ADB:Bülow, Dietrich Heinrich Freiherr von
Graf B. v. Dennewitz war sein älterer Bruder. Dietrich (denn so, nicht Heinrich wurde er genannt) kam als Knabe auf die Berliner Militärschule und trat im 15. Jahre in ein Infanterie-Regiment, das er später mit einem Cavallerie-Regiment vertauschte. Der Friedensdienst sagte ihm nicht zu; er bekennt in einem seiner Werke, nie einen Stall betreten zu haben. Dafür studirte er Rousseau, Folard und Polybius. 1790 nahm er den Abschied und ging nach Belgien, um im österreichischen Heere eine Verwendung zu finden. – Als er dort keine Gelegenheit, sich auszuzeichnen, gefunden, kehrte er nach Preußen zurück, suchte eine Schauspielergesellschaft zu engagiren, konnte aber vom Magistrate in Tangermünde nicht die Genehmigung, zu spielen, erhalten, verkaufte alle schon angeschafften Decorationen und Costüme und ging 1792 nach Amerika. Damals und bei seinem Aufenthalte in Amerika soll er sich Swedenborg’s Lehre zugeneigt und mehrmals in Conventikeln gepredigt haben. Nach Preußen zurückgekehrt, wußte er einen seiner Brüder zu einer Speculation in Glaswaaren zu bereden. Sie steckten ihr geringes gemeinsames Vermögen in eine Schiffsladung von Glaswaaren, gingen damit 1795 nach Amerika, gaben dort viel Credit und erhielten nichts bezahlt, so daß sie ihr Vermögen verloren. Wieder in Berlin, schrieb B. sein Hauptwerk: „Geist des neueren Kriegssystems“, von dem er eine Anstellung im Quartiermeisterstabe hoffte. Da seine Erwartung ihn getäuscht, schrieb er um Geld zu verdienen, übersetzte Mungo Park’s Reisen, ging nach London um ein Journal zu schreiben, fand keine Abnehmer, wurde in Schuldhaft genommen, ging – endlich daraus erlöst – nach Paris, wo er Agent der deutschen Reichsritterschaft gewesen sein soll. – 1805 schrieb er in Berlin in rascher Folge, außer Flugschriften und vielen Artikeln in Zeitschriften: „Die Lehrsätze des neueren Krieges“, „Geschichte des Feldzuges von 1800“, „Neue Taktik der Neueren“, „Kritische Geschichte der Feldzüge des Prinzen Heinrich“, „Die Blicke auf zukünftige Begebenheiten“, und dann „Der Feldzug von 1805“. – Bis auf diese letztere Schrift reproduciren alle anderen nur die Gedanken des Erstlingswerkes: „Geist des neuen Kriegssystems“. Von ernstem Studium, von gewissenhafter Forschung, konnte bei Bülow’s rastlos umgetriebenem Leben, bei seiner Vielschreiberei, keine Rede sein. Aber er war ein klarer, geistreicher, selbständig denkender Mann, und so enthält sein Hauptwerk viele Gedanken, die von großem Einfluß auf die Litteratur und auf die Entwicklung der Kriegswissenschaft gewesen sind. – B. erkannte schon in den 90er Jahren, daß Friedrich’s des Großen Heeresorganisation, Ausbildung, Kriegführung, – daß namentlich seine Angriffsmethode auf die Schwächen der Gegner berechnet war, daß man ihr aber nicht, wie im preußischen Heere geschah, eine unbedingte Gültigkeit zuschreiben, sie etwa für ein Arcanum des Sieges ansehen dürfe. Dem neuen Heere, das die Revolution und dann Napoleon ins Feld führten, müsse man, bei der völligen Aenderung aller Gefechtsverhältnisse, ein anderes Heer, eine ganz neue Taktik entgegenstellen. – So sagte B. schon 1805: „Disciplin, Taktik, Muth sind nur mitwirkende Potenzen, die Masse, die Quantität der Streiter entscheidet. Die [516] Schlachten der Zukunft werden durch Tirailleurfeuer entschieden werden“, und an anderer Stelle: „Ein von tiraillirender Infanterie umgebenes Quarré gehört unter die bedauerungswerthesten Objecte.“ So zeigt er allerdings größere Einsicht in die veränderte Natur des Krieges, als die damaligen Führer des preußischen Heeres, und seinem Selbstgefühl fehlte nicht alle Begründung. – Wenn B. hier vielen Schriftstellern und Führern des Heeres überlegen erscheint, so beruht sein System doch auf derselben engen, die Mathematik überschätzenden Anschauungsweise, die damals geltend war. B. will alle Operationen auf ein Princip, das der Basirung aller Unternehmungen zurückführen, dem in der Taktik der excentrische (zersplitterte) Rückzug, der umfassende Angriff entspricht. Der Gegenstand, auf den eine Armee losmarschirt, ist das Object; die rückwärts gelegenen Punkte – Magazine, Festungen – sind die Subjecte, die Marsch- und Verpflegungswege die Operationslinien. Die die Subjecte verbindende Linie ist die Basis. Diese Basis und die beiden äußersten Operationslinien bilden einen Triangel, dessen der Basis gegenüberliegender Winkel wenigstens 90 Grad groß sein muß; dann ist die Unternehmung ausreichend basirt. – Was an dieser Behauptung wahr ist, das war schon Gustav Adolf so gut bekannt, als Cäsar und Alexander, die sich der Gefahr wohl bewußt waren, sich weit von ihrem Vaterlande mit wenigen ungenügenden Verpflegungs- und Rückzugslinien zu entfernen. Das Neue ist nur die scheinbar wissenschaftliche Form, zu der eine allbekannte Wahrheit zugespitzt ist. Aber grade durch sie hat er großen Einfluß gewonnen; der unglückliche Versuch, das ewig wechselnde Spiel der Leidenschaften und Interessen, die im Kriege miteinander kämpfen, geometrisch anschauen zu wollen, ein Heer durch ein Oblongum, Chausseen oder Lehmwege bei Regenwetter oder Gebirgspfade durch gerade Linien darzustellen, – das fand weite Verbreitung, die Systeme von Pfull, Jomini, Willisen und Anderen sind durch B. angeregt und seine Terminologie ist der Litteratur geblieben. Auch die Worte Taktik und Strategie, deren Definitionen eine Art Steckenpferd der Kriegsgelehrten geworden, hatten vor ihm noch keine conventionelle Bedeutung. – Das ganze System bezieht sich durchaus auf das Verpflegungswesen des siebenjährigen Krieges und hatte für die Napoleonische Kriegführung alle Wahrheit verloren. Bülow’s Werk machte bei seinem Erscheinen großes Aufsehen und wurde ebenso lebhaft bekämpft, als es von Anderen als neue Enthüllung strategischer Geheimnisse angesehen wurde. Die eingehendste Kritik erfuhr es in der von Rühle v. Lilienstern redigirten „Pallas“ in dem Aufsatze: „Ueber Geltung und Bedeutung des Begriffs Operationsbasis.“ Der Feldzug von 1805 ist, wie alles aus seiner Feder, geistreich und witzig, die Darstellung der Begebenheiten klar und das Urtheil scharf und treffend, aber Bülow’ts maßlose Eitelkeit, die jeder seiner Mißerfolge steigerte, seine Sucht piquant zu schreiben, um zahlreiche Leser zu finden, seine höhnende Bitterkeit, – lassen das Buch als Pamphlet erscheinen. Jede Spur von Patriotismus hatte er längst verloren; er war ein Lobredner von Haugwitz, empfahl die französische Alliance, hoffte eine Napoleonische Universalmonarchie, die durch Adoption erhalten würde, da Gott „die Franzosen zur Herrschaft bestimmt habe, weil sie durch Ehre und Decenz die allgemeine Corruption mildern“. Auf Reclamation des russischen Gesandten wurde B. verhaftet, um von den Aerzten untersucht und eventuell als wahnsinnig in die Charité befördert zu werden. Sie erklärten ihn für völlig bei Verstande und er wurde nur nach Colberg gebracht. Als er die Nachricht von der Schlacht bei Jena erhielt, sagte er: „Das kommt davon, wenn man die Generale einsperrt und unfähige Menschen commandiren läßt.“ In Colberg saß er in enger Haft, die Gneisenau später milderte. Dann wurde er zu Schiff nach Riga transportirt und ist dort, in Folge einer Erkältung auf der Reise, 1808 gestorben, oder [517] an erhaltenen Wunden, nachdem er in Folge einer Schlägerei ins Gefängniß geworfen worden war. B. war ein langer, hagerer Mensch, sehr cholerisch, mit scharfen, stechenden Augen, die über eine lange Habichtsnase hinwegsahen. Er war voller Geist und Witz, hatte ausgebreitete, freilich ungeordnete Kenntnisse, aber seine großen Talente gingen in dem wilden zügellosen Leben und der steten Sorge um den täglichen Erwerb zu Grunde. Niemand, schrieb Behrenhorst, als er die Nachricht von Bülow’s elendem Lebensende erfahren, der nicht in ähnlicher Lage gesteckt, weiß, wie tief sie auch das edelste Gemüth in den Koth zu drücken vermögend ist.
Bülow: Dietrich Heinrich Frhr. v. B., geb. 1757 in Falkenberg in der Altmark, dem Gute seines Vaters; der Feldmarschall- v. Bülow, Familienbuch. – Varnhagen v. Ense, Leben des Gen. Graf v. Bülow-Dennewitz. – Ed. v. Bülow, Aus dem Leben Dietrich’s v. Bülow.