ADB:Baum, Wilhelm (evangelischer Theologe)
[248] phantasiereiche Frau geschildert. Nach mangelhafter Vorbereitung in der Schule eines französischen Invaliden kam er in seinem 13. Lebensjahre in das Haus seines Oheims Hessel, eines eigenthümlichen, originellen Mannes, der das Amt eines Gefängnißpredigers in Straßburg verwaltete. Als Schüler des protestantischen Gymnasiums wußte er die lückenhafte Vorbildung durch großen Fleiß zu ergänzen und seine hervorragende Begabung in allen Schulfächern (mit Ausnahme der Mathematik) zur Entfaltung zu bringen. Die Jahre seines Studiums der Philologie und Theologie am protestantischen Seminar und an der theologischen Facultät in Straßburg (1828–1833) schloß er mit einer Preisschrift „Der Methodismus“ ab, die 1838 im Druck erschien. Im J. 1834 übernahm er das Amt eines Unterpädagogen am Stift St. Wilhelm zu Straßburg, einem in der Reformationszeit begründeten Convicte für Theologiestudirende; 1836 wurde er zum Pädagogen und Director an derselben Anstalt ernannt. Bis 1844, da er, belästigt durch die ökonomische Seite seines Amtes, die Stellung aufgab, wirkte er an den seiner Leitung untergebenen Jünglingen mit einer Hingebung und opferfreudigen Treue, die noch an seinem Grabe dankbarste Anerkennung fand. Mittlerweile hatte B. mit einer Dissertation: „Origines Evangelii in Gallia restaurati“ sich 1839 habilitirt; von 1840–1860 bekleidete er am protestantischen Seminar die Stelle eines unbesoldeten außerordentlichen Professors, was ihn jedoch nicht hinderte, 1841 den Ruf auf den Lehrstuhl der Geschichte in Bern, einen zweimaligen Ruf an ein lutherisches Pfarramt in Paris, 1860 und 1863 einen zweimaligen ehrenvollen Ruf nach Hamburg auszuschlagen. Oefter schon hatte B. seine hohe Kanzelbegabung durch Predigten zu erkennen gegeben; sie trug ihm 1844 ein Vicariat, 1847 ein Pfarramt an der Thomaskirche ein. Um für seine wissenschaftliche amtliche Thätigkeit am Seminar Muße zu gewinnen, überließ er freilich die Seelsorge seinen Collegen, indem er sich auf die Predigt und den Jugendgottesdienst beschränkte. Erst 1860 wurde er zum Ordinarius für alte Sprachen und Litteratur am Seminar befördert, 1864 zum Ordinarius für Homiletik, bis er 1872 das Amt eines Professors für praktische Theologie an der neugegründeten Universität erhielt. Obgleich seine litterarischen Arbeiten fast ausschließlich dem Gebiete der Kirchengeschichte, vorzugsweise im Reformationszeitalter, angehören, ließ B. sich doch die Pflege der praktischen Theologie und des kirchlichen Lebens mit großem Erfolge angelegen sein. Im Vorstande der elsässischen Pastoralconferenz, im siebenjährigen Präsidium des evangelisch-protestantischen Vereins (1867–1874) bot sich ihm dazu reichlich Gelegenheit. Allem Radicalismus auf kirchlichem und politisch-socialem Gebiete abhold, war B. der Vorkämpfer eines gemäßigt freisinnigen Protestantismus; in Fragen der Kirchenverfassung, der Liturgie, des Katechismus, des Gesangbuches erhob er seine Stimme, dem Versuch der confessionellen Richtung, im Elsaß den Symbolzwang einzuführen, wußte er mit Erfolg entgegenzutreten, und schon 1852 veröffentlichte er mit seinem Freunde Prof. D. Cunitz unter dem Titel „Gravamina“ einen Protest gegen die von der Regierung octroyirte Kirchenverfassung, um dem Elsaß kirchliche Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Für deutsche Sprache und deutsches kirchliches Leben trat B. stets mit seiner ganzen Persönlichkeit ein; er brandmarkte mit flammendem Wort den frevelhaften Leichtsinn, der den Krieg von 1870/71 heraufbeschwor, er begrüßte die Annexion von Elsaß-Lothringen an das deutsche Reich und wußte die nur noch kurz bemessene Zeit seines Wirkens auszukaufen, um für deutsche Art und deutsches Volksthum zu arbeiten, obgleich er keineswegs mit allen Maßnahmen, besonders zur Zeit der Gefährdung der Autonomie der elsässischen protestantischen Kirche (1871), einverstanden war.
Baum: Johann Wilhelm B., Professor der praktischen Theologie und Kirchenhistoriker zu Straßburg, ist geboren am 7. December 1809 zu Flonheim in der hessischen Pfalz, damals Departement Mont-Tonnère, † am 29. October 1878 in Straßburg i. E. B. entstammte den ärmlichen Verhältnissen einer kinderreichen Müllersfamilie; sein Vater Johann Philipp wird als ein ernster, stiller Mann, seine Mutter, Sibylla Elisabeth geb. Hessel, als lebhafte undAls Prediger wird ihm eine volksthümliche, kernhafte Beredsamkeit nachgerühmt, [249] die von einer machtvollen Gestalt und einer wohllautenden kräftigen Stimme unterstützt wurde; im Druck sind nur einige Gedächtnißreden erschienen. Als Kirchenhistoriker hat er sich besonders durch seine Biographien des Franz Lambert von Avignon, Theodor Beza und – sein Hauptwerk – Capito und Butzer, sowie seit 1860 durch seine werthvolle Mitarbeit am Corpus Reformatorum einen hochgeachteten Namen erworben. Die Straßburger Landes- und Universitätsbibliothek besitzt von ihm eine unschätzbare Sammlung von seiner Hand sorgfältig collationirter reformationsgeschichtlicher Documente, mehr als 3000 Stück, die in dreißig starken Quartbänden unter dem Titel Thesaurus epistolicus reformatorum alsaticorum zugleich mit seiner an Originaldrucken und seltenen reformationsgeschichtlichen Werken reichen Bibliothek dort Aufstellung gefunden hat.
Auf Grund eines lebensfrischen, gesunden Naturells, das aufwallendes Temperament, urwüchsigen Humor und zart besaitetes Gemüthsleben verband, erhob sich ein vertrauenerweckender, mannhafter Charakter mit kräftigem Zug zu treuer Freundschaft und zu einem unverwüstlichen, auf kindlichem Gottvertrauen ruhenden Optimismus, der in seinem oft wiederholten Wort sich Ausdruck gab: „An Gott und der Menschheit zweifeln ist ein doppeltes Majestätsverbrechen“.
Als im Herbst 1873 ihm der Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der theologischen Facultät zu Straßburg übergeben werden sollte, wurde B. auf einer Schweizerreise von einem Schlaganfall betroffen; ein fünfjähriges unaufhaltsames Absterben seiner leiblichen und geistigen Kräfte war die Folge, bis der Tod am 29. October 1878 seinem trauervollen irdischen Dasein ein Ende machte.
Die von ihm veröffentlichten Schriften sind: „Diss. Sophr. Eusebii Hieronymi vitam exhibens“ (1835); „Der Methodismus“ (1838); „Origines Evangelii in Gallia restaurati“ (1839); „Franz Lambert von Avignon“ (1840); „Winke über religiöse Geschichtsauffassung. Eine Rede an Studirende“ (1840); „Theodor Beza, nach handschriftlichen Quellen dargestellt“ (1843; Fortsetzung 1851 u. 1852, jedoch unvollendet); „Herrn Dr. M. Luthers Jugend und Mönchsthum“ (Gedicht, 1843); „Reden bei der Beerdigung von A. Herrenschneider. Worte am Grabe“ (1843); „Die Memoiren d’Aubignés, des Hugenotten von altem Schrot und Korn“ (1844); „Reden bei der Beerdigung von S. H. Boeckel. Worte am Grabe“ (1845); „Johann Georg Stuber, der Vorgänger Oberlins im Steinthale und Vorkämpfer einer neuen Zeit in Straßburg“ (1846); „Reden bei der Beerdigung von J. Müller, Pfarrer an St. Thomae. Altargebet“ (1847); „Gravamina“ (mit Prof. D. Cunitz, 1852); „Der Religionsunterricht bis zur Konfirmation“ (1854); „Le principe de légalité et la conscience confessionnelle de certains pasteurs soi-disant lutheriens“ (1857) „La manière et fasson quon tient en lieux que Dieu de sa grace a visites“. Première liturgie des églises réformées de France de l’an 1533“ (1859); „Capito und Butzer, Straßburgs Reformatoren“ (Leben und ausgewählte Schriften der Väter und Begründer der reformirten Kirche, Band III, 1860); „Les Eglises reformées de France sous la croix“ (1869); „Jakob Sturm von Sturmeck, Straßburgs großer Stettmeister und Scholarch“ (1870); „Les Mémoires de Pierre Carrière dit Corteis“ (1871); „Le Procés de Baudichon de la Maison-Neuve“ 1873).
- Zur Erinnerung an Johann Wilhelm Baum. Reden, gehalten bei seiner Leichenfeier am 1. Novbr. 1878. – M. Baum, J. W. Baum, ein protestantisches Charakterbild aus dem Elsaß. Bremen 1880. – D. A. Erichson, Art. Johann Wilhelm Baum, in Realencyklopädie f. prot. Theol. u. Kirche. 3. Aufl., Bd. 2 (1897).