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ADB:Chalybaeus, Heinrich Moritz

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Artikel „Chalybäus, Heinrich Moritz“ von Carl von Prantl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 94–96, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Chalybaeus,_Heinrich_Moritz&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 09:04 Uhr UTC)
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Chalybäus: Heinrich Moritz Ch., geb. 3. Juli 1796 in Pfaffroda im sächsischen Erzgebirge, † 22. Sept. 1862. Sohn eines Pastors, welcher seinerseits seinem Vater in Pfaffroda im Pastorenamte nachgefolgt war, trat er im Oct. 1810 in die Fürstenschule zu Meißen ein, woselbst allerdings die ungewohnte Clausur und der dort herrschende Pennalismus drückend wirkten, so daß er theils in Melancholie versank, theils sich durch dichterische Versuche aufrichtete, jedenfalls aber das Ende dieser Lernzeit herbeisehnte. Im März 1816 bezog er die Universität Leipzig, um Philologie zu studiren, deren Behandlungsweise jedoch (bei Christ. Dan. Beck) ihn ebenso unbefriedigt ließ, als die philosophischen Vorlesungen Krug’s und Platner’s; hingegen las er für sich Spinoza und Jacobi, wobei ihn das Gefühl überkam, daß sein Glaube wankend geworden, doch widmete er sich neben philologischen Vorlesungen bei Gottfr. Hermann nun dem Studium der Theologie (bei Keil, Illgen, Tittmann), wobei er nach dem Tode seines Vaters (Juli [95] 1818) durch einen Onkel einigermaßen Unterstützung fand; das theologische Examen aber, welchem er sich im Mai 1819 unterzog, hatte ein wenig genügendes Ergebniß. Bald darauf erhielt er den Antrag, eine Erzieherstelle beim Banquier Geymüller in Wien zu übernehmen, worauf er sich auch einließ, aber vorerst noch in Leipzig blieb, wo er um Fastnacht 1820 das philosophische Doctor-Examen mit bestem Erfolge bestand. In Wien hatte er unter ziemlich schwierigen Verhältnissen zu wirken, doch erwarb er im dortigen Umgange eine Feinheit des Benehmens, welche ihm auch fortan verblieb. Im März 1822 schied er aus dem Geymüller’schen Hause und begab sich nach Dresden, wo er Privatunterricht ertheilte, aber bald auch eine Anstellung als Collaborator an der Kreuzschule fand. In dieser Zeit schrieb er eine Novelle „Der Christabend“, welche in Wien im Mercur erschien und von mehreren anderen Aufsätzen im Litteratur-Blatt gefolgt war. Mit Neujahr 1825 übernahm er eine Professur an der Fürstenschule zu Meißen, wo er Rhetorik, Moral und auch Theologisches zu lehren hatte; im März 1826 verheirathete er sich mit Clara v. Kretschmar, welche ihm jedoch schon 1828 in Folge des zweiten Wochenbettes durch den Tod entrissen wurde. Er siedelte nun im Herbste 1828 als Professor der Militärakademie nach Dresden um, wo er einerseits als Frucht seiner philologischen Studien eine „Geschichte der Römer, von der Gründung des Staates bis zum Untergange des abendländischen Kaiserthums“ (1829 und 32, 2 Bde.) herausgab und andererseits wiederholt Vorlesungen philosophischen Inhaltes vor größerem Publicum hielt, woraus allmählich sein bekanntes Werk „Historische Entwicklung der speculativen Philosophie von Kant bis Hegel“ (1835) entstand; dasselbe fand so allseitigen Beifall, daß es nicht nur in Deutschland fünf Auflagen erlebte (die letzte 1860), sondern auch in zwei englischen Uebersetzungen erschien (die eine von Tulk, London 1854, die andere von Alfr. Edersheim, Edinburgh 1854). Eine andere entscheidende Folge aber dieser trefflichen Leistung war es, daß Ch. im J. 1839 einen Ruf als ordentl. Professor der Philosophie an die Universität Kiel erhielt. Hier fand er den seinem Wesen geeigneten Wirkungskreis und verbrachte in schlichter Einfachheit heitere Jahre in einem schönen Familienleben, welches er durch Eingehung einer zweiten Ehe mit Louise Kohlschütter noch in Dresden (1831) begründet hatte; dazu boten auch die Verhältnisse der Kieler Universität in den vierziger Jahren einen hohen Reiz durch das Zusammenwirken eines ganzen Kreises hervorragender Männer, welche durch aufrichtige Freundschaft mit einander verbunden waren (besonders innig schloß sich Ch. an Dorner und E. Herrmann an). So begann auch eine Periode reicher schriftstellerischer Thätigkeit, indem Ch. – abgesehen von Recensionen in der Jenaer Litteraturzeitung und im Litterarischen Centralblatte – mehrere kleinere Schriften veröffentlichte („Phänomenologische Blätter“, 1840, „Die moderne Sophistik“, 1842, ferner verschiedene Beiträge in der Fichte’schen Zeitschrift, nämlich: „Die ethischen Kategorien der Metaphysik“, „Ueber das Verhältniß der Metaphysik und Ethik“, „Ueber den objectiven und subjectiven Anfang der Philosophie“) und hierauf eine größere Arbeit: „Entwurf eines Systems der Wissenschaftslehre“ (1846), sowie sein Hauptwerk „System der speculativen Ethik“ (1850, 2 Bde.) folgen ließ. Doch blieb ihm auch eine vorübergehende Trübung seiner Stellung nicht erspart. Nachdem nämlich die dänische Regierung von einem hochgestellten Theilnehmer der schleswig-holsteinschen Bewegung den früher verliehenen dänischen Orden zurückgefordert hatte und als Antwort hierauf seitens mehrerer deutschgesinnter Männer, worunter auch Ch., die unaufgeforderte Rücksendung der dänischen Orden erfolgt war, knüpfte die Regierung hieran im Frühjahre 1852 die Maßregel, daß sie, als nach Unterwerfung Schleswig-Holsteins sämmtliche Beamtenbestallungen behufs neuer Bestätigung eingefordert wurden, dem Ch. und noch sieben anderen Professoren diese Bestätigung versagte. Da [96] die Hoffnungen, welche Ch. auf Anstellung an einer anderen Universität setzen durfte, sich nicht verwirklichten, siedelte er im Frühjahre 1854 nach Sachsen über, um in Leipzig als Privatdocent aufzutreten; aber fast unmittelbar nach seiner Abreise von Kiel wurde er zu seiner eigenen Ueberraschung von der Regierung an seine vorige Stelle zurückgerufen. In der Zwischenzeit war seine Schrift „Philosophie und Christenthum“ (1853) erschienen, und es folgte noch außer einem Aufsatze „Die speculative Erkenntniß Gottes“ (in d. Jahrb. f. deutsche Theologie, 1857) ein die tieferen Systemfragen wieder aufnehmendes Buch „Fundamentalphilosophie“ (1861). Um dieselbe Zeit (1860) hatte ihn die Göttinger Facultät honoris causa zum Doctor der Theologie creirt. Er starb auf einer Ferienreise.

Ch. gehörte zu einer Gruppe geistesverwandter Denker, welche sämmtlich, wenn auch in verschiedener Weise, einen speculativen Theismus zu begründen und durchzuführen versuchten. Bereits in der polemischen Kritik, welche er hauptsächlich gegen den Hegelianismus, mehrfach aber auch gegen Herbart richtete, bildet den positiven Kern jene Ethikotheologie, zu welcher Kant in Folge des Ueberwiegens der praktischen Vernunft gelangt war. Nur stellt Ch. den Willen und die sittlichen Momente sofort derartig an die Spitze, daß ihm die Philosophie selbst lediglich als ein Wollen erscheint, an welchem die Energie als die reale Seite und die Selbstergreifung als die ideale Seite zu unterscheiden seien, während beide vereint dem Ziele der absoluten Wahrheit zustreben. Dieses Princip der Philosophie soll seine Vermittlung durch Logik, Ontologie und Erkenntnißlehre finden, um zur Idealität einer Teleologie zu gelangen, in welcher als Abschluß von Substanz und Gesetz die absolute Geistigkeit erfaßt werden soll. Nämlich sowie teleologisch die körperhafte Natur als Kunstwerk angeschaut wird und somit der Aesthetik anheim fällt, so gilt bezüglich der selbstbewußten freien Wesen die auf Liebe sich aufbauende ethische Lebensauffassung als die universelle und allein wissenschaftliche; dieselbe entwickelt sich von der niedern Stufe der in Familie und Leben wirkenden Eudaimonologie durch das Rechts- und Staatsleben hindurch zur religiösen Sittlichkeit (Gottesreich). In dieser höchsten Stufe der Ethik liegt der rückanknüpfende Uebergang zur speculativen Theologie, insofern Gott nicht, wie bei anderen Theisten, als rein immaterieller Geist zu fassen sei, sondern die absolute Geistigkeit ihrerseits auch den Gehalt der allgemeinen Substanz in sich trage und somit in Gott die Liebe als schöpferische sich zur Identität mit dem absoluten Wahrheitswillen zusammenschließe. So sucht Ch. von einem grundsätzlichen Standpunkte aus, in welchem der sittliche Wille das primäre und das Wissen ein secundäres ist, die Gegensätze der Immanenz und der Transcendenz versöhnend zu vereinigen und auch vielfache Anknüpfungspunkte an die Principien des Christenthums, an Trinität u. dgl. zu gewinnen. Solchen Anschauungen hat er in seinen verschiedenen philosophischen Schriften mit sinnig frommer Vertiefung, mit ehrlichem Streben und hingebendem Eifer das Wort geliehen.