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ADB:Ritschl, Albrecht

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Artikel „Ritschl, Albrecht Benjamin“ von Otto Ritschl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 29 (1889), S. 759–767, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ritschl,_Albrecht&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 16:38 Uhr UTC)
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Band 29 (1889), S. 759–767 (Quelle).
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Ritschl **): Albrecht Benjamin R. wurde am 25. März 1822 in Berlin als Sohn des damaligen Consistorialraths und Predigers an der Marienkirche, [760] späteren Bischofs und Generalsuperintendenten von Pommern Georg Karl Benjamin R. (s. A. D. B. XXVIII, 661) geboren. Er war das älteste. nach dem frühen Tode zweier jüngerer Brüder einzig überlebende Kind aus der zweiten Ehe seines Vaters mit Auguste Sebald. Die Erziehung des geweckten und heiteren Knaben im elterlichen Hause beförderte früh die Entwicklung seines Charakters zu einer Selbständigkeit, welche von vornherein auch in der Art sich geltend machte, wie er seinen gelehrten Studien oblag. Gebildet auf dem Gymnasium zu Stettin, bezog R. 17jährig im Herbst 1839 die Universität Bonn als Student der Theologie. Mit eingehender Sorgfalt und Theilnahme begleitete sein Vater durch seinen erfahrenen Rath die wissenschaftlichen Fortschritte des Sohnes, ohne jedoch mit seiner Autorität einen Druck auf dessen geistige Weiterentwicklung auszuüben. Diese Achtung des Aelteren vor der Individualität des Jüngeren, dem jener aber auch in allem volles Vertrauen schenken durfte, wurde die Grundlage, auf welcher sich bald ein überaus herzliches Verhältniß gegenseitiger Anerkennung und Uebereinstimmung gestaltete, dessen Segen auch nach dem Tode seines Vaters dauernd zu erfahren R. sich bei der Arbeit und in den Kämpfen seines Lebens dankbar bewußt blieb. – Schon seit Beginn seiner Studienzeit strebte R. dem Ziele zu, einmal die akademische Laufbahn einzuschlagen. Dieser Wunsch trieb ihn zu gründlichem und gewissenhaftem Studium. Mit großer Klarheit und Selbständigkeit benutzte er die Anregungen, welche er in den Vorlesungen seiner Lehrer erhielt, indem er diese zugleich mit einer sicheren Kritik begleitete, die ihm statt nach vier schon nach drei Semestern den Uebergang von Bonn nach Halle wünschenswerth erscheinen ließ, weil er meinte, sich in Bonn das angeeignet zu haben, was ihm seine dortigen Lehrer zu bieten vermochten. Aber auch in Halle fand er bei Tholuck und Müller nicht die von diesen erwartete Aufklärung über die Fragen, deren Lösung ihm am Herzen lag, und in welche nun durch selbständige Benutzung verschiedener Monographien einzudringen er sich in die Nothwendigkeit versetzt sah. Es war schon damals vorwiegend das Problem der Versöhnungslehre, welches ihn beschäftigte und zugleich zu anderen damit zusammenhängenden dogmatischen Fragen, wie über Gottes Persönlichkeit, Schöpfung, Christi Person, Erlösung weiter führte. Ueber diese Probleme, berichtet er einmal, befände er sich in ungeheurer Aufregung, „daß, wenn ich mich über alles dies aussprechen sollte, ich immer beim dritten Satze aufhören müßte, weil ich weiter nichts weiß“. So sah er sich auf fernere Vorstudien hingewiesen. Charakteristisch ist, daß er dabei sein Augenmerk auf den Opferbegriff richtete und es für nothwendig erklärte, sich mit dem alttestamentlichen Opferinstitut und überhaupt mit der alttestamentlichen Theologie eingehender zu befassen. Aber damals kamen diese Absichten nicht zur Ausführung. Denn zunächst ist R. gleichfalls durch seine Beschäftigung mit der Versöhnungslehre zu anderen Interessen hingeführt worden. Er erkannte es als ein Bedürfniß, sich mit der damals dominirenden Hegel’schen Philosophie vertraut zu machen und erfuhr hierbei den Einfluß, die Anregung und Förderung von Karl Schwarz, der gerade im Begriff war, sich in Halle zu habilitiren. Indem er im Zusammenhange mit dieser Wendung seines Studiums auch die Werke F. Chr. Baur’s kennen und schätzen und ihren Verfasser als den ersten Theologen der Zeit verehren lernte, schloß er sich der Tübinger Schule als eifriger Anhänger an. Er begeisterte sich damals für die Einführung der Philosophie in die Theologie, indem er geltend machte, daß es nur eine Wahrheit geben könne, aber er ist niemals, wie viele seiner Genossen, an der Theologie irre geworden, der er vielmehr gewillt war, nun gerade alle seine Kräfte zu widmen. Den Abschluß seiner Halleschen Studienzeit bildete am 31. Mai 1843 die Promotion zum philosophischen Doctor, wozu er als Dissertation eine [761] Schrift mit dem Titel „Expositio doctrinae Augustini de creatione mundi, peccato, gratia“ eingereicht hatte. Nachdem dann R. den folgenden Winter in Berlin zugebracht, am 23. April 1844 das Examen pro venia concionandi in Stettin „sehr gut“ bestanden und sich ein Jahr im elterlichen Hause aufgehalten hatte, betrieb er seit Februar 1845 die directe Vorbereitung zum akademischen Lehramt zunächst auf Wunsch seines Vaters in Heidelberg, dann aber seit August 1845 in Tübingen selbst, wohin ihn schon längst seine Sehnsucht gezogen hatte. Hier entstand unter dem Einflusse Baur’s seine 1846 veröffentlichte Schrift über das Evangelium Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas, in welcher er die von ihm im J. 1851 selbst wieder aufgegebene These vertrat, daß das Evangelium Marcions nicht eine Verstümmelung des Evangeliums des Lucas, sondern sein Grundstamm sei. Mit einer lateinischen Umarbeitung eines Theiles dieser Schrift promovirte R. am 16. Mai 1846 als Lic. theol. in Bonn, wo er sich dann am 20. Juni als Privatdocent habilitirte. In dem darauf folgenden Winter begann er seine akademische Lehrthätigkeit mit Vorlesungen über die Einleitung ins Neue Testament und über den paulinischen Lehrbegriff. Der Erfolg dieser neuen Thätigkeit war für ihn der Beginn seiner Abwendung von der Tübinger Richtung, welche sich, wie R. damals berichtete, „so ganz allmählich“ gemacht habe, „daß ich über die Veränderung und Bereicherung meiner Ansichten im Allgemeinen, wie namentlich in Hinsicht der Forschungen über die ersten Jahrhunderte erstaunen möchte“. Dennoch weiß er sich sicher davor, in den „Schlendrian Neander’scher Geschichtsauffassung“ zurückzufallen. Der Umschwung von Ritschl’s Ansicht über die Geschichte des ältesten Christenthums kam zum deutlichen Ausdruck in seinem ersten großen Werke, welches er zuerst als „Genesis des Katholicismus“ zu bezeichnen gedacht hatte, welches er aber 1850 unter dem Titel: „Die Entstehung der altkatholischen Kirche“ veröffentlichte. Studien über das Verhältniß der ältesten heidenchristlichen Schriften zu dem wirklichen Paulinismus hatte R. schon 1845 in Heidelberg getrieben. In Bonn wurde er dann durch die Beschäftigung mit Tertullian und dem Montanismus, welche ihn zunächst auf die Geschichte der ältesten Kirchenverfassung brachte, wieder auf jene Frage und weiter auf die nach dem Verhältniß der verschiedenen christlichen Parteien in den ersten zwei Jahrhunderten geführt. So entstand der Gesammtplan jenes Werkes, dessen Gegensatz gegen Baur jedoch noch nicht durchschlagend war und es nicht verhinderte, daß sich Baur trotzdem R. gegenüber anerkennend über seine Leistung aussprach, und daß beide noch eine Reihe von Jahren hindurch persönlich in freundschaftlichem Verkehre blieben.

Ueberhaupt galt R. noch lange als Anhänger der Tübinger Schule. Dies Vorurtheil stand nicht nur einer größeren Wirksamkeit Ritschl’s als Lehrer, sondern auch zugleich mit dem damals überhaupt so verderblichen Einflusse Hengstenberg’s seinem Weiterkommen im Wege. So fand R., welcher jedoch die Ungunst dieser Verhältnisse mit Fassung und Ergebung ertrug, die officielle Anerkennung seiner Leistungen, die ihm in der Wissenschaft schon längst einen hervorragenden Namen erworben hatten, erst am 22. December 1852 durch seine Beförderung zum außerordentlichen Professor, welche zugleich einen kurz zuvor an ihn ergangenen Ruf nach Zürich als Extraordinarius ohne Gehalt gegenstandslos machte. R. hatte bisher nur das Gebiet des Neuen Testaments und seit 1848 das der Dogmengeschichte vertreten. Nun gab ihm die gleichzeitige Uebersiedelung Dorner’s von Bonn nach Göttingen die Veranlassung, sich auch der systematischen Theologie zuzuwenden, auf welche er sich durch seine ganze wissenschaftliche Entwicklung hingewiesen wußte. Bei der Vorbereitung auf diese neue Thätigkeit klagt er über den Mangel an brauchbaren Vorarbeiten, welcher ihm wiederum das Einschlagen [762] eigner Wege nothwendig machte. Aber die selbständige Beschäftigung mit der Philosophie, welche er dabei zunächst für erforderlich hielt, speciell das Studium von Trendelenburg’s logischen Untersuchungen, die er im Sommer 1853 kennen lernte, führte ihn jetzt zum völligen Bruch mit der Hegel’schen Philosophie und zum durchgreifenden Gegensatz gegen die Tübinger Schule. – Auch äußerlich löste sich im Juni 1856 das bisherige Verhältniß zu Baur. Dieser nahm das in einer Recension von R. ausgesprochene Urtheil persönlich übel, daß „die Tübinger Schule auseinander gefallen sei, und ihre Anregungen nur in dem Maße Anerkennung verdienen, als sie zum Gegensatze gegen das von Baur und Schwegler dargestellte System der christlichen Urgeschichte führen und als sie den Anbau der biblischen Theologie mehr fördern, als es bisher geschehen sei“, und schrieb darüber an R. einen aufgeregten Absagebrief, dessen Verdächtigungen seines Charakters dieser mit der ruhigen Würde zurückwies, die seiner im Gegensatz gegen jenen erworbenen theologischen Selbständigkeit entsprach. Im Sommer 1857 konnte dann R. die im November 1854 begonnene, völlig umgearbeitete zweite Auflage seiner „Entstehung der altkatholischen Kirche“ der Oeffentlichkeit übergeben. In dieser liegt sein Gegensatz gegen die Tübinger Schule fertig ausgeprägt vor. An Stelle der Baur’schen Auffassung vom ältesten Christenthum hat R. eine andere gesetzt, welche seitdem in den Grundzügen von allen competenten Forschern auf diesem Gebiete acceptirt worden ist. Während Baur und seine Anhänger bereits in die urchristliche Zeit einen völligen Gegensatz zwischen Paulus und den Uraposteln hineintrugen und so die Annahme eines doppelten Evangeliums vertraten, zeigte R., daß die den alten Bund durchbrechende Thatsache, daß Jesus der Christus ist, der identische Inhalt des Evangeliums aller Apostel, und der Glaube daran das Merkmal des Eintritts in den neuen Bund gewesen sei. Wenn dann weiter Baur den von ihm angenommenen Gegensatz sich theils zuspitzen, theils abstumpfen ließ, um endlich zwischen beiden eine die Gegensätze absorbirende Vermittlung anzunehmen, welche die Basis des katholischen Christenthums geworden sei, kam R. dagegen zu folgenden Resultaten. Die Urapostel sind von den Judenchristen, und unter diesen wieder verschiedene Arten zu unterscheiden. Das Judenchristenthum ist nicht entwicklungsfähig gewesen und nicht in die Einheit der katholischen Kirche eingemündet, sondern es ist durch zunehmende Isolirung in die Stellung einer nicht katholischen Partei eingetreten. Andererseits weichen aber auch die paulinische Richtung und das katholisch werdende Heidenchristenthum von einander ab. Denn der Altkatholicismus ist eine von dem Urchristenthum wesentlich unterschiedene, durch bestimmte Eigenthümlichkeiten kenntliche Stufe des Heidenchristenthums, auf welcher das Verständniß der paulinischen Gedanken zunehmend verkümmert ist. Indem nämlich die Idee der Wiedergeburt zurücktrat und die der Rechtfertigung durch den Glauben verschwand, ist für die Vertreter jener Richtung charakteristisch die Auffassung des Christenthums unter dem Gesichtspunkt des neuen Gesetzes, welches sie dem alten Gesetze der Juden entgegensetzen. Ferner bekennen sie sich in der sog. Glaubensregel zu einer apostolischen Tradition, durch welche sie ihren Widerspruch gegen den Gnosticismus gesichert wissen. Endlich erreichen sie eine auf die Schlüsselgewalt gegründete, auf den Unterschied zwischen dem Clerus und den Laien hinzielende und im monarchischen Episcopate gipfelnde Verfassung der Kirche, während der Montanismus als eine hiergegen im Interesse der älteren christlichen Grundsätze vergeblich reagirende Richtung zu beurtheilen ist.

Nachdem R. am 25. September 1855 bei der Feier des 300jährigen Jubiläums des Augsburger Religionsfriedens von der Bonner Facultät honoris causa zum Doctor der Theologie promovirt worden war, erfolgte am 10. Juli 1859 [763] seine Ernennung zum ordentlichen Professor. Dann erhielt er im Anfang des Jahres 1864 auf Anregung Ehrenfeuchter’s durch den hannöverschen Minister Lichtenberg [WS 1] einen Ruf nach Göttingen, dem er um so unbedenklicher Folge leistete, als er in den letzten Jahren in Bonn auch durch den Minister v. Mühler mehrfach Zurücksetzungen hatte erfahren müssen. In Göttingen hatte man R. vornehmlich die Vertretung der neutestamentlichen Fächer und der Dogmengeschichte zugedacht. Dennoch bildete von nun an neben einigen exegetischen Vorlesungen den Kern seiner Lehrthätigkeit die systematische Theologie. Seiner Neigung hierzu entsprach nicht nur seine vielseitige Vorbildung, sondern auch seine in glänzendem Scharfsinn, durchdringender Klarheit und umfassender Umsicht bestehende Begabung. Den scholastischen Grundsatz: „qui bene distinguit, bene docet“ liebte er in der Vervollständigung: „qui bene distinguit et bene comprehendit, bene docet“ als Richtschnur seiner wissenschaftlichen Methode anzugeben. R. hat seine Theologie in ausführlicher Begründung zuerst dargestellt in seinem großen Werke über die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Mit den Vorarbeiten hierzu hatte er bereits im Januar 1857 begonnen. In den folgenden Jahren legte er dann zunächst in verschiedenen Aufsätzen einen Theil seiner speciellen Studien auf dem von ihm in Angriff genommenen Gebiet nieder. Dann erschien das Werk selbst 1870 und 1874 (1. Bd. „Die Geschichte der Lehre“ 1870, 2. Aufl. 1882; 2. Bd. „Der biblische Stoff der Lehre“ 1874, 3. Aufl. 1889; 3. Bd. „Die positive Entwicklung der Lehre“ 1874, 3. Aufl. 1888). In dem 3. Bande hat R., wie er selbst in der Vorrede dazu sagt, „um die Centrallehre des evangelischen Christenthums als solche verständlich zu machen, nicht umhin gekonnt, einen fast vollständigen Entwurf der Dogmatik vorzulegen, dessen rückständige Glieder leicht ergänzt werden könnten.“ Dieses Hauptwerk Ritschl’s wird nun nach verschiedenen Seiten hin durch seine später erschienenen Schriften ergänzt, besonders durch den Vortrag über „Die christliche Vollkommenheit“ (1874, 2. Aufl. 1889), den „Unterricht in der christlichen Religion“ (1875, 3. Aufl. 1886), die Schrift über „Theologie und Metaphysik“ (1881, 2. Aufl. 1887), und endlich durch sein drittes Hauptwerk, die dreibändige „Geschichte des Pietismus“ (1880–86). Dieses Werk ist eine zusammenhängende, auf umfassendem und ermüdendem Quellenstudium beruhende Darstellung des Pietismus mit Ausschluß seiner noch nicht abgeschlossenen Entwicklung im 19. Jahrhundert. Ueber diese hat sich jedoch R. mehrfach anderwärts, so in der Vorrede zum 3. Band der Geschichte des Pietismus, wie auch schon früher in der Schrift „Schleiermacher’s Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands“ (1874), in bezeichnenden Urtheilen geäußert. R., welcher in der Geschichte des Pietismus seinen Standpunkt ausdrücklich in dem Bekenntniß der lutherischen Kirche genommen hat, bezeichnete dieses Werk auch wohl als den Anschauungsunterricht für seine Theologie und setzte es so in den engsten Zusammenhang zu seiner Lebensaufgabe überhaupt.

Ueber seine Theologie selbst sagte R. anläßlich der Angriffe, die sie erfuhr, sie stehe auf so vielen Beinen, daß, wenn es auch gelänge ihr das eine oder andere abzuschlagen, sie doch noch immer auf den übrigen fest genug stehen würde. Ihre unerschütterliche Stärke ist aber jedenfalls die Geschlossenheit ihres ganzen Zusammenhanges, wie sie vor allen Dingen durch die vollständige Beherrschung des gesammten biblischen wie historischen christlichen Lehrstoffs und durch die Einheitlichkeit der leitenden Gesichtspunkte herzustellen R. möglich gewesen ist. R. wußte sich mit den Grundtendenzen und Idealen der Reformation Luther’s einig, deren wirkliche Durchführung jedoch in der bisherigen protestantischen Theologie nicht erreicht worden ist, da diese schon durch die Schuld Melanchthon’s [764] in die Scholastik zurückgefallen ist. Darum setzt es sich R. als Aufgabe, jene reformatorischen Intentionen in dem Entwurf seiner Theologie endlich thatsächlich zur Geltung zu bringen. Gott kann nur in seiner Offenbarung durch Christus richtig erkannt werden, und auch nur von denjenigen, welche sich in die Gemeinde der Gläubigen einschließen. Denn die christliche Religion, welche nicht mit irgend einer Theologie verwechselt werden darf, befriedigt als Religion nicht ein theoretisches, sondern ein praktisches Bedürfniß des Menschen, der in ihr seine Seligkeit sucht und findet, aber nicht Aufschlüsse über Wahrheiten, an denen sein Verstand ein Erkenntnißinteresse haben könnte. Aus diesem Charakter des Christenthums und aus jener Beschränkung der göttlichen Offenbarung auf Christus als ihren einzigen Erkenntnißgrund folgt, daß die sog. natürliche Theologie und damit der Rationalismus, die speculative Metaphysik und die Mystik in einer christlichen Theologie unberechtigt und daher aus ihr auszuschließen sind. Ferner verwirft R. alle theoretischen Beweise für das Christenthum, indem er allein den praktischen Beweis anerkennt, daß, wer den Willen Gottes thun will, die Wahrheit der Verkündigung Christi erproben wird (Joh. 7, 17). Die christliche Lehre ist nun gemäß dem evangelischen Grundsatze aus der hl. Schrift zu schöpfen. Denn diese ist die Urkunde der Stiftungsepoche des Christenthums, welche sich von den übrigen Schriften des christlichen Alterthums dadurch specifisch unterscheidet, daß ihre Verfasser noch die alttestamentliche Bedingtheit des christlichen Ideenkreises kennen. Aber gemäß der Lehrnorm der lutherischen Kirche, daß die hl. Schrift für die Theologie verpflichtend sei, sofern sie, wie Luther sagt, Christum treibt, behauptet R., daß allerdings alle nothwendigen Lehren von dem Heil durch Christus stofflich in ihr begründet, aber nicht alle nachweislich urchristlichen Hoffnungen und Lebensformen nothwendige Glieder der christlichen Theologie sind. Der auch in dieser Behauptung zu Tage tretenden ausschließlichen Auffassung des Christenthums als einer auf die Seligkeit seiner Bekenner gerichteten Religion, die nur mißbräuchlich auch als Auskunftsquelle für den menschlichen Wissenstrieb benutzt worden ist, entspricht nun weiter das ganze wissenschaftliche Verfahren Ritschl’s in der Bestimmung des Inhalts dieser Religion. Dieses beruht auf der Ablehnung des Causalnexus und auf der Verwendung des Zweckgedankens als des einzig möglichen Mittels die Bedeutung einer Lebensmacht, wie es die Religion ist, richtig zu erschließen. Diesem Grundsatz gemäß ist der leitende Gedanke in Ritschl’s Theologie der Begriff des Reiches Gottes. Dieses ist der von Christus offenbarte Endzweck Gottes in der Welt. Es stellt die Gesammtheit der durch gerechtes Handeln verbundenen Unterthanen Gottes dar, ist aber insofern stets unsichtbar und Gegenstand des religiösen Glaubens, deckt sich also in seinem wirklichen Bestande nicht mit dem Bestande der Gemeinde, die in sinnenfälligem Gottesdienst sich als die Kirche darstellt. Das Reich Gottes soll aber von dieser durch Christus gestifteten Gemeinde in der Welt verwirklicht werden, wie es Christus in der Durchführung seiner Lebensaufgabe nicht nur begründet, sondern auch für sich selbst verwirklicht hat. Indem Christus nämlich seinen Beruf das Reich Gottes einzuführen, zu welchem er durch die gegenseitige Erkenntniß zwischen ihm selbst und Gott als seinem Vater ausschließlich befähigt gewesen ist, im vollkommenen Gehorsam gegen Gott ausgeübt hat durch Reden der Wahrheit, durch liebevolles Handeln ohne Lücken und Abweichungen und durch bereitwillige Geduld bis zum Tode, ist Gott von ihm selbst als geistige Person offenbart worden, deren Wesen Liebe, Treue und Gnade ist. Und Christus ist der vollkommene Offenbarer Gottes gewesen, sofern gerade seine eigene Berufsaufgabe ihm als der Endzweck Gottes in der Welt bekannt gewesen ist. Endlich hat Christus durch dieselbe gehorsame und geduldige Erfüllung seines Berufs [765] bis zum Tode die Gegenwirkung der Welt gegen seinen Lebenszweck zum Mittel seiner eigenen Verklärung umgebogen und sich damit auch unmittelbar als Herrscher über die Welt erwiesen. In allen diesen Wirkungen Christi wird von der christlichen Gemeinde seine Gottheit erkannt, welche für sie die praktische Bedeutung hat, daß die Christen ihm wie Gott dem Vater selbst vertrauen und Anbetung widmen. Das Reich Gottes hat nun für die christliche Gemeinde die doppelte Bedeutung, daß es ihr höchstes Gut und ihr sittliches Ideal ist. Insofern ist es der einheitliche Begriff, in dem die religiöse und die sittliche Seite des Christenthums, der vollendet geistigen und der vollendet sittlichen Religion, zusammengeschlossen werden. Als höchstes Gut bietet das Reich Gottes zunächst die Lösung der in allen Religionen gestellten oder angedeuteten Frage, wie der Mensch, welcher sich als Theil der Welt und zugleich in der Anlage zu geistiger Persönlichkeit erkennt, den hierauf gegründeten Anspruch auf Herrschaft über die Welt gegen die Beschränkung durch sie durchsetzen kann. Im Vergleich mit der Aufgabe des Reiches Gottes kommt nämlich den Menschen ihre natürliche Selbstsucht, welche, da das Reich Gottes auf Erden immer erst im Werden ist, bei jedem einzelnen aus dem Zusammenhang der allgemeinen Sünde Nahrung empfängt und über ihn schon zu einer Macht geworden ist, ehe er die Reife der Charakterentwicklung erreicht hat, als Sünde in dem Schuldgefühl zum Bewußtsein. In diesem Zustande des Druckes der ungelösten Schuld, welche im vollsten Sinne Strafe Gottes und als die eigentliche Verdammniß anzusehen ist, besteht die Trennung der Menschen von Gott. Diese wird nun aufgehoben durch die Erlösung oder Sündenvergebung, welche für die christliche Gemeinde begründet worden ist durch den mit den alttestamentlichen Opfern vergleichbaren Tod Christi, der sich als die höchste Probe seines Gehorsams und als ein Compendium seines dem Dienste Gottes und der zu gründenden Gemeinde gewidmeten Lebens darstellt. Indem sich nun die einzelnen Christen innerhalb der Gemeinde die Sündenvergebung oder Rechtfertigung, in welcher die göttliche Gnadenabsicht mit der Gemeinde als ein freies Urtheil enthalten ist, im Glauben aneignen, werden sie mit Gott versöhnt, d. h. sie verzichten auf den Widerspruch gegen ihn und eignen sich Gottes Endzweck an. Zugleich werden sie von ihm als Kinder adoptirt und zu dem völligen Vertrauen eines Kindes berechtigt. Diese Gnadenwirkungen Gottes erfahren nun die Christen als Antriebe zu den entsprechenden Selbstthätigkeiten in dem christlichen Leben, deren Uebereinstimmung mit dem Zwecke Gottes durch den in der Gemeinde wirkenden Geist, den heiligen Geist Gottes begründet wird und verbürgt ist. Und zwar ergibt sich einmal aus der Gotteskindschaft die Erfüllung der religiösen Aufgabe des Reiches Gottes in der Ausübung der christlichen Freiheit und der Herrschaft über die Welt, welche durch den Glauben an die väterliche Vorsehung Gottes, die Demuth, die Geduld und das Gebet erfolgt. Andererseits folgt die Nothwendigkeit des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft mit den Menschen für die Christen daraus, daß, indem sie durch die Versöhnung in die christliche Gemeine eingetreten sind, sie sich auch Gottes Endzweck als ihren eigenen angeeignet haben. Demgemäß halten sie sich für berufen, das Reich Gottes mit hervorzubringen, sofern es ihnen eine sittliche Aufgabe zur Erfüllung darbietet. Das darin bestehende gerechte Handeln hat sein allgemeines Gesetz und seinen persönlichen Beweggrund in der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten. Die Ausführung dieser allgemeinen Aufgabe findet für den Einzelnen aber ihr Gebiet in seinem besonderen Berufe, in welchem er ein in sich geschlossenes Lebenswerk als ein Ganzes in seiner Art zu leisten hat. Demnach besteht überhaupt die qualitativ zu beurtheilende christliche Vollkommenheit einmal in der Erzeugung des sittlichen Lebenswerkes, ferner in der Ausbildung des sittlichen und religiösen Charakters, welche gleichfalls in den besonderen [766] Lebensbedingungen zu bewähren ist, in die man hineingestellt ist. So stehen die beiden Seiten des Christenthums, der Glaube und die Liebe, welche sich nicht, eins auf das andere zurückführen lassen, in Wechselwirkung miteinander. Aus beiden entspringt die christliche Seligkeit, an der sich die Einheit dieser doppelten Lebensbestimmung bewährt, welche deshalb mit einer Ellipse und nicht mit einem Kreise vergleichbar ist.

Ritschl’s Theologie, deren Grundzüge in den letzten Ausführungen gegeben sind, nimmt die Aufmerksamkeit der Gegenwart wie keine andere in Anspruch. Das beweisen die zahllosen Anfeindungen, die sie und ihr Urheber im Lauf weniger Jahre von fast allen Seiten haben erfahren müssen, von den rohen Verdammungsgelüsten einer durch kirchliche Demagogie fanatisirten Masse von Geistlichen bis zu dem aufrichtigen Widerspruch ernster Männer, die nur nicht mehr den neuen Gesichtspunkten Ritschl’s zugänglich sind und daher seine Absichten nicht richtig zu würdigen vermögen. Dennoch haben alle Angriffe auf R. und seine Schule, welche besonders unter den akademischen Theologen verbreitet ist, nur dazu beitragen können den Einfluß der neuen Theologie zu steigern, welcher sich auch bei Ritschl’s Gegnern, soweit sie überhaupt wissenschaftliches Streben haben, in zunehmendem Maße zeigt.

R. war eine Gelehrtennatur und er beschränkte sich darauf Gelehrter und Lehrer zu sein. Dennoch hat er immer, wenn er einmal mit dem praktischen Leben in Berührung kam, energisch und entschieden einzugreifen gewußt. Im Jahre 1848 war er ein thätiges Mitglied und ein erfolgreicher Redner in dem constitutionellen Verein zu Bonn. Seit 1851 übte er auf einen Theil der rheinischen Geistlichkeit, mit deren vielen er eng befreundet gewesen ist, anregenden Einfluß durch lebhafte Theilnahme und häufige Vorträge bei ihren regelmäßigen Conferenzen. 1869 und 1874 war R. weltliches Mitglied der hannoverschen Landessynode, auf welcher er aber gegen die damaligen Majoritäten, deren angebliches Lutherthum er in einem Berichte an den Minister v. Mühler als verkapptes Welfenthum enthüllte, keine Geltung zu gewinnen vermochte. Dagegen hat er sich stets von der vulgären Kirchenpolitik fern gehalten, da er das kirchliche Parteitreiben als unsittlich verurtheilte. Einmal lehnte er eine Aufforderung, sich einer bestimmten Partei anzuschließen, mit der Begründung ab, daß er sich „die Fähigkeit bewahren müsse, in seiner Lehrthätigkeit über den Parteien zu stehen“. Diesem Grundsatz ist er treu geblieben, zum Aerger derjenigen, welche ihn keinem Parteischema einzufügen vermochten und sich dafür durch den Spott über die „Partei der vornehmen Wissenschaft“ schadlos hielten. Mit dem hannoverschen Kirchenregiment stand R. dauernd in dem besten Einvernehmen. Nachdem er 1874 den Titel Consistorialrath erhalten hatte, gehörte er seit 1878 dem Landesconsistorium zu Hannover als außerordentliches Mitglied an. – Um die Universität Göttingen hat sich R. nicht nur als einer ihrer ersten Lehrer, sondern auch durch seine Anhänglichkeit an sie und durch Arbeit in den verschiedensten Zweigen ihrer Verwaltung Verdienste erworben. Einen im Januar 1872 an ihn ergangenen Ruf nach Straßburg lehnte er ab. Desgleichen zog er seine Göttinger Thätigkeit der äußerlichen Vergrößerung seines Wirkungskreises vor, die ihm in den Jahren 1872–74 in vier auf einander folgenden Berufungen nach Berlin, wo er zugleich unter Herrmann in den Oberkirchenrath eintreten sollte, angeboten wurde. Am 19. November 1881 beim Jubiläum Eichhorn’s wurde R. von der Göttinger juristischen Facultät der Ehrendoctor verliehen, mit der Anerkennung: scribendo, docendo, munera gerendo juris et justitiae semper sacerdoti. 1876 und 1886 berief ihn das Vertrauen seiner Collegen als Prorector an die Spitze der Georgia Augusta. Die Festrede, die R. bei dieser Gegenheit hielt, hat damals großes Aufsehen und [767] in gewissen Kreisen wohl begreifliche Zornesausbrüche erregt. Im Gegensatz zu der ultramontanen Verläumdung der deutschen Reformation als der Quelle der revolutionären Erscheinungen in den letzten Jahrhunderten wies R. vielmehr die Abhängigkeit der Socialdemokratie und des specifischen Liberalismus von dem römischen Katholicismus und damit den inneren Grund für die im politischen Leben der Gegenwart hervortretende Wahlverwandtschaft dieser drei oppositionellen Richtungen nach. Veröffentlicht ist diese Rede zusammen mit zwei anderen, darunter der am 10. November 1883 gehaltenen Lutherrede („Drei akademische Reden“, 1887). Von den sonst noch nicht erwähnten zahlreichen kleineren Schriften und Aufsätzen Ritschl’s, welche er nicht nachträglich in seinen großen Werken reproducirt hat, sind besonders folgende von Wichtigkeit: „Ueber den gegenwärtigen Stand der Kritik der synoptischen Evangelien“ in Baur’s und Zeller’s Theol. Jahrb. 1851; „Ueber das Verhältniß des Bekenntnisses zur Kirche“, 1854; „Die Begründung des Kirchenrechts im evangelischen Begriff von der Kirche“, in der Zeitschr. für Kirchenrecht, 1869; „Ueber die Methode der älteren Dogmengeschichte“, in d. Jahrb. f. d. Theol., 1871; „Ueber die Entstehung der lutherischen Kirche“, in der Zeitschr. f. Kirchengeschichte, 1877 und 1878; „Ueber die beiden Principien des Protestantismus“, ebenda 1877. Ungedruckt ist noch die Schrift Ritschl’s über die Fides implicita, an welcher er in den letzten Jahren seines Lebens gern gearbeitet hat, und deren Vollendung seine letzte Krankheit zuvorgekommen ist. Seit dem Herbst 1888 zeigten sich Schwankungen in Ritschl’s sonst kräftiger Gesundheit. Es entwickelte sich daraus ein Herzleiden, dessen beängstigende Zustände er trotz seines lebhaften Temperamentes mit bewunderungswürdiger Geduld trug. Nach einigen Monaten führte es zu einem sanften Ende, nachdem ihm schon 20 Jahre vorher seine 1859 von ihm heimgeführte Gattin, Ida, geb. Rehbock, mit welcher er nicht ganz 10 Jahre in der glücklichsten Ehe verbunden gewesen ist, vorangegangen war. Er entschlief im Kreise der Seinen zu Göttingen am 20. März 1889.


[759] **) Zu Bd. XXVIII, S. 653. Kaum acht Tage, nachdem Ritschl die Revision der von ihm geschriebenen Biographie seines Vaters (Bd. XXVIII, S. 661 f.) gelesen hatte, nahm ihm selbst der Tod die Feder aus der Hand und wiederum setzt nun der Sohn dem Vater das biographische Denkmal.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Kultusminister Karl Lichtenberg (1816–1883)