ADB:Kremer, Alfred Freiherr von
Kremer: Alfred Freiherr von K., Orientalist und Staatsmann, wurde am 13. Mai 1828 zu Wien geboren. Seine Familie stammt aus den Niederlanden, ließ sich zu Anfang des 17. Jahrhunderts im Trierschen nieder; in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts kam ein Zweig derselben nach Oesterreich und wurde in Wien seßhaft. Alfred’s Vater, Karl Heinrich (geboren 1794) bekleidete hohe Aemter, er war schließlich k. k. Finanzprocurator für Oesterreich unter und ob der Enns und Salzburg, Ministerialrath, Director der juridisch-politischen Studien an der Wiener Hochschule, für deren Ausgestaltung durch neue Lehrkanzeln und durch Hebung des Instituts der Privatdocenten als Pflanzschule für künftige Professoren er eifrigst und erfolgreich wirkte. Im J. 1848 war er Referent im Unterrichtsministerium und wurde 1855 in den erbländischen Ritterstand erhoben. Auch als juristischer Schriftsteller that er sich bemerkenswerth hervor.
Sein Sohn Alfred K. absolvirte das Gymnasium und die juristische Facultät an der Universität in Wien; nebenbei trieb er mit großem Fleiße das Studium der orientalischen Sprachen. Nach Beendigung der Studien erhielt er von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften ein Reisestipendium mit dem Auftrage, die Bibliotheken in Syrien zu durchforschen. Von dieser zweijährigen Reise durch Aegypten und Syrien zurückgekehrt, wurde er zum Professor des Vulgärarabischen am Polytechnikum in Wien ernannt, widmete sich jedoch bald dem diplomatischen Dienst im Orient, bekleidete die Stelle eines ersten Dolmetsch des österreichischen Consulates in Aegypten, wurde 1858 [375] Viceconsul, 1859 Consul in Kairo, 1862 in Galatz, 1870 Generalconsul zu Beirut in Syrien. 1872 wurde er als Ministerialrath und Referent für das Consulatwesen in das k. und k. Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten nach Wien berufen. Seinen wissenschaftlichen Leistungen verdankte er 1876 die Wahl in die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien; in demselben Jahre erfolgte seine Ernennung zum Mitglied der ägyptischen Staatsschuldencommission in Kairo, wo er vier Jahre wirkte. Nach Ablauf derselben kehrte K. nach Wien zurück, zunächst in das Ministerium des Aeußeren, wurde jedoch schon Ende Juni 1880 in das eben gebildete Ministerium Taaffe als Handelsminister berufen; doch schon am 14. Januar 1881 nahm er, gleichzeitig mit dem Justizminister Streit, die Entlassung, weil sie mit der Berufung ausgesprochener Parteimänner der Rechten in das Herrenhaus nicht einverstanden waren. Fortan lebte er im Ruhestande, ununterbrochen mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt.
Wegen seiner Verdienste um Staat und Wissenschaft wurde er vom Kaiser in den Freiherrenstand erhoben.
Seine Thätigkeit auf dem Gebiete der orientalischen Litteratur und Geschichte war eine sehr umfassende: „Des Scheichs A’bd-el-Shanij-en-Nabolst’s Reisen in Syrien, Aegypten und Hidschâf“, Wien 1881; „Schreiben an die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien aus Cairo, 25. März 1851“, Wien 1851; „Mittelsyrien und Damaskus. Geschichtliche, ethnographische und geographische Studien“, Wien 1852; „Beiträge zur Geographie des nördlichen Syriens“, Wien 1852; „Ueber zwei arabische geographische Werke. Notizen, gesammelt auf einem Ausfluge nach Palmyra“, Wien 1852; „Ueber das Werk: Description de l’Afrique, publiée par un arabe anonyme du 6 siècle de l’Hegire“, Wien 1852; „Topographie von Damaskus“, 2. Abth. In den Sitzungsberichten der philos.-histor. Classe der Wiener Akademie, 1854, 1855; „Wakidy’s History of Mohammeds compaigns. Herausgegeben von A. K.“, Kalkutta 1855; „Die deutsche Bearbeitung des Divan des Abu-Nuwas, des größten lyrischen Dichters der Araber“, Wien 1855; „Aegypten. Forschungen über Land und Volk“, 2 Bde., Leipzig 1863; „Die himjarische Kasideh. Herausgegeben von A. K.“, Leipzig 1865; „Ueber die südarabische Sage“, Leipzig 1866; „Geschichte der herrschenden Ideen des Islams“, Leipzig 1868; „Kulturgeschichtliche Streifzüge auf dem Gebiete des Islams“, Leipzig 1873; „Kulturgeschichte des Orients unter den Chalifen“, 2 Bde., Wien 1875, 1877 (eine vorzügliche Arbeit); „Ibn Châldun und seine Kulturgeschichte der islamischen Völker“, Wien 1879; „Ueber die Gedichte des Labyd“, Sitz.- Ver. d. Wiener Akademie, 1881; „Beiträge zur arabischen Lexikographie“, 2 Hefte, Sitz.-Ber. d. Wiener Akademie, 1883, 1884; „Ueber meine Sammlung orientalischer Handschriften“, Wien 1885; „Ueber das Budget der Einnahmen des Abbasidenreiches vom Jahre 306 des Hidschra“, Sitz.-Ber. d. Wiener Akademie, 1887; „Ueber die philosophischen Gedichte des Abul-Alâ Maarry“, Sitz.-Ber. d. Wiener Akademie, 1888; „Studien zur vergleichenden Kulturgeschichte“, 2 Hefte, Sitz.-Ber. d. Wiener Akademie, 1889, 1890. – Kleinere Mittheilungen, und zwar Auszüge aus orientalischen Geschichtswerken, Nachrichten über verschiedene Araberstämme, über moslemisches Staatsrecht, über Urbarmachung brachliegender Gründe, über mohammedanisches Wasserrecht, Beiträge zur Kenntniß der Geschichte und Sitten der Araber vor dem Islam u. m. a. enthalten die Sitzungsberichte der Wiener Akademie, philos.-histor. Classe IV, 173 f., 206–281, 304–310; VI, 414–449. (Magazin für die Literatur des Auslandes. Berlin 1863, S. 296.)
Auch als Staatsmann und Politiker bethätigte sich K. litterarisch. Nach [376] dem Rücktritte vom Ministerposten erschien von ihm eine politische, ebenso geistreiche als auf gründlichen historischen und staatswissenschaftlichen Studien ruhende Schrift: „Die Nationalitätsidee und der Staat. Eine culturgeschichtliche Studie über den Einfluß der nationalen Ideen, besonders auf Staaten mit gemischter Bevölkerung“, Wien 1885. Sie geht von des Thomas Morus Staatsroman „Utopia“ aus; die ersten neun Abschnitte bilden die geschichtliche Einleitung zu dem politischen Essay, den die zwei letzten Capitel bringen. In diesen wird das Wesen des nationalen Staates untersucht und dargethan, daß diesem große Widerstandskraft und Festigkeit eigen sei, und daß die nationale Form in unserer gegenwärtigen Culturperiode die höchste Stufe der politischen Entwicklung darstellt. Der nationalgemischte Staat hat seine Lebenskraft nur im Einverständnisse der ihn bewohnenden verschiedenen Nationalitäten, welche sich jedoch dem Gesammtzwecke, das ist der Fortbestand, die Fortentwicklung des Staates auf Grund der durch seine Existenzbedingungen ihm vorgezeichneten Bahnen, unterordnen müssen; die verschiedenen Nationalitäten müssen zum gemeinsamen Staatszwecke fest vereinigt werden; dies kann aber nur durch Erfüllung von zwei Bedingungen verwirklicht werden: Förderung des geistigen und materiellen Wohlbefindens der Staatsbürger und stetige Entwicklung auf dem gegebenen Boden, also kein Schwanken der innern Politik, kein Bruch mit der politischen Tradition und der Staatsidee. Die größte Gefahr, die heut zu Tage jeden Culturstaat bedroht, kommt, wie K. trefflich ausführt, nicht von den Socialdemokraten und Anarchisten, sondern „von der Ueberwucherung des Staates durch das eigennützige Streberthum der Personen und der Parteien, die den Staat als Mittel für ihre Zwecke benützen und ihn für sich ausbeuten wollen“. Durch Verhetzung der Parteien, der Erwerbs- und Standesclassen, der Nationalitäten und selbst der Glaubensbekenntnisse, endlich durch die zunehmende Corruption wird das Gefüge des socialen und politischen Gebäudes gelockert und erschüttert, und dann genügt der freche Versuch einer Handvoll toller Fanatiker, um die größte Verwirrung und unabsehbaren Schaden anzurichten. Das ist, wie K. leider mit vollem Recht bemerkt, die Gefahr, der die Culturstaaten im Laufe ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert ausgesetzt sind.
K. starb am 27. December 1889 in Döbling bei Wien.
- Wurzbach, Biogr. Lexikon des österr. Kaiserstaates XIII, 193–196.