ADB:Schwarz, Karl
[243] Urtheil eine hervorragende Stellung ein: er hat auf dem theoretischen Gebiete durch seine geistvolle Feder und auf dem praktisch-kirchlichen durch seine eminent praktische Begabung, zumal in der Kirchenleitung, auf viele Zeitgenossen anregend und innerhalb seines Amtsbezirkes auch gewiß auf nicht wenige geradezu bestimmend gewirkt. In der theologischen Wissenschaft zwar nicht ein Mann, der hätte Schule bilden können, weil ihm für Schulung der Geister die Meisterschaft der Methode fehlte, hat er sich als Schriftsteller durch scharfsinnige Untersuchungen über das Wesen der Religion und durch eine zwar einseitige und kecke, aber interessante und packende Kritik seiner theologischen Zeitgenossen einen solchen Namen erworben, daß man in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts den „Gothaer Schwarz“ überall kannte, wo theologische Streitfragen besprochen wurden. Als praktischer Geistlicher aber und als Leiter des Kirchenregiments zu Gotha schuf er hier in der Landeskirche diejenige geistige Atmosphäre, welche zu der freisinnigen Politik des Landes in harmonischem Verhältnisse stand.
Schwarz: Karl Heinrich Wilhelm S., gothaischer Theologe, † 1885. S. nimmt unter den „freisinnigen“ Theologen des 19. Jahrhunderts nach allgemeinemS. erblickte das Licht der Welt zu Wiek auf der Insel Rügen am 19. November 1812. Sein Vater war der dortige Pfarrer Theodor S., welcher außerhalb seines Berufes, als belletristischer Schriftsteller im Geiste der romantischen Schule, unter dem Pseudonym „Melas“ einen gewissen Ruf erlangte (s. u. S. 251). Nachdem der junge S. den ersten Unterricht durch Privatlehrer erhalten hatte, erhielt er seine Vorbildung zu Universitätsstudien auf dem Gymnasium zu Greifswald von 1826–30. Mit einem, seine geistige Selbständigkeit und Productivität rühmlich anerkennenden Zeugnisse wurde er hier zu Michaelis 1830 nach der Universität entlassen. Zum Beginn seiner Studien, welche er auf dem Gebiete der Theologie und Philologie machen wollte, wählte er Halle. Als er hier eintrat, war die Studentenschaft gerade durch die den rationalistischen Professoren Wegscheider und Gesenius von Seiten der „Evangelischen Kirchenzeitung“ widerfahrene Denunciation aufs heftigste erregt, und, wie das kaum anders zu erwarten war, erfuhr auch der junge S. an sich die Wirkung dieser Erregung. Er hat damals gegen Hengstenberg und die durch ihn vertretene theologische Richtung einen Widerwillen gefaßt, den er zeitlebens nicht aufgab. Nachdem S. in Halle vorzugsweise Gesenius, aber daneben auch den seit kurzem dort docirenden „pietistischen“ Tholuck gehört hatte, wandte er sich Michaelis 1831 nach Bonn, wohin ihn K. Immanuel Nitzsch und Bleek zogen. Doch fand er einen eigenen dogmatischen Standpunkt erst unter dem Einflusse Schleiermacher’s in Berlin. wohin er bereits Ostern 1832 übergesiedelt war, um dort den größten und abschließenden Theil seiner Studienzeit zuzubringen. In jenen Jahren, wo in der Theologie Schleiermacher, in der Philosophie Hegel die geistige Führung hatten, war die Universität Berlin der gegebene Sammelpunkt der wissenschaftlich strebenden Kreise Deutschlands. Aber während beide Meister auf Grund ihrer Principien unversöhnte Gegensätze bildeten, indem Schleiermacher mittels des unmittelbaren Gefühls, Hegel dagegen mittels des logischen Begriffes das göttliche Sein und Leben zu erfassen suchte: hat S. Einflüsse beider Männer auf sich wirken lassen. Die Gedankenwelt Schleiermacher’s übernahm er von dem Meister selbst, den er noch in dessen letzten zwei Jahren hörte, dem er auch persönlich nahe trat und von da an eine nie wankende Verehrung bezeugte (vgl. Karl Schwarz, Schleiermacher, seine Persönlichkeit und seine Theologie. Gotha 1861); in das Verständniß der Hegel’schen Weltanschauung aber führte ihn der theologische Professor Marheineke ein, welcher auf die systematische und historische Theologie die Methode und die Denkformen Hegel’s anwandte, um auf diesem Wege vor dem wissenschaftlichen Denken das Christenthum als die Wahrheit zu erweisen. Von August Neander, Vatke und Benary, welche S. in Berlin noch [244] außer den genannten Lehrern hörte, hat er keinen bestimmenden Einfluß erfahren. Nach Schleiermacher’s Tode verließ S. Berlin und bereitete sich im elterlichen Hause auf die theologische Candidatenprüfung vor. Er bestand dieselbe im J. 1836. Seine weiteren wissenschaftlichen Studien, welchen er sich von da an noch einige Jahre als Lernender hingab, wurden 1837 unterbrochen, indem er wegen seiner Betheiligung an den damals mit Strafe bedrohten burschenschaftlichen Bestrebungen sechs Monate Festungshaft in Wittenberg verbüßen mußte. Die Haft wurde ihm indeß hier dadurch angenehm gemildert, daß er das dort bestehende Predigerseminar besuchen durfte, welches damals unter Leitung von Heubner und Rothe stand. Die nächsten Jahre gehörten wissenschaftlichen Studien, die er theils in Berlin, theils in Halle zur Vorbereitung auf den akademischen Beruf anstellte. Im J. 1841 promovirte er zu Greifswald als Licentiat der Theologie und habilitirte sich 1842 bei der theologischen Facultät in Halle. In seinen Vorlesungen behandelte er hier aus dem systematischen Gebiete Dogmatik und Religionsphilosophie, aus dem historischen Dogmengeschichte und neuere Kirchengeschichte. Als begabter Docent fesselte er eine zahlreiche Zuhörerschaft an sein Katheder. Halle war damals der Mittelpunkt der junghegelschen Richtung, welche in den von Arnold Ruge und Echtermeyer 1838 begründeten „Hallischen Jahrbüchern“ ihr leitendes Organ hatte. Eine Zeit lang war S. ihr Mitarbeiter; als ihm aber Ruge’s Radicalismus zu weit ging, zog er sich von der Mitarbeiterschaft an den Jahrbüchern zurück. Dagegen bewies er dem eben aufkommenden Lichtfreundthum reges Interesse, war auf den für diese Bewegung Ausschlag gebenden Versammlungen derselben in Leipzig und Köthen gegenwärtig und betheiligte sich auch anderweitig an diesen Bestrebungen (vgl. Karl Schwarz und L. Hildenhagen, zwei Vorträge, gehalten am 6. August in einer Versammlung protestantischer Freunde zu Halle. Altenburg 1845). Auf Grund dieser seiner Haltung wurde über ihn von dem damaligen preußischen Cultusminister Eichhorn 1845 die Suspension verhängt; die Erlaubniß, Vorlesungen zu halten, sollte ihm so lange entzogen bleiben, bis er durch Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Werkes seinen theologischen Standpunkt näher bekundet habe. Diesem Anlaß entsprang seine Schrift über „Das Wesen der Religion“, welche er im J. 1847 veröffentlichte. Entsprechend seinem eigenen Entwicklungsgange nahm er zwar hier unter Anlehnung an Schleiermacher seinen Ausgangspunkt in der „religiösen Funktion“ des Menschen, in dem religiösen Selbstbewußtsein als dem Sichwissen in Gott, aber er definirte Religion (im Unterschiede von Schleiermacher) nicht als Gefühl, sondern als die ungebrochene Einheit von Wissen und Thun, welche selbst alle einzelnen Aeußerungen des religiösen Lebens hervorbringe und diese religiöse Function analysirte er ganz nach der Schablone der Hegel’schen Religionsphilosophie. In dem ersten Theile dieses seines Werkes gab er eine systematische Darstellung des Begriffes der Religion als des religiösen Lebens in der menschlichen Einzelperson und in der menschlichen Gemeinschaft und ging sodann zu der wissenschaftlichen Lehre von dem Objecte der Religion, von Gott, über. Hier suchte er das Christenthum als die absolute Religion zu erweisen. Dem systematischen Theile folgte ein historisch-kritischer, in welchem S. die Auffassungen der Religion seit Kant bis Feuerbach einer prüfenden Beurtheilung unterwarf.
Trotz der formalen Virtuosität, welche in dieser Schrift bezeugt war, erlangte ihr Verfasser seine Rehabilitirung doch erst unter dem Cultusminister v. Ladenberg 1848, worauf alsbald (1849) auch seine Ernennung zum außerordentlichen Professor der Theologie erfolgte. Inzwischen war S. auch politisch hervorgetreten, indem er sich 1848 von dem Wahlkreise Torgau-Liebenwerda hatte als Mitglied in die Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. wählen [245] lassen. Bei der Berathung der „Grundrechte“ trat S. dort zweimal als Redner für die Freiheit der Kirche auf, aber schon damals in der Weise, daß er die Kirche nicht aus ihren Beziehungen zum Staate losgelöst wissen wollte.
Die Jahre von 1849–56 gehören im Leben von S. der akademischen Thätigkeit und theologischen Schriftstellerei an. Im J. 1854 feierte er in seiner Schrift „Gotthold Ephraim Lessing als Theolog“ diesen als den einzigen unter allen Aufklärern, der die Vernunft wirklich zu Ehren gebracht habe, und als das leuchtende Vorbild des Rationalismus für alle Zeiten. Ungleich bedeutender war das schon bald darauf (1856) veröffentlichte Werk von S., welches seinen Namen weit über die Kreise der theologischen Fachgenossen hinaus bekannt gemacht und dem Verfasser die Berufung nach Gotha eingebracht hat, die Schrift „Zur Geschichte der neuesten Theologie“. Mehr im Stile und Tone des Essay’s, als mit der Sachlichkeit wissenschaftlicher Forschung geschrieben, erregte das Werk doch eine überraschende Aufmerksamkeit sowohl wegen der Neuheit der Auffassung dessen, was überhaupt „neueste Theologie“ sei, als wegen der Kunst der Charakteristik und der Schonungslosigkeit der Polemik. Je mehr sich darin seine Feder gerade gegen Zeitgenossen richtete, desto pikanter erschien vielen diese Lectüre. Ueberraschend war schon der Ausgangspunkt des Werkes; denn während wir, wie schon August Neander am Todestage Schleiermacher’s vorausgesagt hatte, die Geschichte der neuesten Theologie mit Schleiermacher’s Lebenswerke beginnen lassen, läßt S. sie mit dem Erscheinen des Lebens Jesu von D. F. Strauß (1835) erfolgreich anheben, unterzieht die theologischen Schriftsteller von da an bis zur Abfassung seines Werkes einer rücksichtslosen Kritik und endet mit der Zuversicht, daß in Kürze eine modernisirte rationale Theologie eine neue Entwickelung der Kirche herbeiführen werde. Das Buch erlebte mehrere Auflagen (4. Auflage 1869); wie stark es noch in der Gegenwart fortwirkt, erkennt man deutlich an der im J. 1890 erschienenen „Geschichte der deutschen Theologie“ von F. Nippold, welcher sich in seinen eigenen Urtheilen oft durch die von S. gefällten beeinflussen läßt (vgl. S. 345 daselbst). Dieses Werk von S. fand seinen Weg zu der Person des Herzogs Ernst II. von Coburg-Gotha und bestimmte diesen, noch im J. 1856 S. zu seinem Hofprediger zu berufen. Zwei Jahre darauf wurde S. Oberhofprediger und Mitglied der Ministerialabtheilung für das Kirchen- und Schulwesen und 1877 erhielt er dazu das Amt eines Generalsuperintendenten der gothaischen Landeskirche. Wie es seine amtliche Stellung mit sich brachte, war unmittelbar nach seinem Amtsantritt in Gotha die Kanzelthätigkeit seine wichtigste Arbeit, und, obgleich er nur in seiner Studenten- und Candidatenzeit gepredigt, seitdem aber 20 Jahre lang überhaupt keine Predigt gehalten hatte, arbeitete sich der 44jährige Mann doch zu einem in seinen Kreisen hoch angesehenen Kanzelredner durch; jene Einheit von Schleiermacher’scher Mystik und Hegel’schem speculativen Rationalismus, wie sie in dem „Wesen der Religion“ vorliegt, wirkte auf viele Hörer fesselnd, und in edler Sprache gehalten wie mit Ueberzeugung und Innigkeit vorgetragen, verfehlten seine Predigten ihre Wirkung nicht. Er hat freilich weder biblisch noch kirchlich-dogmatisch gepredigt, sondern nur seiner mystisch-rationalistischen Auffassung vom Christenthum beredten Ausdruck verliehen. (Vgl. sein Vorwort zu seiner 1859 erschienenen ersten Predigtsammlung; außer dieser liegen noch sieben andere Sammlungen von Predigten „Aus der Gegenwart“ von S. vor; die letzte enthält seine 1881 gehaltene Abschiedspredigt.)
Für die Handhabung des Religionsunterrichtes gab S. im J. 1868 einen „Leitfaden“ heraus (6. Aufl. 1886), welcher eine Popularisirung seiner eigenen Theologie enthält, allerdings keine volksthümliche. Trotz aller geistigen Erfolge erlebte S. im Gothaer Lande ein merkwürdiges Mißgeschick gerade auf dem Gebiete, [246] auf welchem er für seine Auffassung von der Kirche und ihrer Zukunft ein rechtlich gesichertes Fundament schaffen wollte, auf dem Gebiete der Kirchenverfassung. Ein von der Gothaer Oberkirchenbehörde im J. 1869 veröffentlichter Entwurf, welcher die Landeskirche auf dem Gemeindeprincip aufbaute und jede confessionelle Bestimmtheit ablehnte, wurde im J. 1874 zwar von einer Synode angenommen, aber von dem Landtage abgelehnt, weil in demselben eine Kirchensteuer gefordert war. Die Landboten sahen in dieser Forderung eine Beschränkung ihrer Freiheit. Dabei blieb es, solange S. lebte. Um so eifriger betheiligte sich S. an dem Kampfe gegen das Staatskirchenthum und gegen die kirchlichen Bekenntnißschriften außerhalb seines Amtsbezirkes, hauptsächlich auf den Versammlungen des deutschen Protestantenvereins und in dessen Organe, der protestantischen Kirchenzeitung. Auf der constituirenden Versammlung des Protestantenvereins zu Eisenach im J. 1865 hielt er einen grundlegenden Vortrag über „die protestantische Lehrfreiheit und ihre Grenzen“, in welchem er jede Bindung der Lehre durch kirchliche Bekenntnisse ablehnte, weil das Christenthum überhaupt nicht dogmatischer, sondern religiös sittlicher Art sei.
Nachdem der arbeitsfrohe Mann im J. 1881 seine Kanzelthätigkeit aufgegeben hatte, brach ein Siechthum über ihn herein, dem er nach jahrelangen schweren, aber in frommer Ergebung getragenen Leiden erlag. Er war von gangraena senilis befallen worden, sodaß ihm im Sommer 1882 der rechte Unterschenkel amputirt werden mußte; doch kehrte dieses schlimme Leiden im Herbste 1884 verstärkt wieder und führte am 25. März 1885 seinen Tod herbei. Um auch nach seinem Tode noch den Beweis zu liefern, daß er durch keinerlei kirchliche Sitte sich in seiner Weltanschauung eingeschränkt gewußt, hatte der Oberhirte der Gothaer Landeskirche bei Lebzeiten bestimmt, daß sein Leichnam - durch Feuer bestattet werde, was auch zu Gotha geschehen ist.
Eine vortreffliche Skizze seines Lebens, der ich in vorstehendem Artikel in der Erzählung der Thatsachen gefolgt bin, hat Superintendent Rudloff (Wangenheim, Herzogthum Gotha) in dem 18. Bande der Real-Encyklopädie für prot. Theol. und Kirche, 2. Aufl. von Herzog, Plitt und Hauck (Leipzig 1888), S. 263–270 gegeben. – „Die Bedeutung der Schrift von Karl Schwarz über das Wesen der Religion für die Zeit ihrer Entstehung und für die Gegenwart“ hat unter diesem Titel Lic. theol. F. Hummel in einer von der Jenaer theologischen Facultät gekrönten Preisschrift (Braunschweig, Schwetschke und Sohn, 1890) vom dogmatischen Standpunkte seines Lehrers R. Lipsius aus eingehend gewürdigt. – Eine Untersuchung über die Schwarz’sche Denkweise findet sich auch bei Pünjer, Geschichte der christlichen Religionsphilosophie II, 297 ff. – Zu Schwarz’ Hallescher Wirksamkeit ist zu vergleichen Leopold Witte, Das Leben Tholucks 1884 ff. – Zu Schwarz’ Stellung in der Geschichte der Theologie überhaupt vgl. Friedrich Nippold, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte. III. Bd., 1. Abtheilung (Geschichte der deutschen Theologie) 1890, S. 344, 345.