ADB:Diesterweg, Adolf
Pestalozzi in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts mit überzeugender Beredsamkeit geltend gemacht hatte, daß die Befreiung des Volkslebens von den vielerlei Nothständen, welche dasselbe gebunden hielten, nicht ohne eine gründliche Verbesserung des Jugendunterrichtes zu erreichen sei, und nachdem auf die von Ifferten aus gegebene Anregung hin die deutschen Regierungen der Begründung von Volksschulen und Lehrerbildungsanstalten eine besondere Sorgfalt zugewendet hatten, kam es darauf an, eine Unterrichtsweise zu finden, welche befreiend auf den Geist wirkte und Lehrer zu erziehen, welche geschickt wären, an der neuen Volksschule zu arbeiten. Dieser Aufgabe haben Denzel, Wilberg, Harnisch, v. Türk u. A. ihr Leben gewidmet, keiner aber in so weite Kreise wirkend als D. – D. wurde zu Siegen im Regierungsbezirk Arnsberg (Westfalen), damals noch nassauisch, geboren. Der Unterricht, welchen er in der lateinischen Schule zu Siegen erhalten hat, scheint nicht ohne negativen Einfluß auf seine spätere Entwicklung geblieben zu sein. Wenigstens liegt die Vermuthung nahe, daß die Stellung, die er zu den Fragen des Religionsunterrichtes eingenommen hat, in der langweiligen Trockenheit des Religionsunterrichtes seine Erklärung finde, den er in Siegen erhielt. Ebenso dürfte sein späteres Drängen auf eine durchgreifende Umgestaltung der Universitäten auf die Eindrücke zurückzuführen sein, welche er in Jahren 1808–1811 auf den Universitäten zu Herborn und Tübingen empfing. Von 1811–1813 war er Lehrer erst in Mannheim, dann in Worms; von da wurde er im Januar 1813 an die Musterschule zu Frankfurt a. M. berufen wo er mit de Laspée und anderen unmittelbaren Schülern Pestalozzi’s in Berührung trat; 1818 ward er Lehrer an der lateinischen Schule der reformirten Gemeinde in Elberfeld, lernte dort Wilberg kennen und beschloß, sein Leben dem Volksschuldienste zu widmen. Am 3. Juli 1820 trat er sein Amt als Director des neuerrichteten Schullehrerseminars zu Mörs in der Rheinprovinz an, welches ihm seine Berühmtheit verdankt. Die zwölf Jahre seiner dortigen Thätigkeit sind von dauernder Bedeutung für die Geschichte der deutschen Volksschule und sind wol auch die fruchtbarsten seines eigenen Lebens. Zunächst wendete er den größten Theil seiner bedeutenden Arbeitskraft seinem Amte zu, er lebte für die jungen Lehrer, welche er zu bilden hatte und mit denselben. Dobschall, ein Gegner seiner Richtung sagt von ihm unter Berufung auf Diesterweg’s Lebensgenossen: „Nicht seine Leselehre und seine Lesebücher sind der Grund des überschwänglichen Ansehens, welches sich D. bei den Seinigen in ganz Deutschland erfreut, sondern seine treue 20jährige Arbeit an der Volksschullehrerbildung in seinem Hause und in seinen Schriften. Es ist ein Zusammenleben unter Hunderten, deren Mittelpunkt das Herz Diesterweg’s ist, ein Herz, das an Hoheit der Empfindung, an Lauterkeit der Gesinnung und an Umfang der Ideen einen Reichthum besitzt, der groß genug ist, Alle für einen Beruf zu erwärmen, der heut zu Tage sehr hoch geschätzt wird“ (Dobschall: D., seine Ankläger und seine Vertheidiger. Liegnitz 1844). Indem aber D. mit unermüdeter Sorgfalt für die zweckmäßigste Einrichtung des seiner Leitung unterstellten Seminars arbeitete, gewann er zugleich Einfluß auf die Lehrerbildung überhaupt, wie aus Beckedorf’s Jahrbüchern 1823–1828 deutlich zu erkennen ist; namentlich ist er [151] als der Erste anzusehen, der die Bedeutung, ja die Unentbehrlichkeit einer guten Uebungsschule für jede Lehrerbildungsanstalt betonte.
Diesterweg: Friedrich Adolf D., Schulmann, geb. 29. Octbr. 1790, † 7. Juli 1866. NachdemIn Mörs entstanden auch diejenigen Werke, durch welche D. bahnbrechend auf den Unterricht in der Muttersprache und in der Mathematik gewirkt hat. Diese Schriften sind insofern von allgemeiner Bedeutung, als er es in ihnen unternommen hat, die „Elementarmethode“ in voller Consequenz durchzuführen, über welche er sich später in dem „Wegweiser“ (4. Aufl., S. 204–297) ausführlich ausgesprochen hat. Er fordert dort bestimmt, daß der Lehrer nicht wissenschaftlich sondern elementarisch unterrichten solle; er solle den Unterricht „auf dem Standpunkte des Schülers beginnen, ihn von da aus stetig, ohne Unterbrechung, lückenlos und gründlich fortführen“. Aus dieser Grundforderung ergibt sich die andere von selbst: „Vom Nahen zum Fernen, vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Leichteren zum Schwereren, vom Bekannten zum Unbekannten.“ Durch solchen Unterricht soll der Schüler möglichst vielseitig erregt, das Wissen soll mit dem Können verbunden, das Erlernte so lange geübt werden, „bis es der unteren Gedankenreihe verbunden sei“; es werde auf diese Weise Erziehung und Bildung an Stelle der Abrichtung gesetzt, der Schüler werde so an das Arbeiten gewöhnt, daß es ihm zur anderen Natur werde.
Die Energie, mit welcher D. diese Grundsätze in einer großen Reihe von Schriften und in seinem eigenen Unterrichte zur Geltung brachte, rechtfertigt die allgemeine Anerkennung, mit welcher sein Name noch heute in den weitesten Kreisen genannt wird. Zweifellos würde der Erfolg seiner Bemühungen noch größer sein, wenn D. nicht schon sehr früh in allerlei Streitigkeiten verwickelt worden wäre und eine politische Thätigkeit mit der pädagogischen verbunden hätte, welche zu einer Zeit, wo es dem politischen Leben in unserer Nation noch an den rechten Organen fehlte, dieser Eintrag thun mußte. Auch die Anfänge dieser politischen Thätigkeit fallen wenigstens insofern noch nach Mörs, als er dort im Jahre 1827 die „Rheinischen Blätter“ begründete, eine Zeitschrift, welche nicht allein Fragen des Unterrichtes, sondern auch die allgemeinen Angelegenheiten der Volksschule und ihrer Lehrer in ihren Kreis ziehen sollte.
Um das Jahr 1830 wurde in Berlin das Seminar für Stadtschulen errichtet, welches zunächst bereits angestellten Lehrern Gelegenheit zu weiterer Bildung bieten, dann aber auch überhaupt junge Männer zum Unterricht an Bürgerschulen, Seminaren u. s. w. befähigen sollte. Nachdem die Verhandlungen mit Harnisch gescheitert waren, wurde D. zum Director dieser Anstalt berufen und er hat sie von 1832 bis 1847 geleitet, unterstützt von Lehrern, wie Bormann, Merget, Gabriel, Erk, Reinbott, Erler, mit welchen zusammen er eine große Anzahl von Schülern erzogen hat. Namentlich brachte er die Seminarschule zu hoher Blüthe. Es ist bekannt, daß seine Berliner Amtsthätigkeit mit der halb unfreiwilligen Entlassung des erst 57jährigen Mannes endete. Die Gründe dafür lagen zum geringsten Theil in Diesterweg’s Amtsführung, vielmehr sind sie in seinem Mißverhältniß zu dem Provinzialschulrath Schulz, sowie in einigen Schriften und Reden Diesterweg’s zu suchen.
Die Entlassung geschah in der ehrenvollsten Form, durch nachstehende Cabinetsordre: „An den Staatsminister Eichhorn. Auf Ihren Bericht vom 13. d. M. will ich Sie ermächtigen, das Gesuch des Seminardirectors D. zu Berlin, wonach derselbe aus seinem gegenwärtigen Amte auszuscheiden und unter Fortgenuß seines bisherigen Gesammteinkommens seine Thätigkeit der in der Nähe von Berlin neu zu errichtenden Pestalozzi’schen Waisenerziehungsanstalt widmen zu dürfen wünscht, unter der Bedingung zu genehmigen, daß er der disciplinarischen Aufsicht der ihm bis jetzt vorgesetzten Behörden auch ferner unterworfen und jeder Zeit verbunden bleibe, ein seiner Befähigung angemessenes und im [152] Einkommen und Rang seinem bisherigen Amte entsprechendes anderweites Amt, welches ihm übertragen werden sollte, anzunehmen. Friedrich Wilhelm. 23. April 1847.“ Die spätere Pensionirung erfolgte auf Anregung des Landtages. Die Beziehung auf die Pestalozzistiftung ist übrigens eine durchaus berechtigte, denn D. hatte nicht nur die Lehrer selbst an ihre Pflichten gegen ihre Wittwen und Waisen erinnert, sondern auch die Säcularfeier Pestalozzi’s benützt, um in weiten Kreisen Theilnahme für dieselbe zu gewinnen. Seiner in dieser Richtung gegebenen Anregung verdanken außer der Waisenanstalt zu Pankow zahlreiche Pestalozzi-Vereine ihre Begründung.
Während der 15 Jahre seiner Berliner Amtswirksamkeit hat D. als Schriftsteller eifrig weiter gearbeitet, und zwar nicht nur auf dem Gebiete der Polemik, das er in seinen „Streitfragen“ und in seinen „Lebensfragen“ beschritt, sondern auch auf dem der Pädagogik im eigentlichen Sinne, durch seinen „Wegweiser“ und sein „Pädagogisches Deutschland“. Der erstere ist in seiner 4. Auflage unter Mitwirkung von Bormann, Hentschel, Hill, Knebel, Knie, Lüben, Meyer, Mädler, Prange, Reinbott und Schmitz erschienen und ist noch heute jedem unentbehrlich, der sich auf dem Gebiete der Unterrichtslehre orientiren will. Die 5. Auflage, Essen 1873, hat Ludwig Rudolph zu Berlin besorgt. Auf dem Felde der Lehrbücher fügte er den früheren noch seine mathematische Geographie und Himmelskunde zu. Nach seiner Pensionirung begründete er das „Pädagogische Jahrbuch“ seit 1851, in welchem er Karl Hofmeister ein Denkmal errichtet und in dem er auch „die Geschichte seines amtlichen Schiffbruchs“ erzählt hat. Sodann besorgte er eine neue Ausgabe von „Blanc’s Handbuch des Wissenswürdigsten“ und die Herausgabe der „Rheinischen Blätter“, jetzt fortgesetzt von Wichard Lange, in welchen er namentlich einen eifrigen Krieg gegen die preußischen Regulative führte. Das Vertrauen seiner Mitbürger übertrug ihm ein Mandat zum Hause der Abgeordneten 1859 und wählte ihn auch in die Berliner Stadtverordnetenversammlung. D. starb 1866 an der Cholera, welcher kurz zuvor seine Frau, eine geborene Enslin aus Wetzlar, erlegen war. Mit dieser hatte er 52 Jahre hindurch in glücklichster Ehe gelebt.
Diesterweg’s Werke sind folgende: „Die Feier des hundertjährigen Geburtstages von Pestalozzi“ (mit Kalisch und Maßmann) 1845; „Heinrich Pestalozzi“ 1846; „Schulreden und pädagogische Abhandlungen“ 1832; „Streitfragen auf dem Gebiete der Pädagogik“ 1837; „Inspection, Stellung und Wesen der neuen (modernen) Volksschule“ 1846; „Beiträge zur Lösung der Lebensfragen der Civilisation“ 1838 (betrifft u. a. die Reform der Universitäten); „Bemerkungen und Ansichten auf einer pädagogischen Reise nach den dänischen Staaten“ 1836 (gegen den wechselseitigen Unterricht); „Das pädagogische Deutschland der Gegenwart“ 1835/6, 2 Bde. (enthält die Selbstbiographie von Hendel, Ramsauer, Braubach, Roth, Lorberg, Reinbeck, Lange, G. A. F. und H. F. F. Sickel, Schweitzer, Kröger, Kopf, Kern, Rebs, Ewig); „Wegweiser zur Bildung deutscher Lehrer“, 4. Auflage 1850; „Confessioneller Religionsunterricht in den Schulen oder nicht“ 1848 (D. spricht sich gegen den confessionellen Religionsunterricht aus). Ferner eine Reihe von Streitschriften, darunter die bekannteste: „Anti-Piper oder der wiedererstandene Hauptpastor Melchior Götze“. – „Die Rheinischen Blätter“, Frankfurt a. M. bei Diesterweg. – Für den Unterricht: „Der Unterricht in der Kleinkinderschule“, 5. Auflage 1872; „Schullesebuch in sachgemäßer Ordnung“, 2 Theile, 11. Auflage 1847, Anweisung zum Gebrauche desselben, 2 Theile; „Praktischer Lehrgang für den Unterricht in der deutschen Sprache“, 3 Theile, 1845; „Praktisches Uebungsbuch in der deutschen Sprache“, 10. Auflage 1868; „Leitfaden für den Unterricht in der Mathematik“, 3 Theile, 1823; „Geometrische Aufgaben“ 1825; „Leitfaden für den Unterricht [153] in der Formen-, Größen- und räumlichen Verbindungslehre“ 1845, 4. Auflage, Anweisung zum Gebrauche derselben. (Mit Heuser) „Methodisches Handbuch für den Gesammtunterricht im Rechnen“, 2 Theile, 5. Auflage 1850; „Praktisches Rechenbuch“ 3 Theile, 1848 und 1849; „Lehrbuch der mathematischen Geographie und populären Himmelskunde“, 3. Auflage 1848, 5. Auflage von Strübing besorgt 1873.
- Langenberg, Adolf Diesterweg, sein Leben und seine Schriften, Frankfurt a. M. 1868. Außerdem Wegweiser, 5. Aufl., Seite 1 bis 27.