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ADB:Castellio, Sebastian

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Artikel „Castellio, Sebastian“ von Jacob Achilles Mähly in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 64–67, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Castellio,_Sebastian&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 03:57 Uhr UTC)
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Castellio: Sebastian C., auch Castalio – beide Formen hat nach damaliger latinisirender Sitte der Träger des Namens seinem eigentlichen Namen Chastillon gegeben –, ein als Philologe wie als Theologe bekannter Gelehrter, wurde im J. 1515 in dem savoyischen Dorfe Saint-Martin du Frèsne von armen Eltern geboren. Von seiner Jugend verlautet überaus wenig, als daß er frühe schon genöthigt war, sich auf eigene Füße zu stellen und in Lyon, später in Straßburg durch Unterrichtertheilen sich die Mittel zu seinen, freilich bloß autodidaktischen, Studien zu verschaffen. In der zuletzt genannten Stadt machte er zuerst die später für ihn so verhängnißvolle Bekanntschaft mit Calvin. Durch Calvin’s Vermittlung nach Genf berufen (1541?) wirkte er hier als sogenannter Régent (Rector) einer Schule, mit der Verpflichtung, zeitweise zu predigen. Aber theologische Differenzen mit Calvin, z. B. über das hohe Lied Salomonis, die Höllenfahrt Christi u. a., wobei C. stets die liberale, dem Buchstaben des Dogma feindliche Richtung vertritt, auch sein ascetisch gefärbtes Auftreten gegen das allzuweltliche Leben der Geistlichkeit machten ihm einen längeren Aufenthalt in der Stadt Calvins unmöglich, um so mehr, als die Behörden stets dem letzteren Recht gaben und den C. zuletzt aus dem Ministerium (aber nicht, wie behauptet wird, aus seinem eigentlichen Amte) entließen. Das von der Geistlichkeit Genfs ihm ausgestellte, von Calvin eigenhändig unterzeichnete Zeugniß lautet überaus ehrenvoll, und wer die Acten über diese Fragen vorurtheilsfrei prüft, gelangt zu der Ueberzeugung, daß C. in seiner Opposition höchstens des richtigen Taktes ermangelte, während Calvin selber von einem Hauch litterarischen Neides (als Concurrent einer französischen Bibelübersetzung), vollends aber dessen Freunde, wie Beza, von parteiischer Leidenschaftlichkeit kaum freizusprechen sind.

Von Genf wandte sich C. (1544 oder 1545) nach dem durch eine gewisse Toleranz in religiösen Dingen vor anderen Schweizerstädten bemerkbaren Basel, wo er vorerst ganz auf seine Privatthätigkeit angewiesen war. Seine Familie wuchs allmählich bis auf acht Kinder, durchaus im Mißverhältniß zu seinen Einnahmen, und es ist kein Wunder, wenn sein ganzes Leben einen traurigen Beitrag liefert zu dem „Tractatus de infelicitate litteratorum“. Das Ringen mit den allernothwendigsten Bedürfnissen machte den Gelehrten, dessen rüstige Feder zur Bestreitung derselben nicht hinreichte, zum Fischer, zum Gärtner, ja zum Holzflößer. Auf einem Kahn fischte er in dem hinter seiner Wohnung vorbeifließenden Rhein, wenn dieser angeschwollen war, das heruntergeschwemmte Holz mit eisernen Haken auf, um Küche und Ofen versehen zu können. Seine Gegner in Genf haben ihm aus dieser durchaus erlaubten, freilich nur von den Aermsten angewandten Procedur das Verbrechen des gemeinsten Diebstahls zusammengedrechselt! Unter allen den zahllosen Anklagen und Verdächtigungen [65] derselben ist dieses die gehässigste. Im J. 1552 endlich erhielt C. die Professur der griechischen Sprache an der Universität Basel, aber dieses Lehramt füllte nur zum kleineren Theile sein Leben aus: die Uneinigkeit zwischen ihm und Calvin, welche nun allerdings die Oberfläche des kirchlichen Dogmas verlassen und sich zu eigentlichen Lebensfragen vertieft hatte, war zu einem Grade der Leidenschaft (wenn auch nicht seinerseits) gediehen, daß seine ganze Manneskraft zum Widerstand nöthig war. C. hatte das Unglück, im Haupt- und Angelpunkte der calvinistischen Lehre, der Prädestinationslehre, verschiedener Ansicht zu sein, er hatte ferner in Bezug auf Ketzergerichte und Toleranz seine ganz eigene, d. h. von der Genfertheorie weit abliegende, humanere, und dem Geist unseres Jahrhunderts entsprechendere Idee, er nahm sich des von den Genfern verfolgten Hieron. Bolsec an, tadelte scharf und feurig die an dem unglücklichen Servet vollzogene Todesstrafe, als beklagenswerthe Folge religiösen Wahnes – und das hätte genügt, ihn für immer mit den Genfern zu entzweien; aber er schrieb sogar, veranlaßt durch den Feuertod des Servet, einen pseudonymen Tractat (gewöhnlich kurzweg „Martinus Bellinus“ oder auch „De non puniendis haereticis“ betitelt), wodurch er die Genfer ins Herz traf. Daß Castellio’s Feder, wenn auch noch andere Mitarbeiter sich daran betheiligten, die Hauptsache an dieser Streitschrift that, unterliegt keinem Zweifel. Die unparteiische menschliche Beurtheilung muß das darin niedergelegte Streben für durchaus gerechtfertigt, ja für edel halten und jenen Streitern im Namen der Menschheit heute noch danken. An Schmähschriften, oft der empörendsten Art, gegen C. fehlte es natürlich nicht; und selbst der Biograph Beza’s muß es gerade heraus sagen, daß dieser Gottesmann durch seine Polemik gegen C. sein Leben befleckt habe. Aber an der bloßen litterarischen Polemik genügte es den Gegnern nicht, sie suchten einen ähnlichen Abschluß wie bei Servet: es wurde eine Klageschrift (aus einem Buche Beza’s) zusammengeschrieben und dem Rathe zu Basel eingereicht. C. hatte sich gegen dieselbe auf Leben und Tod zu vertheidigen, denn allem Anschein nach lautete der Antrag auf Todesstrafe! Da machte Castellio’s am 29. Dec. 1563 „durch angestrengte Arbeiten, Nachtwachen und Sorgen“ herbeigeführter Tod dem Proceß ein unerwartetes Ende. Sein Arzt, der bekannte Th. Zwinger, drückt dies also aus: „Durch Gottes Güte wurde er dem Rachen seiner Feinde entrissen.“

Nach dem brieflichen, nicht für die Oeffentlichkeit bestimmten, darum um so glaubwürdigeren Urtheil eines unparteiischen Zeitgenossen war „Castellio’s Lebenswandel tadellos; seine Gewissenhaftigkeit und Geschicklichkeit als Lehrer des Griechischen vorzüglich“. Rühmt doch selbst einer seiner wissenschaftlichen Gegner, der eifrige Verfechter der Prädestination, Polanus, sein „heiliges Leben und musterhaften Wandel“. Als Theologe setzte C. mit einer seiner Zeit weit vorauseilenden Entschiedenheit das innerste Wesen des Christenthums nicht in den Glauben, sondern in die Liebe, caritas. Sie ist ihm, neben dem Geiste Christi, die einzige Führerin durch das Labyrinth der streitenden Ansichten in Religionssachen. Wie ein Pendelschlag erhält diese Liebe seinen Geist in steter Bewegung und gibt ihm zu unablässigem Wirken Anstoß, wir hören durch alle seine Arbeiten und Lebensziele hindurch ihren wohlthuenden Hall. An theologischer Selbständigkeit war C. jedem andern ebenbürtig, den meisten überlegen. Autoritäten galten ihm weniger als auf gewissenhaftes Forschen gegründete Ueberzeugung. „Nicht wer spricht, sondern was gesprochen wird, muß beachtet werden,“ war sein leitender Grundsatz, dessen kühner Freisinn seine Gegner mit Ingrimm erfüllte. Zwischen dieser freien Anschauung und dem Hang zur Mystik, den wir besonders in seinen späteren Schriften bei ihm wahrnehmen, ist durchaus keine unvermittelte Kluft. Gerade, weil sein schlichter, redlicher Verstand das einzelne starre Dogma nicht [66] zu fassen vermochte und ihm sagte, es sei weder nothwendig, daß, noch irgend erheblich, wie er es fasse, ließ er den übrigen Inhalt der Religion, den ganzen Strom der ihm im Gefühl und in der Ahnung lebenden Momente und Ideen mächtig auf sein Gemüth einwirken. Aus jener caritas, jener allgemeinen Liebe, schöpfte C. auch das Motiv zu seinen Angriffen auf Calvin’s düstere Lehren von der Prädestination, vom freien (vielmehr unfreien) Willen und auf dessen Vorgehen gegen Andersgläubige. Dem ganzen Charakter von Castellio’s theologischer Richtung ist es auch gemäß, wenn er der Ansicht widerstrebt, die wiederum Calvin auf das eifrigste verfocht, daß der sogenannte natürliche Mensch eine durch und durch sündhafte thierähnliche und nicht einmal des Versuchs zum Guten fähige Creatur sei. Die „Sprache des heiligen Geistes“ geht ihm über die Sprache der Bibel, welche letztere überhaupt nur die „Milch“ enthält, womit die Unmündigen getränkt werden. Der „Gekreuzigte“ ist ihm nicht der ganze Inhalt der Christenlehre, sondern er gehört zu den Rudimenten derselben, welche allem Volke mitgetheilt werden; die Eingeweihten, Vollkommenen (zu welchen er sich selber übrigens nicht zählt) wissen noch viel mehr. Der Apostel Paulus war ein solcher.

Zu den Eigenheiten Castellio’s gehörte seine Sympathie mit der Secte der Wiedertäufer. Er hat sich zwar nie, weder öffentlich, noch im geheimen, zu derselben bekannt, und was seine Feinde darüber fabelten, ist Verläumdung; wol aber stimmte C. mit den Wiedertäufern in der Ansicht überein, daß „die Taufe erst dann stattfinden sollte, wenn der Täufling über seinen Glauben Rechenschaft zu geben vermöge“.

Seine Hauptleistung auf theologischem Gebiete sind die beiden Bibelübersetzungen, die lateinische (1551, Basel bei Oporin) und die französische (1555, Basel bei Herwagen), beide mit Anmerkungen, die letztere, mit Vorrede und Dedication „à très-preux et très-victorieux prince Henri de Valois, second de ce nom, par la grâce de Dieu Roy de France“ äußerst selten. Ein Hauptzweck der ersten, lateinischen, ist, wie schon der Titel besagt, Reinheit und Klarheit des lateinischen Ausdrucks zu fördern. Wenn, wie Calvin und seine Anhänger behaupteten, der böse Geist den C. antrieb zur Bibelübersetzung, so war jener doch wenigstens so gutmüthig, ihn nicht mit Goldesglanz zu blenden, denn die fünf Arbeitsjahre, welche der Uebersetzer auf sein Werk verwendete, wurden ihm mit 70 Reichsthalern honorirt! Für die französische Uebersetzung dagegen erhielt er wöchentlich, bei einem Termin, der vertragsmäßig auf ein Maximum von zwei Jahren gesetzt war, einen Basler Gulden! Was den litterarischen Werth betrifft, so bemißt sich dieser nach Castellio’s Grundsatz, ein formelles Kunstwerk hinzustellen, welches dem lateinischen Idiom durchaus keinen Zwang anthue. Klarheit war sein erster Zweck, und diesem opferte er ohne Bedenken die Eigenthümlichkeit des hebräischen oder hebräisch-griechischen Ausdrucks – Grund genug für die Genfer, um auch hieraus Pfeile gegen ihn zu schmieden und ihn der Ketzerei zu beschuldigen. Wenn er z. B. den gut classischen Ausdruck lotio statt des kirchenlateinischen baptismus gebraucht, so ist Beza gleich bei der Hand, die Wahl des Ausdrucks daher zu erklären, daß dem C. die Taufe nicht höher gestanden habe, als jede gewöhnliche Waschung! – Bei der französischen Uebersetzung hatte C. besonders Laien im Auge, daher die große, oft gesuchte und daher übergroße Volksthümlichkeit des Ausdrucks, die ihn sogar zur Erfindung neuer Worte veranlaßte.

Vorläufer und Begleiter dieser Bibelübersetzung waren eine Anzahl kleinerer, theilweise auch zu pädagogischen Zwecken verfaßter Schriften, so die „Dialogi sacri“, a. 1542, 1543, 1545 u. ö., „Mosis institutio Reipublicae graeco-latina“, Bas. 1546, „Moses latinus“, Bas. 1546, „Psalterium reliquaque [67] sacr. litter. carmina“, Bas. 1547, „Libr. Jobi interpr. Seb. Castal. Tremov.“ (??). Zur Rechtfertigung seiner Uebersetzung sah er sich zur Abfassung eines eigenen Schriftchens veranlaßt: „Seb. Castal. defensio suar. translat. bibliorum“ („Scribebam partim 1557, partim 1561“). Als theologische Streitschrift aus der Feder Castellio’s ist besonders bemerkbar der schon genannte (auch französisch erschienene) „Tractatus de haereticis an sint persequendi“ etc., Magdeburg bei G. Rausch 1551, und die „Defensio ad auctorem libelli cui titulus est Calumn. nebulonis“, Bas. 1558 und 1561.

Die philologische Thätigkeit Castellio’s hat theilweise eine theologische Färbung – wie in seinem Epos vom Propheten Jonas (lateinisch) und von Johannes dem Täufer (griechisch), in seiner „Ecloga de nativitate Christi“ etc. – theils ist sie kritischer Natur, so in der Herausgabe des Historikers Xenophon, Bas. (1546?), des Diodorus Siculus, Bas. 1559, des Homer („Homeri opera graeco-latina“), Bas. 1561, des Thukydides (mit der revidirten lateinischen Uebersetzung des Laur. Valla), Bas. (1551?). Ein vollständiges Verzeichniß seiner litterarischen Thätigkeit s. in meiner Biographie Seb. Castellio, Bas. 1862, S. 99 ff. C. besaß jedenfalls eine gründliche Kenntniß der beiden classischen Sprachen: sein lateinischer Stil ist durchaus classisch, und die den besten Epikern nachgebildete Sprache seiner Poesie noch in ihrer Nachahmung großartig. Daß der fromme Mann, dem es beinahe für sündhaft galt, seine Bemühung den Profanschriftstellern zuzuwenden, dies gleichwol that, war theils eine Folge seiner Stellung als öffentlicher Professor der griechischen Sprache, theils aber auch, und wol noch mehr, seiner Anstellung als Corrector in der großen Druckerei Oporin’s. Diese Anstellung war, bei seinen kümmerlichen Verhältnissen, für ihn eine wahre Lebensfrage und schützte ihn vor Hunger. Wäre C. nicht theils durch theologische Streitigkeiten, theils durch eine mehr und mehr erstarkende und bestimmter hervortretende religiöse Richtung von der Beschäftigung mit der Philologie abgezogen worden, so ist kein Zweifel, daß Basel in diesem Zweige der Gelehrsamkeit keinen zweiten ebenbürtigen Namen aufzuweisen hätte.

Die Quellen zu einer Biographie Castellio’s glaube ich in meiner oben angeführten Schrift – Seb. Castellio, ein biogr. Versuch nach d. Quellen, Basel bei Bahnmeier. 1862 – ziemlich erschöpfend, S. 113 ff. angeführt zu haben.