Male den sarkastischen Zug seines Wesens hervortreten lassen (vgl. Richter). Wie die Vorrede zu seiner Erstlingsschrift beweist, hat er sehr bald jene revolutionären Gedanken, alle Uebertreibungen des Freiheitsstrebens verurtheilt, mochte ihm auch die Art der Reaction nicht beifallswerth erscheinen.

Neben seiner thätigen Antheilnahme am studentischen und politischen Leben ging doch eine eifrige wissenschaftliche Arbeit her. Außer dem eigentlichen [10] theologischen Fachstudium betrieb L. Philosophie, orientalische und classische Philologie. Seine akademischen Lehrer waren Theile, Anger, Tuch, Winer, Niedner, Fricke und Liebner; dazu kommt, wenn auch wol erst seit der Candidatenzeit, die nahe Beziehung zu dem Philosophen Weiße. 1851 bestand L. die theologische Staatsprüfung mit der ersten Censur, die seit langem nicht ertheilt worden war, 1853 erfolgte die Promotion zum Dr. phil., 1855 die Habilitation an der theologischen Facultät zu Leipzig. Während seiner dortigen sechsjährigen akademischen Lehrthätigkeit, der aus materiellen Gründen die Ertheilung von Unterricht an höheren Mädchenschulen zur Seite ging, die ihn aber auch seit 1856 als Frühprediger auf die Kanzel der Universitätskirche führte, erstreckten sich seine Vorlesungen vorwiegend auf das Gebiet der Kirchen- und Dogmengeschichte mit Einschluß der Geschichte der neuesten Theologie und Religionsphilosophie; anfangs las er auch exegetische Collegien, am Ende betritt er das systematische Fach; eine exegetisch-historische Gesellschaft leitet er vom Sommersemester 1858 an. Ebenso liegt das Gewicht seiner litterarischen Wirksamkeit durchaus auf historischem Felde und zwar auf dem Gebiete der ältesten Geschichte des Christenthums. 1853 erschien sein erstes litterarisches Werk, „Die paulinische Rechtfertigungslehre“, seinem Vater gewidmet und begleitet von einem die theologische Selbständigkeit des jungen Verfassers hervorhebenden Vorworte Liebner’s. Die mit einer Betrachtung der allgemeinen politischen und kirchlichen Lage anhebende, über den principiellen Standpunkt des Verfassers sich äußernde, eine energische Sprache führende Vorrede von L. wie die, was damals auch von fachlichen Gegnern hervorgehoben ward, durch straffe Gedankenführung und umsichtige Sorgfalt ausgezeichnete, freilich den exegetischen Stoff zu Gunsten der eigenen dogmatischen Theorie pressende Abhandlung selbst zeigen, daß L. hier in den Bahnen der Vermittlungstheologie sich bewegt. Gegenüber dem Rationalismus, aber auch gegenüber der strengen, der reinen Repristination huldigenden Schrift- und Symbolgläubigkeit begrüßt er die „neue gewaltige theologische Richtung, die dem positiv-christlich-kirchlich-spekulativen Denken Rechnung trägt und den alten dogmatischen Stoff neu zu beleben und denkend zu durchdringen sucht, wie sie von Schleiermacher erstmals angebahnt, jetzt von Männern wie Neander, Nitzsch, Lücke, Ullmann, Twesten, Liebner, Dorner, Martensen u. A. vertreten wird“. Von der Tübinger Schule und der Bedeutung ihrer Leistungen spricht er sehr achtungsvoll, aber er steht ihr doch kühl und ihren Ergebnissen in der Hauptsache ablehnend gegenüber, dagegen verweist er auf Ritschl’s Buch „Die altkatholische Kirche“, das er neben Neander’s „Apostolischem Zeitalter“ unter den Schriften, die gegen die Tübinger Ansichten polemisiren, insbesondere benützt habe. Bezüglich des Gegenstandes selbst will L. den Nachweis führen, daß bei Paulus die Rechtfertigung nicht nur Gerechterklärung des Menschen, sondern zugleich und primär Gerechtmachung, gnadenweise Schaffung eines neuen ethischen Lebenszustandes bedeute. Nachdem L. 1854 in den „Studien und Kritiken“ einen Aufsatz über den ersten Thessalonicherbrief veröffentlicht und, in der Begründung einer Anregung Ritschl’s folgend, die Echtheit dieses Briefes vertreten hatte, erschien 1855 die in vorzüglichem Latein geschriebene Habilitationsschrift „De Clementis Romani epistola ad Corinthios priore disquisitio“, eine nach dem Urtheile Volkmar’s, Harnack’s und H. Lüdemann’s bleibend werthvolle Arbeit, die die traditionelle Annahme über Zeit und Verfasser zu rechtfertigen suchte und in der römischen Gemeinde die Herrschaft eines bereits über den paulinisch-judenchristlichen Gegensatz erhabenen religiösen Standpunkts constatirte. Auch die Thesen, die er zwecks seiner Habilitation vertheidigte, boten eine Reihe Aufstellungen, die der Baur’schen Kritik begegnen [11] sollten. Der letzten der Thesen, die in der Nachfolge Bunsen’s die Echtheit wenigstens der drei syrischen Ignatiusbriefe behauptete, hat L. in den Jahren 1856 und 1859 zwei gründliche Abhandlungen gewidmet. (Später allerdings hat er diese Annahme zu Gunsten derjenigen der Unechtheit sämmtlicher Ignatianen und ihrer Ansetzung im 7. oder 8. Jahrzehnt des 2. Jahrhunderts aufgegeben.) L. hat in vielen anderen Einzelpunkten auch nachmals eine von der Baur’schen abweichende, zumeist diese ermäßigende Auffassung vertreten; er hat, ganz abgesehen davon, daß er die rein immanente geschichtsphilosophische Betrachtung nicht theilte, vor allem im allgemeinen ihm gegenüber an der schon in der Habilitationsschrift ausgesprochenen, ihn an die Seite Ritschl’s stellenden Anschauung festgehalten, daß der Ausgleich der urchristlichen Gegensätze mindestens theilweise früher stattgefunden habe, daß ein allerdings nicht voll verstandener, an der Spitze abgebrochener und judenchristlicher Position entgegenkommender Paulinismus die Grundlage der altkatholischen Kirche gebildet habe, daß die die apostolische und nachapostolische Zeit bewegenden Kräfte vielgestaltiger waren, nicht aufgingen in den beiden Mächten des Judenchristenthums und Paulinismus, endlich, daß von einer absichtlichen, bewußten Vermittlung nicht zu sprechen sei. Andrerseits ist er nicht nur damals wie später Ritschl’schen Uebertreibungen in der Kritik Baur’s entgegengetreten, indem er sich nicht zur Behauptung einer gänzlichen Einflußlosigkeit des Judenchristenthums verstehen konnte, er hat nicht nur bestimmte, sehr wichtige Baur’sche Ansichten aufgenommen, sondern seit etwa 1857 zu 1858 macht sich – Zeugniß sind dafür vor allem die übrigens eine ungemeine Sachkenntniß bekundenden und den Gegenstand wissenschaftlich fördernden Recensionen, die L. für das Literarische Centralblatt und auch für die Protestantische Kirchenzeitung schrieb – im allgemeinen eine Annäherung an Baur insofern bemerkbar, als er unter Aufgabe des vermittlungstheologischen und für eine „rückläufige Bewegung“ (diesen Ausdruck gebraucht er selbst) interessirten Standpunkts eine traditionellen Annahmen gegenüber völlig freie und unbefangene Stellung einnimmt, sowie Baur’s führende Stellung auf dem Gebiete der historisch-kritischen Theologie anerkennt und sich zu dem Geiste der an keine dogmatischen Vorurtheile gebundenen, die für die Profangeschichte allgemein als gültig anerkannten Principien auf die historische Behandlung des Urchristenthums anwendenden Forschung, wie ihn Baur vertrete, bekennt. (Vgl. auch den vorzüglichen, anonym erschienenen Artikel von L. über F. Chr. Baur und die Tübinger Schule in: Unsere Zeit, VI. Bd. 1862, und seinen Aufsatz über die Zeit des Irenäus von Lyon und die Entstehung der altkatholischen Kirche in Sybel’s Historischer Zeitschrift, Bd. 28, S. 241–95; 1872.)

Von einem Baur’schen allgemeinen Gesichtspunkte und von seinen Anregungen ausgehend, aber dann das Problem vertiefend und in neuer Weise lösend treffen wir L. in dem 1860 erschienenen Buche „Der Gnostizismus, sein Wesen, Ursprung und Entwicklungsgang“, zunächst als ein Artikel für Ersch und Gruber’s Encyklopädie bestimmt, für welches Werk er schon vorher einige weniger umfangreiche Artikel geliefert hatte. Er erkennt mit Baur die Bedeutung und das innere Recht der Gnosis für die Kirchengeschichte darin, daß hier zum ersten Male das Christenthum nicht nur als Heilsprincip, sondern zugleich als Weltprincip erfaßt sei. Ihr charakteristisches, sie von den analogen Versuchen der Apologeten und Alexandriner unterscheidendes Wesen aber vermag er nicht wie Baur in dem Dualismus zwischen Geist und Materie, auch nicht mit Hilgenfeld in der Unterscheidung des Weltschöpfers vom höchsten Gott zu erkennen, sondern in einer umfassenderen und doch auch [12] wiederum bestimmteren Formulirung faßt er es, Andeutungen Niedner’s aufnehmend, diese aber erst zur Klarheit und Einfachheit führend als eine solche Hochschätzung des Wissens vor dem Glauben, wodurch letzterer seiner ihm im Christenthum zukommenden Bedeutung schließlich völlig entkleidet werde; hieraus lasse sich sowol das ungezügelte Eindringen außerchristlicher Elemente, wie auch die mythologische Darstellungsform des speculativen Inhalts der Gnosis begreifen; ebenso lasse sich von dieser Wesensbestimmung aus, indem man auf den Grad der Ueberschätzung des Wissens achte, ein innerer Entwicklungsgang der gnostischen Meinungen nachzeichnen und eine nicht bloß das Princip des räumlichen und begrifflichen Nebeneinander, sondern, worin Hilgenfeld erstmalig vorangegangen, das Princip des Nacheinander befolgende Eintheilung gewinnen. Als im Hinblick auf die gegenwärtige Problemstellung bedeutungsvoll sei noch erwähnt, daß L. gegenüber einer zu starken Betonung des hellenisch-philosophischen Elements in der Gnosis auf die Wichtigkeit des orientalisch-religiösen Elements namentlich für den Ursprung der Gnosis hinweist, während allerdings der primär religiöse Charakter der Gnosis gegenüber einer Betrachtung derselben als philosophischer Erscheinung noch nicht erkannt ist. Ein Jahr vor Erscheinen dieser Arbeit, 1859, war L. zum außerordentlichen Professor ernannt worden, während ihn bereits 1858 die in Anbetracht seiner Jugendlichkeit ungewöhnliche Auszeichnung zu Theil geworden war, daß ihn die theologische Facultät von Jena beim 300jährigen Jubiläum der Universität, das er als Gast des seinem väterlichen Hause befreundeten und auch für die Bildung seines theologischen Standpunkts bedeutsamen Professors Rückert mitfeierte, zum Ehrendoctor der Theologie ernannte.

Im J. 1861 erfolgte die entscheidende Wendung in Lipsius’ akademischer Laufbahn. Er erhielt, während man auch in Preußen daran dachte, ihn zu gewinnen, einen Ruf nach Wien. Sein Abschied von Leipzig fiel zusammen mit dem schweren Schlage, der ihn im Juli durch den Tod seines Vaters traf. Bis zuletzt hatte er mit diesem in häuslicher Gemeinschaft gelebt; in der zweiten Gattin desselben, der Cousine der ersten Frau, Lina Wohlfahrt aus Plauen, hatte er eine treusorgende Mutter gefunden, mit der er bis zu deren nur wenige Jahre vor dem eigenen Hingange erfolgten Tode in vertrautester Geistesgemeinschaft gelebt hat. Am Grabe des Vaters legte er das feierliche Gelübde ab, in seinem Sinne und Geiste auch bis an sein eigenes Ende wirken zu wollen. Mit dem Beginne des Wintersemesters trat er ein in die Wiener evangelisch-theologische Facultät als ordentlicher Professor der evangelischen Dogmatik und Symbolik Augsburger Confession, sowie der christlichen Ethik, neben welchen Fächern er noch Encyklopädie und theologische Litteraturkunde las. Er eröffnete seine Wirksamkeit mit einer Rede über das Princip des Protestantismus, worin er bereits die Ansicht aussprach, die Unterscheidung zwischen Material- und Formalprincip sei erst neueren Datums, sie stamme aus dem 18. Jahrhundert. (Er hat dann dem Ergebnisse der später von Ritschl angestellten Forschung zugestimmt, wonach sie erst im 19. Jahrhundert zu constatiren sei.) Der Uebersiedlung nach Wien folgte die Gründung seines Hausstandes, indem er seine frühere Schülerin, Laura Parchwitz, mit der er sich bereits in Leipzig verlobt hatte, als Gattin heimführte. Der an L. auch später immer wahrzunehmende Drang, neben der Thätigkeit als Forscher mit energischer und freudiger Hingabe auch theilzunehmen an der Verfolgung praktischer Ziele, an der Lösung von Aufgaben, wie sie das öffentliche, vor allem das kirchliche, aber auch das staatliche Leben stellt, zugleich seine hervorragende Begabung nach dieser Richtung hin, sein organisatorisches Talent, [13] dies begegnet uns nun alsbald, nachdem er in einen Wirkungskreis eingetreten war, wo die Gelegenheit zu solcher Bethätigung und die Möglichkeit, seinen Einfluß geltend zu machen, gegeben waren.

Sein Eintritt in die Facultät fiel in eine Zeit, in der durch kurz vorher erfolgte freiheitliche gesetzgeberische Maßnahmen sowol das politische wie das evangelisch-kirchliche Leben Oesterreichs sich in einem hoffnungsvollen Aufschwunge befand, in der die Regierung auch für die Hebung der evangelisch-theologischen Facultät lebhaften Eifer zeigte. Die Facultät ihrerseits strebte die Abschaffung des besonders für die Stipendiaten sehr lästigen Studienzwangs und eine Reform ihrer Einrichtungen nach dem Muster der deutschen Universitäten an; die Mitarbeit von L. an der Verfolgung dieser Aufgaben war sehr lebhaft. Aber auch dem gesammten österreichischen Unterrichtswesen kam seine Kraft zu gute, indem er seit 1863 Mitglied des k. k. Unterrichtsrathes ward. Vor allem jedoch entfaltete er im Interesse der evangelischen Kirche Oesterreichs eine rege Thätigkeit. Unter seiner hervorragenden Mitwirkung kam es zur Gründung der „Protestantischen Blätter für das evangelische Oesterreich“, deren Mitherausgeber und Mitarbeiter er ward. Sodann war er Mitglied der ersten Generalsynode, die März 1864 zusammentrat und über die Gestaltung der Kirchenverfassung zu berathen hatte, und zwar als Vertreter der theologischen Facultät in der lutherischen Synode, während sein College Böhl dies Amt in der reformirten Synode versah. L. nahm u. a. auch in der Thätigkeit eines Berichterstatters bedeutungsvollen Antheil an den Verhandlungen. In seinen der „Protestantischen Kirchenzeitung“ gelieferten Referaten über die Synode erklärt er bezüglich ihres Ergebnisses, daß ihm ein entschiedeneres Vorgehen, ein Hinausgehen über das, was die vorläufige Kirchenverfassung von 1861 gewährt, besser behagt habe; er zeigt sich hier, wie dann auch in Schleswig-Holstein, als ein sehr entschiedener Verfechter der kirchlichen Selbstverwaltung, die ja auch in verhältnißmäßig weitgehendem Maße in Oesterreich erreicht ward. In die Wiener Zeit fällt aber auch eine bahnbrechende wissenschaftliche Leistung; sie liegt vor in dem 1865 erschienenen, der theologischen Facultät von Jena als Dank für die Doctorirung gewidmeten Werke „Zur Quellenkritik des Epiphanius.“ Obgleich, wie L. in der Widmung erklärt, eigene Neigung wie äußerer Beruf ihn seit mehreren Jahren auf das systematisch-theologische Arbeitsfeld geführt haben, bleibt er doch zunächst noch, soweit größere Arbeiten in Betracht kommen, auf dem Gebiet, das er von Anfang an eingeschlagen. Seine Untersuchungen über den Gnostizismus hatten ihm das Bedürfniß nach Beschaffung einer gesicherten Quellenunterlage für die Erforschung der ältesten Kirchengeschichte nahegelegt. In der genannten, von souveräner Stoffbeherschung und glänzendem Scharfsinn zeugenden Schrift führt er nun den Nachweis, daß die Ketzerverzeichnisse von Epiphanius, Pseudotertullian und Philastrius eine zusammengehörige Gruppe bilden und auf eine gemeinsame Quelle hinweisen, nämlich auf das von Photius erwähnte Syntagma des Hippolyt gegen alle Häresien, womit diese bis dahin für gänzlich verloren erachtete werthvolle Quelle der Wissenschaft wiedergegeben war. Hippolyt sodann habe seinerseits wenigstens nicht vor allem und als eigentlichen Leitfaden Irenäus benützt, sondern beiden habe als Quelle die Ketzerbestreitung des Justin vorgelegen, welch letztere L. zu reconstruiren suchte. Diesen Rückgang bis zu Justin hat er in einer 1875 aus Anlaß von Einwendungen Harnack’s erschienenen Schrift „Die Quellen der ältesten Ketzergeschichte“ aufgegeben, in der Hauptsache aber fand er durch die erneute Untersuchung seine frühere Auffassung bestätigt.

In demselben Jahre, 1865, erhielt L. – „vermuthlich durch Freiherrn [14] v. d. Gabelentz, den österreichischen Statthalter in Holstein“ (Stölten) – einen Ruf nach Kiel. Obgleich der Minister v. Schmerling das Bleiben von L., trotz dessen entschieden freisinnigen Standpunkts, dringend wünschte und sich ernstlich bemühte, ihn zu halten, obgleich auch diesem selbst das Scheiden von Wien schwer ward, so war es doch die Verstimmung über die auch für die evangelische Facultät nachtheilige ungünstige Wendung der allgemeinen Verhältnisse in Oesterreich, die Versagung mancher Wünsche der Facultät, besonders desjenigen, daß sie der Wiener Universität eingegliedert werde, und demgegenüber die Aussicht auf angenehmere collegialische Verhältnisse und die Möglichkeit, wieder an eine deutsche Universität zu kommen, wodurch er bestimmt ward, dem Rufe Folge zu leisten. Herbst 1865 übernahm er als Nachfolger Fricke’s die ordentliche Professur der systematischen Theologie an der Kieler Universität. Seine Lehrthätigkeit erstreckte sich aber nicht nur auf die Disciplinen seines Fachs, sondern er las auch gelegentlich neutestamentliche Exegese, sowie Geschichte des apostolischen und nachapostolischen Zeitalters. Die litterarische Hauptarbeit, die während der Kieler Zeit erschien, ist wiederum der Lichtung eines dunklen Gebiets der ältesten Kirchengeschichte gewidmet und steht im Zusammenhange mit seinen gnostischen Studien und dem Aufsuchen von sicheren Daten für die Ketzergeschichte. Es ist die seinem Wiener Freunde Roskoff und seinen Kieler Freunden v. Gutschmid, dem er schon in Leipzig nahegetreten, und Nöldeke gewidmete „Chronologie der römischen Bischöfe bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts“, 1869 erschienen, der bereits das Kieler Programm, „Die Papstverzeichnisse des Eusebius und der von ihm abhängigen Chronisten“ 1868 vorangegangen war. Nachdem Mommsen durch eine Untersuchung des Papstverzeichnisses bei dem Chronographen von 354 zum ersten Male die Beseitigung der bis dahin bezüglich der Zahlen der ältesten Papstgeschichte herrschenden völligen Unklarheit begonnen hatte, nahm L. diese Arbeit in umfassendster Weise auf, indem er u. a. auch unter Beschaffung handschriftlichen Materials alle, die griechischen und lateinischen Quellen, einer Untersuchung unterzog und durch Aufzeigung ihres Verwandtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisses das Quellenproblem vereinfachte; über Mommsen herausgehend, stellte er die Vorgestalt des älteren, vermuthlich von Hippolyt herrührenden Theils des Liberianischen Katalogs her; ebenso gelangte er auch bezüglich des liber pontificalis zu Ergebnissen über ursprüngliche Bestandtheile und Quellen. Das Resultat der Quellenprüfung war, daß wir erst von Xystus, ja in größerem Maßstabe erst von Pontianus an mit sicheren Daten rechnen können. Im Frühjahr 1871 veröffentlichte L. als Festgruß zum 50jährigen Jubiläum der Wiener evangelisch-theologischen Facultät die kleine, aber sehr werthvolle Abhandlung über die Pilatusacten; er stellte fest, daß die Grundschrift derselben erst zwischen 326 und 376 verfaßt sei, der dann eine ursprünglich gnostische, aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts stammende gnostische Schrift über die Höllenfahrt Christi und die Befreiung der in Satans Gewalt gehaltenen Seelen in kirchlicher Umarbeitung hinzugefügt sei, daß also im Gegensatze zur Annahme v. Tischendorf’s eine Ergänzung unserer Kenntniß der Leidensgeschichte Jesu und ein Beweis für das Vorhandensein des vierten Evangeliums bereits am Anfange des 2. Jahrhunderts durch jene Acten nicht geboten werden. Eine neue Ausgabe dieser Schrift 1886 brachte Zusätze und Berichtigungen, die Ergebnisse der Untersuchung hingegen hatten sich dem Verfasser aufs neue bewährt.

Zwar erst im Jahre nach dem Weggange von Kiel, 1872, erschienen, doch während der Kieler Zeit geschaffen und dort noch vollendet ist ein weiteres höchst bedeutsames Werk, das eine und zwar die vom allgemeinen [15] Standpunkt aus wichtigste Frage der ältesten Papstgeschichte herausgreift, um die schon in der Chronologie gegebene Antwort des näheren zu begründen, „Die Quellen der römischen Petrussage, kritisch untersucht“. (Dem Kieler Collegen Thomsen gewidmet.) Ansichten der Tübinger Schule, vor allem Baur’s Hinweis auf die Simonsage der clementinischen Litteratur als Quelle der römischen Petrussage, sind es, die sich hier für L. auf Grund selbständiger und großangelegter Prüfung eines z. Th. bisher noch nicht ausgebeuteten Materials als richtig erproben. Die ebionitischen, die katholischen und die gnostischen Acten sind Gegenstand der Untersuchung, vor allem unterwirft er die pseudoclementinischen Homilien und Recognitionen, deren älteste, scharf antipaulinische Tendenz tragende, Grundschrift längere Zeit vor Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden sei, und die katholischen Acten des Petrus und Paulus einer eindringenden quellenkritischen Analyse. Als älteste Gestalt der römischen Petrussage stellt sich die dem antipaulinischen Judenchristenthum entstammende Sage heraus, die den Petrus als Bekämpfer des unter der Maske des sagenhaften Magiers Simon dargestellten Apostels Paulus nach Rom bringt; erst abhängig hiervon, als Gegenstück hierzu, hat dann die werdende katholische Kirche, die auf Petrus und Paulus sich gründete, beide Apostel im Leben und Sterben brüderlich zusammengestellt. Wenn man den Umfang und die besondere Schwierigkeit dieser Arbeiten, denen sich übrigens noch mehrere auf gleichem Felde sich bewegende Zeitschriftenartikel anreihten, bedenkt, muß man staunen, daß L. während der Kieler Jahre nicht nur Zeit fand, auch einige werthvolle, dem systematischen Gebiete angehörende Abhandlungen zu veröffentlichen, sondern daß er vor allem – und eine dieser systematischen Arbeiten steht damit im Zusammenhange – eine führende Stellung in erregten kirchlichen Kämpfen einnahm, und auch die damalige politische Umwälzung seine Bemühungen beanspruchten. Als Student hatte er den Freiheitskampf der Schleswig-Holsteiner mit seinem Liede begleitet, von Wien aus hatte er mit anderen Professoren und mit Geistlichen einen Brudergruß ebendahin gesandt, in dem die Forderung der „Kreuzzeitung“ an die Schleswig-Holsteiner, sich der Dänenherrschaft zu unterwerfen, auf das schärfste gebrandmarkt wird. In Kiel war er zunächst, wie dies auch die Stimmung der Universität und der Mehrzahl der Schleswig-Holsteiner überhaupt war, ein Anhänger des Herzogs Friedrich von Augustenburg; er hat aber dann, obgleich er, wobei wol auch Familientraditionen mitwirkten, dem specifischen Preußenthum stets wenig geneigt gegenüberstand, in der Erkenntniß, daß die Annexion der Herzogthümer durch Preußen dem Interesse des deutschen Vaterlands diene, sich nicht bloß für seine Person bereitwillig in die Neuordnung der Verhältnisse gefügt, sondern auch auf Andere beruhigend und versöhnend zu wirken gesucht; er hat auch an Stelle des damaligen Rectors, der das Rectoramt niederlegte, als Decan der theologischen Facultät die Abordnung der Universität nach Berlin geführt und die Ansprache an den König gehalten.

In den nun folgenden Verhandlungen und Kämpfen, die die durch die staatliche Veränderung erforderte Neuregelung der kirchlichen Verhältnisse der Elbherzogthümer mit sich brachte, vertrat er den Standpunkt, daß die Union sowie irgend eine Vereinigung mit der gesammten Kirche Preußens das wünschentswertheste sei, jedoch solle die Union nicht aufoctroyirt werden, nur dürfe nichts geschehen, was ihre spätere Einführung hindere; vor allem sei eine Kirchenverfassung zu schaffen, die der freien Selbstverwaltung der Gemeinde, der Betheiligung ihrer Vertreter auch im obersten Kirchenregimente Raum gebe; bei einer etwaigen Festlegung des Bekenntnißstandes sei so zu [16] verfahren, daß dadurch verschiedenen dogmatischen Richtungen Berechtigung in der Kirche gewährt werde. L. war neben seinen beiden Facultätscollegen Thomsen und H. Lüdemann[WS 2], sowie dem Pastor Keß, dem Herausgeber des „Kirchen- und Schulblattes“, der anerkannte Führer der kirchlich Freigesinnten in der Provinz; er vor allem aber war es, der durch die Energie und Bestimmtheit des Auftretens, durch unermüdliches organisatorisches Wirken, durch das Geschick, präcise Resolutionen zu formuliren, es zur Bildung einer liberalen Partei brachte. Doch hat er andererseits schon damals da, wo es geboten war, ein maßvolles und abwartendes Vorgehen, sowie die Bereitwilligkeit zur Verständigung mit den Gegnern gezeigt. Auf dem Kieler Kirchentage von 1867, an dem er sich betheiligte, nachdem er jedoch vorher, um nicht den Schein zu erwecken, als sei die auf den Kirchentagen vorzugsweise gepflegte Richtung die seinige, dem Protestantenvereine beigetreten war, was zu thun er bis dahin gezögert hatte, vertrat er den entschieden liberalen Standpunkt im Gegensatze zu den orthodoxen Lutheranern unter Führung des Bischofs und Generalsuperintendenten Koopmann, während die vermittelnde Richtung durch den Hauptpastor Jensen und die Pröpste Veersmann und Hansen repräsentirt war.

In die Jahre 1869 und 1870 fällt dann die litterarische Fehde zwischen L. und Koopmann, die wol vor allem durch des letzteren Unfähigkeit, sich in die Anschauungen des Gegners hineinzuversetzen, einen so heftigen Charakter und unversöhnlichen Abschluß nahm. Die diesen Streit angehenden Aufsätze, die L. im „Schleswig-Holsteinischen Kirchen- und Schulblatte“ veröffentlichte, hat er dann mit Hinzufügung von einigen Anmerkungen 1871 gesondert unter dem Titel „Glaube und Lehre. Theologische Streitschriften“ erscheinen lassen. Mit überzeugender Kraft und in lebendiger Darstellung wird hier auf Grund einer bestimmt ausgeprägten Psychologie und Erkenntnißtheorie der Religion, von der noch zu reden sein wird, der Nachweis geführt, daß gegenüber den innerhalb der Orthodoxie und auch der Vermittlungstheologie herrschenden Halbheiten und Verwirrungen eine Klarheit über das für das Heil des Einzelnen wie der Kirche Nothwendige nur erreicht werden könne durch eine strenge Unterscheidung zwischen dem als Thatsache des inneren Lebens zu erfahrenden Glaubensgehalte und jeder Art von lehrhafter Formulirung und historischer Einkleidung desselben, daher, wie jede dogmatische Einengung und Bevormundung des Frömmigkeitslebens, auch jede rein juridische Behandlung der Bekenntnißfrage dem wahren Wesen des Protestantismus widerspreche. Fand L. gerade seit diesem Streite einen größeren Beifall unter den Studirenden – Zuhörer aus damaliger Zeit bezeugen dankbar die erfrischende Kraft und die zur Lösung von Zweifeln verhelfende Wirkung seiner Vorlesungen -, so standen andererseits seine Anschauungen mit der damals in Preußen begünstigten theologischen Richtung in geradem Gegensatze. Das bekam auch L. zu fühlen, zumal man auch aus politischen Gründen von Berlin aus sich der im Lande sehr einflußreichen confessionellen Partei Schleswig-Holsteins gewogen zeigte. Als 1867 an L. der Ruf erging, Rothe’s Nachfolger in Heidelberg zu werden, geschah es zwar noch in Uebereinstimmung mit einem Wunsche des Ministers v. Mühler, daß er – zum Bedauern der Hengstenbergischen „Evangelischen Kirchenzeitung“ – ablehnte. Bereits 1868 aber wurde er, ohne Zweifel wol wegen der Betheiligung am Bremer Protestantentag, entgegen dem Antrage der Kieler Regierung nicht wieder zum Mitgliede der wissenschaftlichen Prüfungscommission ernannt; der Streit mit Koopmann zog ihm dann eine mündliche Vorhaltung des Ministers zu. Mühler that daher endlich auch keinen Schritt, L., der als einer der hervorragensten Docenten, den die Kieler [17] Universität in den letzten Jahrzehnten besessen habe, in dem Abschiedsworte des „Kirchen- und Schulblattes“ bezeichnet wird, und dem auch der Correspondent der „Allgemeinen evang.-lutherischen Luthardt’schen Kirchenzeitung“ eindrucksvolle Gelehrten- und Docentenbegabung nicht absprechen konnte, zu halten, als er Sommer 1871 nach Jena zum Nachfolger Rückert’s berufen ward. L. selbst aber, durch einen Brief Hase’s noch im besonderen auf das wärmste ermuntert und willkommen geheißen, folgte mit Freuden dem Rufe.

Eine höchst umfangreiche und vielseitige Lehraufgabe hatte er in Jena zu erfüllen, sofern er die dogmatisch-biblische Professur innehatte, also Vorlesungen sowol über sämmtliche Zweige der systematischen Theologie als auch über neutestamentliche Exegese, Einleitung und Theologie zu halten hatte; ebenso leitete er das neutestamentliche, später das neutestamentlich-dogmatische Seminar. Von den litterarischen Schöpfungen der Jenaer Zeit sei zunächst der Festschrift für Hase gedacht „Ueber den Ursprung und den ältesten Gebrauch des Christennamens“, 1873, die griechisches Sprachgebiet mit asiatischem Typus und heidnische Kreise in Kleinasien als Ort, die letzte Zeit der neronischen Verfolgung, vielleicht aber auch erst die Zeit nach der Zerstörung Jerusalems als Termin der Entstehung des Namens Christen zu erweisen sucht, sodann der 1880 erschienenen Schrift „Die Edessenische Abgarsage, kritisch untersucht“, in der ein ganzer Sagenkreies, die Sage vom Briefwechsel zwischen König Abgar und Christus und von der Mission des Thaddaeus, diejenige über das Bild Christi zu Edessa, die Veronikasage und die Sage von der Kreuzesauffindung durch Protonike nach Alter, Entstehungsart und Zusammenhang aufgehellt wird. Diese an zweiter Stelle genannte Arbeit, ebenso wie die frühere Schrift über die Quellen der römischen Petrussage und in gewisser Beziehung auch die Arbeit über die Pilatusacten hatten L. auf das Gebiet der mit den Aposteln sich beschäftigenden altchristlichen Legendenlitteratur geführt. Die Bearbeitung dieses Gegenstandes nahm er nun in umfassendster Weise in Angriff, dabei wiederum auch seinen auf die Gewinnung von Quellen für die Kenntniß des Gnostizismus gerichteten Bestrebungen dienend, sofern, was allerdings jetzt von einigen Seiten bezweifelt wird, gerade diese Schriften in ihrem letzten Ursprunge großentheils gnostischer Herkunft sind, hervorgegangen aus dem Streben der gnostischen Secten, durch solche, die Reisen, Erlebnisse, Wunderthaten und Leiden der Apostel enthaltende Erzählungslitteratur ihre Lehren unter das kirchliche Volk zu bringen. Das Resultat dieser der Bewältigung eines ungeheuren und ungemein verwickelten, ja theilweise wüsten, auch bisher nur ganz wenig durchforschten Stoffs gewidmeten, von unermüdlichem, selbstlosem Forscherfleiße zeugenden Arbeit liegt vor in dem monumentalen, vierbändigen Werke: „Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden. Ein Beitrag zur altchristlichen Litteraturgeschichte“ (I 1883, II, 1 1887, II, 2 1884, Ergänzungsheft mit dem von Stölten verfaßten Register 1890), dem sich 1891 der erste von L. allein besorgte Band der Ausgabe der behandelten Texte selbst anschloß, die als durchaus erneute Gestalt der Tischendorf’schen Ausgabe von L. und Max Bonnet in Paris veranstaltet wurde. (Acta apostolorum apocrypha. Pars prior. Acta Petri. Acta Pauli. Acta Petri et Pauli. Acta Pauli et Theclae. Acta Thaddaei). Keinswegs bloß auf die Sammlung und Verwerthung des gedruckt vorliegenden, oftmals sehr entlegenen und fragmentarischen Materials sich beschränkend, sondern handschriftliche Unterlagen, theilweise unter Ueberwindung großer Schwierigkeiten in weitem Umfange herbeiziehend, untersucht L. in jenem Werke zunächst die Quellen, indem er eine kritische Erörterung der häretischen Sammlung des Leucius Charinus und [18] der katholischen des Abdias sowie anderer griechischer, lateinischer und orientalischer Quellen gibt und deren Entstehungsgeschichte ins Klare bringt, sodann die Acten der einzelnen Apostel, indem er der betreffenden Sage in all ihren verschiedenen Gestaltungen nachgeht, die Abhängigkeitsverhältnisse, die zwischen letzteren bestehen, ermittelt, die Umarbeitung, die die Erzählungen durch ihre seit der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts nachweisbare Benützung in der katholischen Kirche erfahren haben, aufzeigt, die nicht getilgten Reste gnostischer Anschauungen herausstellt und soweit als möglich die originalen Formen der Legenden, wie sie in der zweiten Hälfte des zweiten, resp. in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts zumeist eben in gnostischen Kreisen entstanden seien, herauszufinden sich bemüht. In der ersten Hälfte des zweiten Bandes, dem wichtigsten Theile des Werkes, der die Acten des Petrus und des Paulus behandelt, gab er eine neue, diesmal auf Grund des gesammten ihm zugänglichen Materials erfolgende Bearbeitung desselben Gegenstandes, den er schon zwei Mal, in der „römischen Petrussage“ und in einem aus Anlaß einer Discussion von Zeller und Hilgenfeld entstandenen Aufsatze „Petrus nicht in Rom“, „Jahrbücher f. protestantische Theologie“ 1876, behandelt hatte, aber auch diesmal, trotz Aenderungen, auch Milderungen im einzelnen (– so wird die Möglichkeit zugegeben, daß ein samaritanischer Goët Namens Simon existirt habe –), verbleibt es für ihn bei dem negativen Resultat bezüglich einer selbständigen katholischen Tradition über den Aufenthalt und das Martyrium des Petrus in Rom. Die Ausgabe der Texte ist mit philologischer Meisterschaft hergestellt, sie bietet Prolegomena mit einer höchst genauen Beschreibung und genealogischen Bestimmung der sehr zahlreichen Texte, einen ungemein gründlichen kritischen Apparat und sorgfältige Indices. Sind nun auch die Ergebnisse der Forschung gerade auf diesem Gebiete der apokryphen Litteratur durch die stetig erfolgende, in neuester Zeit besonders bedeutsame Vermehrung des Quellenmaterials immer von neuem der Veränderung ausgesetzt, einem Sachverhalte, dem L. selbst durch unermüdliches Verfolgen des Gegenstandes, durch unablässiges Aufspüren und Beschaffen von neuem Materiale und durch Nachträge und Berichtigungen (auch in den „Jahrbüchern für protestantische Theologie“) Rechnung trug, es bedeutet doch sein Werk einen Markstein in der Bewältigung dieser Litteraturgattung, eine Fundgrube werthvollster Erkenntnisse, einen fruchtbaren Ausgangspunkt für die weitere Forschung; es bleibt L. das Verdienst, „die Riesenarbeit, in diesem Walde von Problemen zuerst Luft zu schaffen, geleistet zu haben“ (Möller, Lehrbuch der Kirchengeschichte I. 2. Aufl. neubearb. von v. Schubert 1902, S. 167).

So einschneidend aber auch diese Seite der Thätigkeit von L. war, so sind es doch vielmehr seine während der Jenaer Zeit entstandenen dogmatischen Arbeiten gewesen, die seinen Namen weithin bekannt machten und die seine charakteristische Stellung innerhalb der Theologie begründet haben. Seine erste Kundgebung auf systematischem Gebiete liegt vor in zwei aus dem Jahre 1857 stammenden, in den „Blättern für litterarische Unterhaltung“ ohne Namen erschienenen, umfangreichen Artikeln über seines Lehrers Weiße neueste theologische Schriften (Philosophische Dogmatik I, Die Christologie Luther’s und Die Evangelienfrage). Hier wie in der im „Litterarischen Centralblatt“ 1862 sich findenden Recension des 2. Bandes von Weiße’s philosophischer Dogmatik, sowie in der für die „Studien und Kritiken“ 1865 aus Anlaß des Erscheinens des Schlußbands des genannten Werkes gelieferten sehr eingehenden Besprechung desselben erweist sich L. als Anhänger des von Weiße vertretenen „speculativen Theismus“, als Vertreter eines Standpunkts, der es für möglich hält und es sich zur Aufgabe macht, den christlichen Glaubensgehalt zu behandeln [19] als Gegenstand objectiver Erkenntniß und Wissenschaft im strengsten Sinne. Bereits in der letztgenannten Recension jedoch tritt die Forderung auf, die verschiedenen Gesichtspunkte, den philosophischen und theologischen, auseinanderzuhalten und eine Theorie der religiösen Erkenntniß zu schaffen. 1868 nun, in einer für die „Protestantische Kirchenzeitung“ geschriebenen Recension des Buches „Gott und Welt“ von Spaeth, ist die Scheidung von jenem speculativen Standpunkte vollzogen und findet sich die principielle Stellung ausgesprochen, die L. dann alle Zeit vertreten hat: es soll – darin hält er ein Ideal der Speculation fest – keine Kluft zwischen Religion und Philosophie aufgestellt werden, eine einheitliche Weltanschauung, eine Vereinigung der religiösen und philosophischen Erkenntniß ist anzustreben, aber man muß sich bescheiden, nur eine annäherungsweise Uebereinstimmung der philosophischen und religiösen Erkenntniß zu erreichen, da der Thatbestand der frommen Erfahrung niemals vollkommen durch die Kategorien des theologischen Denkens erschöpft wird; sonst läuft man Gefahr, einerseits in die Philosophie mythologisirende Anschauungen einzuführen, andererseits den concreten Gehalt des religiösen Bewußtseins zu verflüchtigen. In beiden Kundgebungen verweist L. zustimmend auf Alexander Schweizer. Auch später hat er mit diesem Theologen sich am meisten einig gewußt. Eine ausgeführte religionspsychologische und erkenntnißtheoretische Grundlegung der Dogmatik hat jedoch Schweizer erst 1878 gegeben, L. ging ihm hierin, so gewiß er Anregungen von ihm empfangen hatte, voran, und er gewann seinen Standpunkt an der Hand eines erneuten Studiums von Schleiermacher, vor allem von dessen Dialektik, die er in Aufsätzen in der „Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie“ 1869 behandelte, sowie durch eine erneute Versenkung in Kant’s Erkenntnißkritik, indem auch er, und zwar als erster im religionsphilosophischen Interesse (Neumann S. 13), jener zu Kant zurückkehrenden philosophischen Bewegung, wie sie vor allem in F. A. Lange repräsentirt ist, sich anschloß, und indem er überhaupt den Einklang mit denjenigen Philosophen wie Lotze, Trendelenburg u. A. (vgl. Glaube und Lehre S. 96 Anm.) herstellt, die gegenüber Constructionen aus reinem Begriffe die Unerläßlichkeit der Erfahrungsgrundlage betonten, dabei doch die Möglichkeit eines Aufbaus einer religiösen Weltanschauung auf solchem Grunde festhielten. Neben den bisher erwähnten Factoren für die Gestaltung der dogmatischen Anschauungen von L. sind noch als solche Theologen, von denen er nach seiner ausdrücklichen Erklärung gelernt hat, zu nennen Rückert, dessen ernster ethischer Auffassung der christlichen Religion er das Verständniß für die Bedeutung des Freiheitsmoments im religiösen Vorgange als Correctiv gegenüber Schleiermacher’s einseitig passiver Auffassung desselben verdankt, und Rothe, der ihm Richtung gebend war für seine Gedanken über Offenbarung und heilige Schrift und der ihm ferner das gewährte, was ihm vor allem die Losungen der Brüdergemeinde gewährten, nämlich „der religiösen Mystik allezeit im Herzen einen Platz zu bewahren“. Sodann waren es vor allem die gegensätzlichen Systeme von Biedermann und Ritschl, deren jedes ihm Gedanken nahebrachte, die ihn anzogen und vermöge der bei ihm vorhandenen Voraussetzungen anziehen mußten, deren jedes aber auch Elemente enthielt, in denen er Verirrungen und Einseitigkeiten erkannte, die abzuwehren er sich gedrungen fühlte.

Nachdem L. zunächst in den Kieler Streitschriften und in einigen Vorträgen und Aufsätzen zu dogmatischen, besonders principiellen Fragen sich geaußert, folgte 1876, entsprungen zunächst dem Bedürfnisse der akademischen Vorlesung das „Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik“. 1878 bereits ward eine 2. Auflage nöthig, die begreiflicher Weise keine einschneidenden [20] Aenderungen enthielt. Dagegen brachte die 3. Auflage, die erst 1893 nach Lipsius’ Tode erschien, von ihm aber in ihrem größten Theile selbst, in ihrem Schlußtheile von Baumgarten, der ihm in seinen zwei letzten Lebensjahren amtlich und persönlich nahegestanden, auf Grund von vorangegangenen Veröffentlichungen von L. sowie von Nachschriften der letzten Dogmatikvorlesung besorgt ist, eine bedeutungsvolle Neubearbeitung. Zwischen die erste und zweite Auflage fallen die „Dogmatischen Beiträge zur Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs“ 1878 (zuerst in den „Jahrb. f. prot. Theol.“), Auseinandersetzungen vor allem mit Herrmann und Biedermann, zwischen die zweite und dritte Auflage, die Eigenthümlichkeiten der letzteren bereits ankündigend, neben einigen Vorträgen die unter dem Titel „Philosophie und Religion“ veröffentlichten, wiederum vor allem mit den beiden eben genannten Theologen sich befassenden „Neuen Beiträgen zur wissenschaftlichen Grundlegung der Dogmatik“ 1885 (zunächst in den „Jahrb. f. prot. Theol.“) und die „Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre“ 1889, 2. Aufl. 1891 (zuerst „Jahrb. f. prot. Theol.“ 1889). L. geht aus von der Unterscheidung der wissenschaftlichen und religiösen oder, wie er später sagt, der empirisch-causalen und transcendental-teleologischen Betrachtung. Erstere hat zum Gegenstande die Welt der äußeren und inneren Erfahrung, der raumzeitlichen Anschauung. Innerhalb dieses Gebiets vermag sie – hier gibt L. der Kantischen Kritik eine realistische Wendung – trotz der subjectiven Bedingtheit unserer Erkenntniß die objectiven Beziehungen der Dinge untereinander zu erfassen; zwischen der Gesetzmäßigkeit unseres Denkens und der unserer Welt zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeit besteht eine Correspondenz. Dagegen in Beziehung auf das übersinnliche Sein vermag sie nur Grenzbegriffe mit abstracten und negativen Bestimmungen aufzustellen. Positiven Inhalt empfangen diese Begriffe, empfängt vor allem der Begriff des Absoluten nur durch die religiös-teleologische Erkenntniß. Die auf diesem Wege gewonnenen Aussagen können aber einmal, weil wir alle unsere Anschauungen dem Gebiete der Sinnenwelt entnehmen müssen, nur inadäquaten, bildlichen und den Forderungen abstracter Logik gegenüber antinomischen Charakter, sodann, weil hier das Object nur in seiner Wirkung auf unser persönliches Leben erfaßt werden kann, lediglich den Charakter subjectiver oder persönlicher Gewißheit, die freilich, weil der Mensch nicht bloß Verstandeswesen ist, durchaus Wahrheit vermittelt, an sich tragen, können also nicht als exact-wissenschaftliche Sätze gelten. So hält L. gegenüber Biedermann daran fest, daß der Glaubensgehalt nicht in einer für alle Denkenden zwingenden Weise bewiesen werden könne; andererseits dringt er gegenüber Ritschl darauf, daß auf eine einheitliche Weltanschauung nicht Verzicht geleistet werde, daß der Begriff des Absoluten als kritischer Kanon zu verwenden sei, daß die teleologische Betrachtung erst dann, aber auch gerade dann einzusetzen habe, wenn die kausale Betrachtung, insbesondere auch die religionspsychologische und historische Forschung mit ihren Ergebnissen und Forderungen voll zu Worte gekommen und an Punkte gelangt sei, wo sie selbst nicht positive Entscheidungen treffen, aber auch einer anderen Betrachtungsweise nicht wehren kann, wo sie vielmehr über sich selbst hinausweist. Die Religion nun hat ihr empirisches Motiv in dem Selbstbehauptungstriebe des Menschen, ihr eigentlicher, allerdings nur dem Glauben erkennbarer, Grund liegt in der mit der überempirischen Bestimmung des Menschen, seiner Bestimmung zu persönlichem Leben, gegebenen Nöthigung, sich über die Natur zu erheben; in der Abhängigkeit von der Gottheit als übernatürlicher Macht findet der Mensch die Sicherung seiner Freiheit über die Welt. Letztlich bekundet sich in solcher Nöthigung Gott selbst, der den Menschen zu [21] sich zieht, das heißt aber, Religion ruht auf Offenbarung, auf einem unmittelbaren Wirken Gottes im Menschengeiste, und das religiöse Verhältniß ist ein Wechselverhältniß zwischen Gott und Mensch, dessen Aeußerungen zwar der psychologischen Analyse zugänglich sind, dessen Wesen ihr aber entzogen bleibt und ein Mysterium ist, wie auch von seiner Thatsächlichkeit nur der Glaube weiß. Offenbarung ist also ein inneres Erlebniß, das jeder Fromme erfährt und erfahren muß, wenn auch in den geschichtlichen Religionen dem Stifter eine maßgebende Grundlage dafür zukommt. Die Religionen bilden eine Stufenfolge, die in ewigen, übergeschichtlichen, göttlichen Ordnungen gegründet ist; die höchste, abschließende Stufe ist die der göttlichen Heilsordnung entsprechende sittliche Erlösungsreligion; die geschichtliche Verwirklichung derselben ist durch die Offenbarung in Christus erfolgt, das damit gesetzte religiöse Princip ist das Verhältniß der Gotteskindschaft. Die Glaubenslehre hat nun die auf Grund der eigenthümlich christlich bestimmten religiösen Erfahrung gemachten Aussagen über Gottes Verhältniß zu Mensch und Welt zu entfalten. Die Ausprägung, die diese Aussagen in den überlieferten kirchlichen Dogmen gefunden haben, hat die Dogmatik einer kritischen Läuterung zu unterziehen; sie hat Formulirungen, die durch die Welt- und Lebensanschauung vergangener Zeiten bedingt sind, durch solche, die mit den Voraussetzungen unserer Bildung vereinbar sind, zu ersetzen, Verirrungen, die durch die Verkennung der Eigenart, der Schranken und des antinomischen Charakters der religiösen Erkenntniß entstanden sind, zu begegnen; sie hat die Dogmen an der heiligen Schrift, vor allem am Neuen Testament als der Quelle für die Erkenntniß der Norm des Christenthums, wie sie in dessen geschichtlicher Grundthatsache, der Offenbarung in Christus, gegeben ist, zu prüfen und zu reguliren, d. h. jedoch nicht an den auch zeitgeschichtlich bedingten lehrhaften Aufstellungen der neutestamentlichen Schriftsteller, sondern an dem bei diesen übereinstimmend bezeugten religiösen Inhalte der Schrift, wie er im inneren Leben der Gläubigen unmittelbar erfahren werden kann. Nur das nämlich, so fordert es L. nachdrücklich, was sich wirklich in allerdings nicht nur individueller, sondern auch gemeinschaftlicher Erfahrung als religiöes bedeutsam erweist, und was im Einklang steht mit den psychologischen und historischen Gesetzen alles religiösen Lebens und nicht den Charakter des Denkunmöglichen trägt, darf zu Glaubenssätzen ausgeprägt werden. Andererseits dringt L. darauf, den in Bibel und Dogma z. Th. sehr verhüllt vorliegenden religiösen Gehalt in möglichster Vollständigkeit herauszulösen und zu verwerthen, wobei er, wie Biedermann, dagegen im Unterschiede von Ritschl, von der Voraussetzung ausgeht, daß den kirchlichen Dogmen das richtige Problem zu Grunde liege. Als die allgemeine, wenn auch nur annäherungsweise zu lösende Aufgabe für die Formulirung der dogmatischen Sätze schärft er ein, daß einerseits die unendliche göttliche Ursächlichkeit im religiösen Vorgange von dem Zusammenhange endlicher Ursachen und Wirkungen im Menschengeiste oder in der Welt real unterschieden, andererseits jener Unterschied nicht wieder auf sinnliche Weise vorgestellt, nicht in äußerlich-supranaturalistischer Weise ein Eingreifen Gottes in den endlichen Kausalzusammenhang angenommen, somit jeglichem Wunderzauber consequent begegnet werde.

Der alle unklaren, verschwommenen Vermittlungen abweisende, der kritischen Auflösung der überlieferten Dogmen ihr uneingeschränktes Recht gewährenden Haltung ist L. auch in der 3. Auflage der „Dogmatik“ treu geblieben. Der Unterschied gegen früher besteht darin, daß das andere, auch schon von Anfang an vorhandene Interesse, die Ansprüche des frommen Gemüths, die in der Gemeinde vorliegenden Ueberzeugungen möglichst zur [22] Geltung zu bringen, weiter ausgeführt und merklich in den Vordergrund gerückt ist, daß dem Positiven, dem Praktisch-Kirchlichen, der Bedeutung des Ethischen und des Geschichtlichen in der Religion breiterer Raum gegeben wird. In der Einzelausführung tritt dies vornehmlich zu Tage in den Darlegungen über die heilige Schrift und über Christi Person und Werk. Dort begegnen wir dem Streben, der Bibel nicht nur, sofern sie das Evangelium bezeugt, sondern auch als Ganzem, freilich als einem eben von dem einheitlichen Geiste des Evangeliums beseelten Ganzen, und in ihren einzelnen Theilen, soweit ein Zusammenhang derselben mit der centralen Heilswahrheit besteht und entdeckt werden kann, den Charakter einer autoritativen und vollbefriedigenden Quelle für die religiösen Bedürfnisse der Gemeinde zu sichern. Hier besteht das Neue darin, daß neben die mit Biedermann festgehaltene Unterscheidung des christlichen Princips und der Person Christi und neben die schon früher, jetzt allerdings erst als etwas zweites, vertretene bleibende Bedeutung Christi als des lebenskräftigen Quellpunkts für die Uebermittlung der christlich frommen Gesinnung an die Gemeinde und die Einzelnen nun, und zwar an erster Stelle, die bleibende religiöse Bedeutung der Person Christi als des Offenbarers des göttlichen Versöhnungswillens, als des Menschen, der die Einigung von Gott und Mensch in sich verwirklicht und damit für die Anderen verbürgt, als des, trotz der Nothwendigkeit des inneren Nachlebens der äußeren Offenbarung doch unerläßlichen Gewißheitsgrundes für unsere Glaubenszuversicht tritt.

Berührt sich in diesem wichtigen Punkte L., wie er es selbst ausspricht, mit einer von Ritschl besonders nachdrücklich vertretenen Position, mit welchem Theologen er ja auch die neukantische Grundlage theilt, dem er in der dritten Auflage auch durch die Betonung des Ethischen im Religionsbegriffe nahekommt, so hebt L. andererseits gerade hier die mannichfachen Differenzpunkte, die zwischen ihnen beiden bestehen, hervor und er verficht Ritschl gegenüber die Nothwendigkeit der Zusammenfassung der religiösen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Begründung des Positiv-Geschichtlichen in einer ewigen Gesetzmäßigkeit, das Recht der Mystik, überhaupt des eigenthümlich Religiösen gegenüber der Gefahr des Moralismus, das Recht des Individualinteresses vor dem der Gemeinschaft. Vgl. auch den Vortrag: „Die Ritschl’sche Theologie“ 1888, zuerst in den „Jahrb. f. prot. Theol.“ Eine besondere Streitfrage behandelt er in einer 1892, zunächst als Heft der „Jahrb. f. prot. Theologie“, erschienenen Schrift, „Luther’s Lehre von der Buße“, wo er gegenüber Ritschl und Herrmann als genuine, nicht erst später durch Melanchthon veranlaßte Auffassung Luther’s, aber auch als sachlich zurecht bestehend die Nothwendigkeit der Gesetzespredigt und der dadurch erweckten Gewissenserschütterung als des ersten Moments in der Buße aufzeigt. Auch der schon erwähnte Vortrag über Philipp Melanchthon, der diesen Reformator als den würdigt, in dem der Humanismus und der evangelische Glaube einen vorbildlichen Bund geschlossen, wendet sich damit gegen eine ungünstigere Beurtheilung, die er bei Ritschl erfahren. Daß es, während zwischen L. und Biedermann trotz wissenschaftlicher Differenz bis zu des letzteren Tode eine edle Freundschaft bestand, auch zu einem starken persönlichen Gegensatze zwischen L. und Ritschl, zu einem Bruche der seit dem Beginne von Lipsius’ schriftstellerischer Thätigkeit bestehenden freundschaftlichen Beziehungen beider kam, wodurch auch auf beiden Seiten, auch soweit Schüler in Betracht kamen, manche Mißverständnisse und ungenügende Würdigungen der beiderseitigen Ansichten verursacht wurden, hatte seinen Grund, abgesehen von leidigen Zwischenträgereien, einerseits in Ritschl’s Tendenz, seinen Abstand von der liberalen Theologie scharf, schärfer jedenfalls, als es sachlich berechtigt war, hervorzuheben, [23] und in seiner, auch von einzelnen seiner Schüler getheilten, Neigung, da, wo eine der seinigen ähnliche, aber selbständige oder auf Anregungen Anderer wie der Gesammtentwicklung beruhende Gedankenbildung vorlag – und das war bei L. für die entscheidenden Punkte der Fall; vieles, worin er sich mit Ritschl berührt, geht auf Schleiermacher und Weiße zurück, vgl. auch das Zeugniß Sulze’s (Theol. Jahresbericht 16, 604) –, sofort Abhängigkeit, Entlehnung zu constatiren, die aber, weil man auch auf anderem Boden erwachsene Vorstellungen beibehalten, zu Inconsequenzen und Verwirrungen geführt habe, eine Neigung, die verletzend wirken mußte und sich gerade gegenüber L. besonders unerfreulich geltend gemacht hatte, andererseits in dem wohl begreiflichen, freilich durch eine von Haus aus wie infolge Ueberarbeitung stark reizbare Natur zu besonderer Empfindlichkeit gesteigerten, schmerzlichen Gefühle von L., in der Beeinflussung der jüngeren theologischen Generation; vor allem des akademischen Nachwuchses, von dem Göttinger Theologen weit überholt zu sein.

Der gerade bei seinem nach Bethätigung drängenden Wesen naheliegende, angesichts seiner Gaben und Leistungen aber auch berechtigte Wunsch, seine Kraft einem weiteren Kreise dienstbar zu machen und mit ihr in der Gesammtkirche zur Geltung zu kommen, war vielleicht mitveranlassend, daß L. die Aufforderung zur Mitbegründung des Evangelischen Bundes freudig ergriff. Daß die eifrige, an hervorragender Stelle im Centralvorstande erfolgende Mitarbeit an diesem, eine gewisse Ausgleichung der theologischen Richtungen zur Voraussetzung wie im Gefolge habenden, Unternehmen – L., dessen Theilnahme gerade zunächst bei manchen von Rechts Kommenden Mißtrauen erregte, war es dann, dem die Aufgabe anvertraut ward, die theologische Position des Bundes zu entwickeln in dem freilich wieder von manchen Liberalen nicht ganz ohne Bedenken aufgenommenen Vortrage „Unser gemeinsamer Glaubensgrund im Kampfe gegen Rom“ 1889 (Flugschriften des Ev. Bundes Nr. 37) – einer der Factoren dafür war, daß in der dritten Auflage der „Dogmatik“ die bezeichnete Interessenverschiebung vorliegt, ist wol richtig. Aber Ansätze dazu sind schon vor der Bundesthätigkeit bemerkbar; das Entscheidende war wohl, daß überhaupt, nachdem L. sowol für sich selbst die kritische Ausscheidung der Ueberlieferung vollzogen und er sich auch nicht mehr so genöthigt fühlte, nach außen hin das Recht der Kritik zu wahren, nachdem ihm auch die Gelegenheit gegeben, am Kirchenregimente theilzunehmen, die auf das Praktische, Aufbauende, kirchlich Förderliche, auf die Heraushebung des Gemeinsamen zum Zwecke nachdrücklicherer Bekämpfung Roms wie der religionisfeindlichen Zeitströmungen gerichtete Seite seiner Natur, der ererbte herrnhutische Zug seiner Frömmigkeit, der selbst in den Kieler Streitschriften durchbricht, sich freier auswirken konnte. Schon in der Jenaer Antrittsrede spricht er es aus, daß er an dieser friedlichen Pflanzstätte freier Wissenschaft kein Anderer sein werde, als der er immer gewesen, wenn auch statt der harten Arbeit des Umpflügens und Ausreutens ihm hier das schönere Loos des Pflanzens und Begießens gefallen sei. Der Streit mit Ritschl gab ihm ebenfalls noch im Besonderen Anlaß, auch seinerseits das Positive, echt Religiöse und Christliche seiner Anschauung hervorzuheben. Aus dem Protestantenvereine war er bereits kurz nach dem Osnabrücker Protestantentag von 1872, wo er ein Referat über die Bekenntnißfrage zu halten hatte – er tritt hier energisch für Maßregeln ein, die den Gewissenszwang erleichtern, wie Parallelformeln in der Agende u. A., ruft aber zum Schlusse auf zu positiver Arbeit, als der entscheidenden Sicherung des Daseinsrechtes der freien Richtung –, ausgeschieden. Aber wie er mit maßgebenden Vertretern desselben in Gemeinschaft blieb, wie er alle Zeit [24] das Recht des freien Protestantismus verfochten hat, nur oberflächlicher, wesentlich Negation treibender Radicalismus und eine das Christenthum in bloße Vernunftwahrheiten auflösende Denkart seine scharfe Gegnerschaft erweckten, so hat er auch dem vornehmlich vom liberalen Protestantismus ins Leben gerufenen Evangel.-protestantischen Missionsvereine sich angeschlossen und dem Programme desselben eine von letzterem als classisch anerkannte Auslegung gegeben in dem auf der 3. Jahresversammlung gehaltenen, den religiös ernsten wie den freien Sinn von L. besonders schön zum Ausdruck bringenden Vortrage „In welcher Form sollen wir den heidnischen Kulturvölkern das Evangelium bringen?“

Vor dem weiteren Berichte über seine praktische Arbeit ist aber noch wissenschaftlicher Verdienste zu gedenken, zunächst dessen, daß er nicht nur seit dem Erscheinen des von Pünjer, einem ihm wissenschaftlich nahestehenden Jenaer Privatdocenten, den er als seinen einstigen Nachfolger ansah, 1881 begründeten „Theologischen Jahresberichts“ ständige Mitarbeit daran leistete, indem er die Referate über die Dogmatik, dann auch diejenigen über Encyklopädie, Religionsphilosophie, Apologetik, Polemik und Symbolik, in den drei letzten Jahren diejenigen über Religionsphilosophie und principielle Theologie lieferte, sondern daß er seit Pünjer’s frühem Tode, 1886, auch die mühevolle Redaction dieses für die theologische Wissenschaft so ungemein schätzbaren Unternehmens führte. Ebenso lagen ferner die Redactionsgeschäfte der von ihm 1875 mit seinen damaligen Collegen Hase, O. Pfleiderer und Schrader begründeten „Jahrbücher für protestantische Theologie“ vor allem in seinen Händen. Endlich ist seine 1891 in erster, 1892 in zweiter verbesserter Auflage erschienene Bearbeitung des Galater-, Römer- und Philipperbriefes für den gemeinsam mit Holtzmann, Schmiedel und v. Soden herausgegebenen „Handkommentar zum Neuen Testamente“ zu nennen, die in bewunderungswürdiger Weise auf gedrängtem Raum in übersichtlicher Darstellungsform allen nothwendigen Stoff, auch die Berücksichtigung der kritischen Positionen der Holländer und Stecks bringt. Abschließend sei daran erinnert, daß L. den Ertrag seiner Forschung, wie überhaupt den Ertrag der freien theologischen Wissenschaft der Allgemeinheit dadurch zugänglich gemacht hat, daß er seit 1863 für drei Auflagen (11.–13.) des Brockhaus’schen Konversationslexikons wol die meisten der theologischen, zum mindesten die dogmatischen Artikel geliefert hat.

Daß L. auch während der Jenaer Zeit dem kirchlichen Leben regstes und thatkräftigstes Interesse zugewandt und durch seine ungemeine Geschäftskunde, durch seinen praktischen Blick, durch die Sicherheit und Nüchternheit seines Urtheils, durch seinen Freimuth, durch seinen Gerechtigkeitssinn einen dankbar empfundenen, nutzbringenden Einfluß übte (vgl. das Beileidsschreiben des Centralvorstandes des Ev. Bundes an Frau Lipsius, Prot. Kirchenztg. 1892, Sp. 843) dafür legt Zeugniß ab, nicht nur seine Thätigkeit in den schon genannten Vereinen, im Gustav-Adolf-Vereine, seine Betheiligung am Evang.-socialen Congresse, sondern vor allem seine Wirksamkeit in der Weimarischen Landeskirche. Anders als sein hierin Zurückhaltung übender College Hase widmete er sich in eifriger unmittelbarer Weise den Angelegenheiten der Kirchenleitung. Er war Mitglied der theologischen Prüfungscommission, Abgeordneter auf den Landessynoden, die während seiner Jenaer Zeit stattfanden, regelmäßig Mitglied des Synodalausschusses, in welcher Eigenschaft er fast ausnahmslos den Sitzungen des verstärkten Kirchenrathes beiwohnte, er betheiligte sich an vielen Kirchenvisitationen. Insbesondere sei erwähnt, daß er bei der Herstellung des neuen Weimarischen Gesangbuchs maßgebend als Mitglied der dazu beauftragten Commission mitwirkte. Es ist nur natürlich, [25] daß das Gewicht eines solchen Mannes auch in den Angelegenheiten der Universität, in den Verhandlungen des Senats wie der Commissionen deutlich zu spüren war; der Verwaltungsdeputation gehörte L. als ständiges Mitglied an. Seine Verdienste um Universität, Kirche und Staat hat vor allem sein Landesherr durch äußere Ehrungen reich anerkannt. Lange Jahre hat L. eine bedeutsame Thätigkeit als Vorsitzender des Vereins für Thüringische Geschichte und Alterthumskunde ausgeübt. Politisch war er gemäßigt liberal und als solcher ein treuer Anhäger der nationalliberalen Partei. Er war nicht culturkämpferisch gesinnt, trat vielmehr nach dem Tode Pius IX., wie Hase, für einen Friedensschluß mit Rom ein; die Art jedoch, wie der Staat dann den Frieden schloß, schien ihm verhängnißvoll. Einen ergreifenden Ausdruck fand seine Begeisterung für das geeinte Reich wie seine monarchische Gesinnung in der markigen Ansprache, mit der er am 30. Juli 1892 den Fürsten Bismarck in Jena begrüßte. Drei Wochen später, am 19. August, starb er unerwartet an den Folgen einer Operation. Mitten aus kraftvollem Wirken ward er herausgerissen, wenn auch infolge der ungeheuren Arbeitslast seine Gesundheit in den letzten Jahren angegriffen war; noch auf dem Krankenlager, am Tage vor seinem Tode, hatte er an der neuen Auflage seiner „Dogmatik“ gearbeitet. Er hinterließ seine Gattin, mit der ihn ein Band zarter Liebe umschloß, und durch die er den Segen friedevoller Häuslichkeit genoß, und einen ihm nach elfjähriger Ehe geborenen Sohn, den er mit innigster, eifrigster Fürsorge umfaßte.

Unter den Männern, die an einem wirklich inneren Ausgleiche zwischen Christenthum und modernem Geistesleben, an der Herbeiführung eines der Ueberlieferung durchaus frei gegenüberstehenden, aber doch ernst frommen Protestantismus gearbeitet haben, wird L. stets einen Ehrenplatz behaupten. Den Systemen von Biedermann und Ritschl eignet zwar größere Geschlossenheit und ursprünglichere Kraft als dem seinigen, ein leitender Gesichtspunkt tritt dort deutlich und packend hervor, aber sie sind auch wiederum einseitiger. Das Bemühen von L., der überhaupt eine mehr receptive als schöpferische Natur war, sowol die Kritik consequent zur Geltung kommen zu lassen, als auch die Erfahrungen des Glaubens unverkürzt wiederzugeben, sowol die Unterscheidung zwischen Religion und Wissenschaft reinlich durchzuführen als auch das speculative Bedürfniß nach Einheit der Weltanschauung zu befriedigen, weder den berechtigten Forderungen des Princips der Innerlichkeit und des Subjectivismus, noch denen des an das Positive und Historische sich anschließenden Standpunkts etwas zu vergeben, macht, abgesehen noch von den durch mannichfache Accomodation an die Terminologie der Gegner gegebenen Schwierigkeiten, sein System, auch in der gegenüber früher entschieden geklärten abschließenden Gestalt, weniger einfach; es liegen auch, vor allem infolge eines zu sehr an der Methode der Naturwissenschaften orientirten Wissenschaftsbegriffes gewisse Discrepanzen vor; andererseits ist sein Gedankengebäude reicher an Motiven, umsichtiger ausgeführt, mannichfachen Ansprüchen angepaßt, es wird der Vielgestaltigkeit des religiösen Lebens, wie sie die Erfahrung zeigt, besser gerecht. Dem Systeme Ritschl’s kam die Zeit mit ihrer Abkehr von der Metaphysik und ihrem Historicismus entgegen; aber gar bald haben die Fragen, die hier einfach von der Schwelle abgewiesen wurden, sich wieder mit Macht eingestellt und für ihre Beantwortung kann das Studium von L. noch treffliche Dienste leisten, wenn auch inzwischen die Probleme durch die eindringendere Analyse der von L. vorausgesetzten allgemeinwissenschaftlichen Begriffe eine weitere Vertiefung und damit auch Erschwerung erfahren haben. Auch die Christologie, gerade [26] der dritten Auflage, bietet, gewisser überstiegener Formeln entkleidet und noch mehr ins Psychologische gewendet, sehr Werthvolles.

Mindestens ebenso bedeutend wie als Dogmatiker war L. als Historiker. Zwar hat er auch hier nicht so allgemein anregende, dabei freilich die Gefahr einer gewissen Vergewaltigung der Wirklichkeit mit sich bringende, geniale Conceptionen aufgestellt wie Ritschl, aber er hat Hervorragendes geleistet in der philologisch-historischen Kritik, in streng exakter Forschung, hat sich als kühner und scharfblickender Pfadfinder auf dunklem, schwierigem Gebiet bewährt; der Versuch der Aufhellung der ältesten Ketzergeschichte verleiht seinen historischen Arbeiten einen bedeutungsvollen Zusammenhang; das Zurückdrängen des eigenen Standpunktes zu Gunsten der treuen Wiedergabe der Anschauungen der Vergangenheit gibt den biblisch-theologischen und dogmen-historischen Ausführungen seines dogmatischen Lehrbuchs den besonders hohen Werth.

Als Lehrer war L. nicht durch ein besonders anziehendes Organ, durch die Gabe einer glänzenden, einschmeichelnden Rede ausgezeichnet, aber durch die Sicherheit und Ebenmäßigkeit, die Bestimmtheit und Kraft, die ernste Würde und Eindringlichkeit war sein Vortrag sehr eindrucksvoll. Er besaß, wie dies besonders die für ein weiteres Publicum berechneten Kundgebungen beweisen, die Gabe, seine Gedanken in lichtvoller, schöner Einfachheit, in scharfer, gewandter Formulirung zur Darstellung zu bringen, war aber im Colleg vor allem infolge der Methode, den Gegenstand von mehreren Seiten zu beleuchten, nicht immer leicht faßlich, wie auch in seinem dogmatischen Lehrbuche die außerordentliche Gründlichkeit zu einer gewissen Schwerfälligkeit und Breite gesteigert ist. Im Seminar war er gern bereit zur Discussion. Sein äußeres Auftreten war trotz der Kleinheit seiner Figur imponirend; seine Züge waren scharf geschnitten und höchst durchgeistigt; der gelehrte Forscher wie der energische Mann traten aus ihnen deutlich entgegen. An L. als Mann der Wissenschaft fällt vor allem auf die Vielseitigkeit seiner Begabung, die an seinen Lehrer Weiße erinnert, die gleich hohe Fähigkeit zur Lösung historisch-philologischer wie philosophisch-speculativer Aufgaben, der immense Umfang des Gebiets, das er als Meister beherrschte; an ihm nach seiner Gesammtveranlagung betrachtet, daß er eine gewaltige Gelehrtenpersönlichkeit war, zugleich aber auch ein Mann, der im praktischen Leben zu führen verstand. Als Mensch war er ausgezeichnet durch einen ungemein großen Fleiß, durch stete Bereitwilligkeit und unermüdlichen Eifer, weiterzulernen, durch unerschrockenen Gehorsam gegenüber der erkannten Wahrheit, durch hohes sittliches Pathos, durch schlichte, im verborgenen glühende Frömmigkeit. Er war eine sehr temperamentvolle Natur, und wie er sich wol durch die momentane Stimmung, besonders durch augenblickliche Gereiztheit, zu einigen nicht unwichtigen Entscheidungen hat bewegen lassen, so riß ihn auch des öfteren sein Temperament zu schroffem und unbilligem Urtheil fort. Aber doch trat immer wieder der seinem innersten Wesen eigene Zug der Umsicht und Gerechtigkeit, des ungeschminkten, freundlichen Wohlwollens und der anspruchslosen Bescheidenheit hervor.

Alle wichtigen Schriften von Lipsius sind im Vorstehenden genannt. Ein vollständiges Verzeichniß seiner sämmtlichen Veröffentlichungen ist von O. Baumgarten der 3. Auflage der Dogmatik beigegeben. Eine Auswahl seiner Vorträge und Aufsätze hat sein Sohn, F. R. Lipsius, unter dem Titel „Glauben und Wissen“ 1897 herausgegeben. – Ueber die Großeltern und Eltern von Lipsius orientirt des Letzteren biographische Vorrede zu der von ihm veranstalteten Ausgabe der „Schulreden“ seines Vaters (ersch. Leipzig [27] 1862). – Ueber sich selbst, seinen Lebensgang und seine innere Entwicklung hat Lipsius Mittheilungen gegeben im Artikel „Lipsius“ in Brockhaus’ Konversationslexikon 13. Aufl. und in den „Bücherkleinoden evangelischer Theologen“ (Bibliothek theol. Klassiker Bd. 1, Gotha 1888). Weiteres Material bietens A. Hilgenfeld, D. R. A. Lipsius †, Prot. Kirchenzeitung 1892, S. 801–805; H. Lüdemann, R. A. Lipsius, Allg. Zeitung 1892, Beil. Nr. 200 und Prot. Kirchenzeitung 1892, S. 825–833, 849–858. – A. H. Braasch, R. A. Lipsius †, Deutsches Protestantenblatt 1892, S. 318 f. – R. A. Lipsius. Zwei Gedächtnißreden: G. Richter, Lipsius’ Lebensbild; F. Nippold, Lipsius’ historische Methode. Jena 1893 (S.-A. aus Ztschr. f. Thür. Gesch. u. Alterthumskunde Bd. 17). – H. O. Stölten, Zum Gedächtniß von R. A. Lipsius, Prot. Kirchenzeitung 1893, S. 801 bis 805. – P. Kirmß, Biographische Vorrede zum dem 1894 als 4. Flugschrift des Allgem. ev.-prot. Missionsvereins u. d. T. „Unsere Aufgabe in Ostasien“ wiederabgedruckten Vortrag von L. „In welcher Form etc.“ – Ecke, R. A. Lipsius, Kirchl. Monatsschr. 1894, S. 798–817. – F. R. Lipsius, Art. R. A. Lipsius in Realencyklopädie f. prot. Theol. u. Kirche, 3. Aufl., Bd. 11, S. 520–524, 1902. – Zu Lipsius’ Apokr. Apostelgeschichten und -legenden: H. Lüdemann, Prot. Kirchenztg. 1883, S. 796 bis 800, 817–825 und 1887, S. 953–961, 981–985, 1010–1014, 1036–1042. – Zu Lipsius’ systematischem Standpunkt: Recensionen der 3. Aufl. der Dogmatik von E. Troeltsch, Göttinger Gel. Anzeigen 1894, S. 841–854; von M. Scheibe, Theol. Studien u. Kritiken 1895, S. 189 bis 206; von M. Reischle, Theol. Literaturzeitung 1896, Sp. 41–47. – F. Traub, Grundlegung und Methode der Lipsius’schen Dogmatik, Theol. Studien u. Kritiken 1895, S. 471–529. – M. Reischle, R. A. Lipsius u. seine dogmatische Arbeit, Christl. Welt 1896, Nr. 8–10. 12. – A. Neumann, Grundlagen u. Grundzüge der Weltanschauung von R. A. Lipsius, 1896. – E. Pfennigsdorf, Vergleich d. dogmat. Systeme von R. A. Lipsius und A. Ritschl, 1896. – H. Lüdemann, Erkenntnißtheorie und Theologie VII, VIII, IX, X, Prot. Monatshefte 1897, S. 436–445, 475–480; 1898, S. 17–29, 51–65. – U. Fleisch, Die erkenntnißtheoretischen und metaphysischen Grundlagen der dogmatischen Systeme von A. E. Biedermann und R. A. Lipsius, 1901 (zunächst erschienen als Züricher Diss.). – Vgl. noch die Ausführungen über L. in den Werken über Kirchengeschichte und Geschichte der Theologie, Religionsphilosophie und Spekulation von K. v. Hase, Nippold, R. Seeberg, v. Frank, O. Pfleiderer, Pünjer u. A. Drews, sowie R. Seydel, Religionsphilosophie im Umriß, 1893, S. 73–110.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: üaer
  2. Vorlage: J. Lüdemann