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ADB:Leo, Friedrich August

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Artikel „Leo, Friedrich August“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 646–653, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Leo,_Friedrich_August&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 23:22 Uhr UTC)
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Leo: Friedrich August L., Dichter, Shakespeare-Forscher, Uebersetzer, Philanthrop, wurde am 6. December 1820 zu Warschau geboren. Von israelitischen Eltern, welche bald nach seiner Geburt nach Deutschland, zuerst nach Oranienburg, übersiedelten, hat er, wenn auch in seinem vierten Jahre nach des mittellos sterbenden Vaters Tod mit der Mutter und den Geschwistern – auf die Namen Friedrich August – evangelisch getauft, die jüdische Herkunft nie verleugnet, vielmehr später mancherlei Gefühle, Neigungen und Gedanken darauf zurückgeführt. So heirathete er denn nach siebenjähriger Kampf- und Wartezeit Elisabeth Friedländer, eine Tochter von Heinr. Heine’s Base (dieses vielgeschmähten Hamburger Millionär-Oheims Salomon H. Tochter) und Jugendliebe Amalie, sie ebenfalls von doppelt jüdischem Ursprunge im Protestantismus aufgewachsen, wider die Wünsche ihrer, der reichen Erbin, geldstolzen Angehörigen: mit ihr, der Heine’s Stammbuch-Gedicht „An die Tochter der Geliebten“ („Ich seh’ dich an und glaub’ es kaum …“) schon im 6. Jahre gegolten, hat L., trotz allen äußeren Glanzes aristokratischer Gesellig- und Gastlichkeit, eine ungemein glückliche Ehe fast alttestamentlichen Stils gelebt. Auf Anlaß von Richard Wagner’s umstrittener Kampfschrift „Das Judenthum in der Musik“ (1869) brach er in mehreren Artikeln der „Vossischen Zeitung“ eine Lanze für das Judenthum, dem er sich in verschiedener Hinsicht innerlich bis zuletzt zugerechnet hat. Denn als Anfang der achtziger Jahre gerade in Berlin, Leo’s dauerndem Wohn- und Wirkungsort, eine scharf antisemitische Agitation mit vielfach hetzerischen Mitteln einsetzte, fühlte er sich einerseits empfindlich getroffen, andererseits in seinem entschiedenen Auftreten für ausgesprochen liberale und weiteste tolerante Grundsätze nur noch bestärkt, wie er auch beinahe ostentativ über die feudale und germanisch-conservative Verwandtschaft hinweg mit ihm sympathischen Leuten mosaischen Glaubens enge Beziehungen und Freundschaft aufrechterhalten hat.

Die früh verwittwete Mutter Leo’s fand im Hause des Gatten ihrer Schwester, Bloch, Präsidenten der (eben 1820 als Geschäftsinstitut des Staates neu organisirten) „Seehandlung“, zu Berlin mit ihren Kindern Unterkommen, der geweckte Knabe dagegen im Erziehungssystem dieses seines Vormunds oft grellen Widerspruch zur ungestörten Pflege seiner Eigenart und Anlagen. Hier entwickelten sich jedoch, inmitten eines der tonangebenden Häuser der damaligen Berliner feinen Kreise, nicht bloß Leo’s gesellige Anlagen kräftig, so daß sich das Vergnügen der Bloch’schen Gäste sozusagen um ihn drehte, sondern auch sein Talent für Gelegenheitsdichtung, für theatralisches Schaffen und Insceniren – dramatische und andere Poesie seiner Feder bewunderte man dort – ja, er sang, tanzte, zeichnete, malte für eine beschränkte Oeffentlichkeit wie ein lebensfroher Jüngling der Renaissance. Daneben kamen, wie sich leicht denken läßt, die ernsteren Züge seiner hervorragenden Begabung zu kurz und, was sich an herrlichen natürlichen Keimen hätte entfalten können, gerieth, theilweise für immer, ins Hintertreffen. Noch nach mancherlei wohlgelungenen Leistungen haben ihn später einseitige Stubengelehrte, welche von ihrem Shakespeare-Exemplar [647] den Staub herunterzublasen vergaßen, einen Dilettanten gescholten – ja, den Greis selbst bekümmerte das nie unterdrückte Bewußtsein, sein Können verschwendet, sein Wissen verzettelt zu haben, mitten in ungetrübtestem Dasein arg. Gerade als dem Jünglinge die Einsicht vom Unzulänglichen schöngeistiger Ausschließlichkeit kam, spielte ihm der Zufall aus dem Nachlasse eines Verwandten einen Brief mit dem Postscript „Schade um Fritz!“ in die Hand. Der Aufgerüttelte sollte sich nun ernstlich für einen Beruf vorbereiten. Da die Realschule-Schlußprüfung akademisches Studium ausschloß, absolvirte der fähige Schüler, erst noch auf dem von Schellbach geleiteten Realgymnasium, die blühende Kgl. Gewerbeschule zu Berlin und widmete sich dem Buchhandel, anfangs bei der angesehenen Firma W. Besser (später Wilh. Hertz) in Berlin lernend, dann in ein Leipziger Haus übergetreten, das ihm bald die Filiale zu Teplitz anvertraute. Hier bekundete er einmal bei Gelegenheit, die Ausführung eines freien Auftrags seitens eines benachbarten ungarischen Grafen corrigirend, seine Kenntniß deutscher Poesieerzeugnisse in ungeschäftlicher bezeichnender Weise (s. Berliner Volkszeitung vom 1. Juli 1898). Längere Thätigkeit in der Höst’schen Buchhandlung zu Kopenhagen bildete den letzten Act seiner Buchhändlerperiode. Hier tauschte der des materiellen Berufs Ueberdrüssige, schon in Leipzig litterarischen Kreisen genähert und journalistischer Debütant, wohl unter angenehmem Verkehr mit den Dichtern Andersen und Henrik Hertz, die Schriftstellerei ein. Zurückgekehrt machte er mit 26 Jahren das Abiturientenexamen, studirte, weil gegen des Onkels Willen, auf Feder und Unterricht angewiesen, zu Leipzig und promovirte dann (wo?) zum Dr. phil.

Im J. 1846 versuchte sich L., der in skandinavischen Sprachen und Litteraturen immer gediegener Bescheid wußte, mit einer ersten Verdeutschung, der von H. Hertz’ „Kong Renés Datter“, in deren biographischer Einleitung die fast selbstschildernde Stelle begegnet: „Nach dem Tode seiner Mutter war er in das Haus des Großhändlers Nathanson aufgenommen worden, dem er größtentheils seine Ausbildung verdankte. Das Haus aber, das damals der Sammelplatz für die Coryphäen der Kunst und Litteratur war, konnte schwerlich, bei den vielen Zerstreuungen, die sich dem jungen Mann daselbst darboten, für das geregelte Studium zu einem Examen geeignet sein, und man wird es daher begreiflich finden, wenn er nicht große Lust zur juristischen Carrière verspürte, sondern sich in ganz heterogene Regionen, wie z. B. nordische Mythologie und persische Litteratur, vertiefte“. So hat denn auch L. fürder ohne festen Brotberuf als Uebersetzer, Publicist und selbständiger Dichter eifrig geschriftstellert. Und zwar auch als er dessen äußerlich nicht mehr bedurft hätte. Denn 1854 gelangte er durch die erwähnte Vermählung nicht nur in glänzende pecuniäre Verhältnisse, die ihn jeglicher Sorge, freilich auch des Zwanges, seine Kräfte in erprobender Entwicklung zu stählen, enthoben und seinen litterarischen Liebhabereien freien Spielraum ließen, sondern anderseits auch in ausgesuchteste gesellschaftliche Beziehungen, und diese wie jene brachten nun gemeinsam seine einschlägigen Anlagen zu schöner, den ihm vorschwebenden dichterischen und wissenschaftlichen Zielen allerdings abträglichen, der Allgemeinheit aber, sei es auf socialem sei es auf culturellem Gebiete, höchst nützlichen Blüthe. Die schwer erkämpfte Gattin freilich sah allezeit scheel auf jedes Motiv seines Gemüths und Verstandes, welches ihr den geliebten Mann zeitweilig entziehen mußte. „Alle seine Geistesgaben“, äußert sich ein genauer Kenner, Genosse und Freund, der (Aug. 1905) † Berliner Buchhändler und treffliche Shakespeareaner Albert Cohn, „sollten nur in ihrem, allenfalls noch im Dienste der sie umgebenden ‚Gesellschaft‘ stehen. Sie sprach es selbst aus, daß sie Shakespeare [648] hasse, weil sie um seinetwillen des Gatten nicht ausschließlich froh werden könne. An diesem Punkte aber erreichte seine Opferwilligkeit für die geliebte Frau ihre Grenze. Shakespeare hatte ihn zu mächtig angezogen, und zu ihm kehrte er immer wieder zurück, so viele Zeit und Mühe er auch den Zerstreuungen des gastlichen Hauses, den Vorbereitungen zu glänzenden Festen und diesen selbst widmen mußte. Wie ehedem das Haus des Onkels Bloch, gestaltete sich nun das eigene Heim zu einem Sammelpunkte der Berliner Gesellschaft: Prinzen in Menge und andere Mitglieder der vornehmen Kreise, einheimische und fremde Künstler, Berühmtheiten aller Art, nicht minder aber auch die alten Freunde, fanden hier anregende Unterhaltung. Neue Theaterstücke wurden gedichtet und aufgeführt, lebende Bilder wurden gestellt, und für noch viele andere Ueberraschungen hatte der erfindungsreiche Hausherr zu sorgen. Daß dieser trotz alledem sich eine hervorragende Stellung und einen klangvollen Namen in der großen Shakespeare-Gemeinde erringen konnte, spricht für die ungewöhnliche Versatilität seines Geistes“.

So hat L., angesehen und ganz unabhängig, an vier Jahrzehnte gewirkt, bis ihm 1891 rasch die über alles theure Tochter, die schöne kluge, viel umworbene Gertrud, das einzige Kind, als junge Gräfin Joachim Pfeil und bald danach die vergötterte Gattin gestorben. Da war es freilich für den betagten, wenn auch durchaus rüstigen Mann zu spät seine Zeit nunmehr ganz der ans Herz gewachsenen Shakespeare-Wissenschaft zu weihen. Er beschäftigte sich nun damit, passende Verwendungen des großen Vermögens zu idealen Zwecken auszudenken und zu verfügen. Das Testament setzte zum Haupterben des mehrere Millionen Mark umfassenden Vermögens, nämlich mit zwei Dritteln, die Stadtgemeinde Berlin ein und zwar sollten die Einkünfte dieser Leo-Stiftung ganz und gar zur Ausbreitung und Ausgestaltung von Volksbibliotheken in Berlin dienen, deren jede in erster Linie einen Jedermann täglich offen stehenden Lesesaal besitzen müsse. Aehnlich hatte es seine Flugschrift „Volksbibliotheken in England“ (1896) als mustergültig hingestellt. L. hatte ja lange Jahre in seiner Adoptiv-Vaterstadt Berlin selbstlos und hingebend communalen Dienst gethan. Zunächst als treu der freisinnigen Sache ergebener Stadtverordneter, seit 1884, wo er in der Schul- und Park-Deputation, in der für die innere Ausschmückung des Rathhauses, in der Waisenhäuser-Verwaltung, in der Commission für das Friedrichs-Gewerbe-Stipendium wirkte, in den letzten Lebensjahren auch für die Volksbibliotheken-Ausdehnung im Sinne des großen Zugs seines Testaments. Er war ferner einer der Gründer und Hauptförderer des Berliner Asyl-Vereins für Obdachlose, den er letztwillig mit erheblicher Rente bedacht hat, und des Berliner Vereins für Volksbäder. Wie so in den verschiedensten Ausschüssen für Wohlfahrtszwecke sitzend, so hing er warm der Freimaurerei an und hat der preußischen Großen National-Mutterloge „zu den drei Weltkugeln“, deren Tochterloge „zur Treue“ (von 1872) er als Meister vom Stuhl präsidirte, ein reiches Legat zugewandt. Natürlich durfte er bei den Geldvermächtnissen das Herzblatt seines Mannesalters, die Shakespeare-Arbeit, nicht vergessen. Zum Andenken an Gattin und Tochter hat er der „Deutschen Shakespeare-Gesellschaft“ 1894 fürs erste 1000 Mark und dann bis 10 Jahre nach seinem Tode jährlich 500 Mark zur Verfügung gestellt. Auch hinterließ er ihr den größern Theil seiner reichen und werthvollen Shakespeare-Bibliothek, den kleinern dem „Englischen Seminar“ der Universität Berlin. Schon seit Jahren trug er den, vom Großherzog von Weimar jedenfalls hauptsächlich wegen des rührigen Antheils an jenem dort domicilirenden Vereine verliehenen Professor-Titel. Mitten unter redactionellen Correspondenzen und auf dem Sprunge, nach München zu einer Aufführung einer seiner Shakespeare-Bühnenbearbeitungen [649] sowie zur Abmachung über eine durch Ludwig Fränkel zu veranstaltende posthume Sammlung seiner verstreuten Aufsätze und Artikel zu kommen, traf zu Glion am Genfersee, wo er wie schon früher, sich Frische zu neuer Winterarbeit holen wollte, den 771/2jährigen ein sanfter völlig unerwarteter Tod am 30. Juni 1898.

Friedrich August L. war ein Litterat von vielseitigen Talenten und bewundernswerther Beweglichkeit, mag er auch infolge der dargelegten rein äußerlichen Hindernisse nie so recht in der Pflege einer bestimmten litterarischen Gattung das Höchste mit Ausdauer anzustreben beflissen gewesen sein. Als freischöpferischer Belletrist bewährte er sich besonders auf lyrischem Felde. Bis 1843 und wol noch früher hinauf reichen seine ernstlichen Anfänge in der Dichtkunst, in welcher denn doch die Stärke seines Lebenswerks lag. Seine „Gedichte“, 1870 gesammelt, 1872 und 1886 vermehrt aufgelegt – eine 4., erweiterte Ausgabe verhinderte der Tod – „geben eine hohe Idee von seinem poetischen Können; er hat den Kuß des Genius wirklich empfangen: Freude und Betrübniß, Seelenstimmungen aller Art kommen oft zu ergreifendem, stets zu formvollendetem Ausdruck. Was immer ihn bewegte, drängte zur Befreiung durch die Poesie. Dabei bewahrte ihn die besonnene, reflektirende Seite seines Geistes vor jedem Ueberschwange“. Also charakterisirt Leo’s Verspoesie der obengenannte Freund, der außerdem bemerkt: „Sein Dichtungsdrang machte sich zu allen Zeiten und in allen Lebensumständen geltend, und seine Virtuosität in der Abfassung von Gelegenheitsgedichten war in seinem Kreise sprichwörtlich geworden. Dahin gehören zahlreiche Carmina zu den Feiern seiner Loge, ferner eine ergötzliche ‚Reimchronik der Fraktion der Linken‘ [des Berliner Stadtverordnetencollegiums] für die Jahre 1890, 1893 und 1896“ und die vielen Lieder zu Freimaurerfesten. Neben den rein lyrischen Stimmungsbildern seines starken „Gedichte“-Bandes stehen tiefer greifende Spiegelungen von Seelenkämpfen, „Episoden“, Scenerien aus „Land und Meer“, auch Uebersetzungen. Unter der Rubrik „Deutschland“ schlägt er in Halbballaden warm nationale Töne an, in Denk- und Sinnsprüchen spendet der geistreiche Kopf Eigenthümliches und Gehaltvolles. 1847 erschien im „Frankfurter Konversationsblatt“ das Märchen „Die Wellen“. Sogar intime Freunde überraschte 1893 völlig das reizende kinderkundige Bilderbuch „Von vielen kleinen Siebensachen, die Euren Eltern Sorge machen“ (mit, des köstlich naiven Textes Einzelnummern stückweise ergänzenden Zeichnungen von Woldemar Friedrich) – eine Meisterleistung des 73jährigen, die 1896 eine 2., vermehrte Auflage belohnte, mit dem Titelzusatz „Und d’runter durch in Spiel und Ernst Manch gutes Wort, von dem du lernst“: sie überragt an poetischer Einkleidung nichtlehrhaft sittlichen Gehalts zahllose sog. Kinderbücher weit. 1875 erschien ein kleines frisches „Original-Lustspiel in 2 Aufzügen“ ‚Ein Hochverräther‘, unter dem metathetischen Pseudonym „Aug. Olfer“, als Bühnenmanuscript, wie 1876 anonym der einfache knappe einactige Schwank „frei nach dem (?) italienischen Originale“ „Ein Genie“; theatralische Lorbeeren erblühten ihm jedoch aus beiden nicht. Dagegen hat er mit Recht vollen Dank aus einer dramatischen Verpflanzung geerntet, die seiner, im Kopenhagener Aufenthalte – fürder reiste er noch oft nach dem Norden – beruhenden ausdrücklichen Beschäftigung mit den skandinavischen Sprachen und Litteraturen entsprang. Unter dem, was er da, vornehmlich aus dem Dänischen, gut verdeutscht hat, erlangte nämlich andauernden Erfolg: „Henrik Hertz, König René’s Tochter. Lyrisches Drama. Im Versmaaße des dänischen Originals übersetzt“ (1846; schon 1847 die 3., bis 1884 14 Auflagen); mit Beifall über verschiedene Bühnen gehend, ward diese allerseits anerkannte Arbeit sein erster und nachhaltigster [650] litterarischer Wurf, und die in London aufgeführte englische Bearbeitung Sir Theodore Martin’s mit Helen Faucit Lady Martin als Titelheldin Jolanthe fußte darauf. Zu der mit 3 Theilen stecken gebliebenen Uebersetzung von H. Hertz’ „Gesammelten Schriften“, die L. mit Emanuel Bendix begann, lieferte er den zweiten (1848): „Svend Dyrings Haus“; doch hat diese ebenfalls gelungene Versübersetzung kaum das Rampenlicht erblickt. Sehr geschickt und verdienstlich ist Leo’s, desgleichen im Versmaaße des dänischen Originals 1861 vorgenommene Uebersetzung von Hertz’ Vorbild Joh. Ludw. Heiberg (1791–1860) seltsamer ‚apokalyptischer Komödie‘ „Eine Seele nach dem Tode“, die Martensen eine dänische divina commedia genannt und L. durch ausführlich charakterisirendes Vorwort bei uns eingeführt hat. Skandinavischen Interessen entstammt auch die aus Autopsie gewonnene Uebersicht über „Deutsche Einflüsse in Dänemark. Vortrag gehalten im Concertsaale des Königl. Schauspielhauses [Berlin] am 5. Februar 1862. Zum Besten des Stipendiums für Studierende der neueren Sprachen“: den Deutschenhaß der Dänen als undankbar abweisend, erhofft er von einer Einigung der nordgermanischen Staaten und einer Deutschlands auch eine Lösung des damals heftig entbrannten schleswig-holsteinschen Streites. Solche Vorträge zu wohlthätigen Zwecken hielt Leo öfters vor einem gebildeten Berliner Publicum; gedruckt liegt auch der über „Das Weib in der [bürgerlichen] Gesellschaft“ vom 12. März 1881 vor, wo seine milde Art mit geschichtlichen und psychologischen Gründen vermittelt. Ebenfalls auf nordgermanischem Gebiet agitirte L. 1856/57 dafür, undeutliche Seiten der Handschrift von Ulfilas’ gothischer Bibel in Upsala photolithographisch zu vervielfältigen: der erste solche Versuch zu Gunsten der Sprachwissenschaft. Die Drucklegung zerschlug sich, trotz der Förderung durch die Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften, Friedrich Wilhelm IV., Alex. v. Humboldt, J. Grimm, G. H. Pertz und Leo’s Opferwilligkeit, an den durch Subscribenten nicht gedeckten Kosten (das Exemplar 85 Thaler), und die von L. auf sein Conto hergestellten ergebnißreichen (vgl. seinen Artikel „Eine Lesart im Codex Argenteus“, Zeitschr. f. verglchd. Sprachforschung Bd. VI, S. 193–201) 63 Glasplatten mit schwer zu entziffernden Stellen warten in der Kgl. Bibliothek zu Berlin noch heute der Auferstehung (gedruckt 4seitiger französischer „Prospectus“ Febr. 1857).

Leo’s innerste Theilnahme und unablässige Arbeit gehörte aber seit 1853 in erster Linie Shakespeare: dieses Eifers Bethätigung hat seinen Namen in weite Kreise und zu fester Geltung gebracht. Indem er den britischen Dichterfürsten menschlich und ästhetisch verehrte und verschiedene Probleme der Shakespeare-Forschung auch philologisch in Angriff nahm, hat er durch eine Reihe eigener Untersuchungen und textkritische Glossen, durch Drucklegung wichtiger Documente, durch feinfühlige Uebersetzungen bezw. Bühnen-Bearbeitungen, durch Anzeigen und Anregungen anderer, namentlich auch durch die seit Karl Elze’s Rücktritt, 1879, „im Auftrage“ besorgte Redaction des „Jahrbuchs der deutschen Shakespeare-Gesellschaft“, unser Wissen und Verständniß vom gewaltigen Genius vielseitig unterstützt. Diese Wirksamkeit wäre näherer Aufmerksamkeit und Würdigung werth. Zufällig hatte ein befreundeter ernstlicher Shakespeareaner 1853 L. auf die soeben Aufsehen verursachenden „Notes and emendations to the text of Shakespeare’s plays from early manuscript corrections in a copy of the folio 1632“ John Payne Collier’s hingewiesen. Daß L. diese pseudo-zeitgenössischen Glossen durch seine „Beiträge und Verbesserungen zu Shakespeare’s Dramen nach handschriftlichen Aenderungen in einem von J. P. Collier aufgefundenen Exemplare der Folio-Ausgabe von 1632 für den deutschen Text bearbeitet“ (1853) mit den meisten Fachleuten [651] für bare Münze nahm, wiegt, auch abgesehen von seinem Debütantenthum, nicht so schlimm. Jedenfalls haben seine Glossen, auch nach der allgemeinen Erkenntniß von der in Collier’s Publication des sog. Perkins-Shakespeare vorliegenden Fälschung, für die authentische Textkritik des vielfach gar fraglichen Originals viel mehr Brauchbares hinterlassen als Julius Frese’s gleichzeitige und gleichzielende Schrift. Sein entschiedenes Beharren bei seinem Standpunkte durch die Broschüre „Die Deliussche Kritik der von J. Payne Collier aufgefundenen alten handschriftlichen Emendationen zum Shakespeare gewürdigt“ (1853) hat übrigens ebensowenig wie seine Angriffe in „Shakespeare’s Coriolanus. Die Deliussche Ausgabe dieser Tragödie kritisch beleuchtet“ (1861) Leo’s nachherige aufrichtige Beziehungen zu dem bedeutenden Shakespeareforscher Nikolaus Delius (s. A. D. B. XLVII, 653) verhindert, zumal seit er unter dessen Präsidium die Zwecke der „Deutschen Shakespeare-Gesellschaft“ an seinem Theile mitzuerfüllen sich eifrig bestrebte.

Mit dem Jubeljahr von Shakespeare’s 300. Geburtstag, 1864, sammelt sich Leo’s Arbeit immer mehr um seinen Großmeister der Poesie. Da stellte er neben Delius’ kritisirte Ausgabe eine eigene stattliche: „William Shakespeare’s Coriolanus. Edited by F. A. Leo. With a quarto-facsimile of the tragedy of Coriolanus from the folio of 1623 photolithographed by A. Burchard and with extracts from North’s Plutarch“ (vgl. Sh.-Jahrb. XLI, 48, 50), die guter exegetischer Anmerkungen nicht ermangelt und in diesen auch Leo’s rasch gewonnene Herrschaft über die englische Schriftsprache bekundet. Mit diesem Buch in innerem Zusammenhange steht Leo’s Beitrag zum 1. Bande des Presse-Organs, das sich die soeben begründete „Deutsche Shakespeare-Gesellschaft“ in ihrem „Jahrbuche“ schuf: „Die neue englische Text-Kritik des Shakespeare“. Drei Mal hat er bei den Weimarer Jahresversammlungen dieses Vereins den Festvortrag gehalten: 1869 über „Shakespeare’s Frauen-Ideale“ (allein gedruckt), 1880 über „Shakespeare, das Volk und die Narren“ (Bd. XV), selbständig neben J. Thümmel’s (Bd. IX u. XI) Behandlung des Themas, 1888 über „Shakespeare und Goethe“ (Bd. XXIV). 1870 erschien – das Wagniß eine der schwierigsten dramaturgischen Nüsse zu knacken – von ihm „Shakespeare’s Antonius und Cleopatra. Auf Grundlage der Tieck’schen [d.i. Graf W. Baudissinschen] Uebersetzung neu bearbeitet und für die Bühne neu eingerichtet“. Diese Einrichtung, die erste nach der Dresdener von J. Pabst (1852) und der Wiener H. Laube’s (1854), fand, trotz des fremdartigen, bei uns kaum einzubürgernden Stoffs, 1870 in Weimar, 1871 im Berliner kgl. Schauspielhaus (wo sie auch 1897 wiederum auf der Tagesordnung stand) relativ günstige Aufnahme. Der letzteren Vorstellung vom 25. Mai 1871 gilt eine ausführliche Recension K. Frenzel’s in seiner „Berliner Dramaturgie“ I, 256–264, der (S. 261) die gelungenen und fragwürdigeren Eingriffe dieser vereinfachenden, scenisch zusammenlegenden Bearbeitung übersichtlich aufzählt. Wilhelm Bolin’s Aufsatz „‚Antonius und Cleopatra‘ in deutscher Bühnenbearbeitung“, im Jahrb. d. dtsch. Sh.-Ges. XVII, 129, 132, 140–43, wägt Leo’s Verfahren nach Gebühr ab. In der gesammten Neubearbeitung des sog. Schlegel-Tieck’schen Uebersetzungswerks, die die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft unternahm, steht XII, 163 ff. seine geschickte und verständnißvolle Neuverdeutschung der „Macbeth“-Tragödie, die man an der unter ihres Vaters Namen laufenden Dorothea Tieck’s recht wohl messen kann. Die bedeutsame Einleitung begründet Leo’s festgehaltene Theorie von der nur aus Liebe zum Gatten zur Verbrecherin werdenden sanftmüthigen Lady Macbeth. 1873–75 hielt L. an der Berliner „Akademie für neuere Sprachen“ Ludwig Herrig’s (s. A. D. B. L, 243) Vorlesungen über Shakespeare: manchen späteren leistungsfähigen Shakespeareaner führte er da [652] in die hohe Sache ein. Beträchtliche Geldopfer erheischte von ihm der 1878 herausgebrachte imposante Großfolioband „Four chapters of North’s Plutarch as sources to Shakespeare’s tragedies Coriolanus, Julius Caesar, Antony and Cleopatra and partly to Hamlet and Timon of Athens“, wo er seine 1864er bezügliche Darbietung für die Coriolanus-Quelle auf alle Römerdramen des Meisters ausdehnte: bloß in 24 Exemplaren für Geschenke gedruckt.

Die Jahrgänge 1880–98 des „Jahrbuchs der deutschen Shakespeare-Gesellschaft“ sind unter seiner umsichtigen und fürsorglichen Redaction erschienen; gegenüber den sofortigen und später auf einzelne Bände erstreckten Bemängelungen aus dem philologischen Lager (auch des Unterzeichneten energische Polemik: „Das Shakespeare-Jahrbuch und die Shakespeare-Forschung“, ‚Gegenwart‘ 1892, 43. Bd. I Nr. 2, S. 25–27, ist doch wesentlich einzuschränken) dürfen sie im ganzen das offene Lob beanspruchen, trotz der Unlust und dem passiven Widerstande vieler Fachgelehrten das „Jahrbuch“ durch Concentration der erreichbaren Kräfte als Centralorgan der Shakespeare-Forschung aufrecht erhalten zu haben. Langwierige Correspondenzen u. a. umständliche Bemühungen hat er bis zum Tode nicht gescheut, um passenden und interessanten Inhalt vorzulegen, auch während einiger Jahre, da das ernste methodische Studium des britischen Dichtergenius zu versanden, wenigstens zu verflachen drohte. Sind nun auch seine eigenen größeren Beiträge zum „Jahrbuch“ nicht gerade zahlreich, so liefern sie doch beinahe alle eine Fülle frischer Materialien. Der seine Leitung eröffnende Band XV (1880) enthält außer seinem genannten zweiten Festvortrag eine Reihe scharfsinniger Bemerkungen zu neuen Textausgaben, besonders gegen Wilh. Wagner’s „Verbesserungs-Vorschläge zu Shakespeare“ in Bd. XIV. Ein Ergebniß seiner 1880 auf Grund einer Einladung zur Grundsteinlegung des Shakespeare Memorial in Stratford unternommenen englischen Reise, wobei er in Oxford ein angebliches Autograph Shakespeare’s der Bodleian Library facsimiliren ließ, war der Artikel „Shakespeare’s Ovid in d. B. L. zu O.“ in Bd. XVI (1881). „Eine Concordanz der Shakespeare-Noten“ in Bd. XVIII (1883) und „Verzeichniß noch zu erklärender oder zu emendirender Text-Lesarten“ in Bd. XX (1885) sind Niederschläge, die seine neue eindringliche Hingabe an peinliche Textkritik gezeitigt hatte. Seine ‚in different Annuals, weekly Papers and Reviews‘ zerstreuten emendatory and critical studies of Shakespeare sammelte er 1885 als „Shakespeare-Notes“ über 20 Dramen. Viele erfuhren Auf- und Annahme, andere Zweifel und Absage, namentlich seitens englischer Berichterstatter solche, für die diese dem Ausländer Urtheil für Ton und Klangfarbe des Verses abstritten; freilich gehen genug seiner Hypothesen gar kühn vor. In dieselbe Rubrik fallen seine Artikel „Hilfsmittel bei Untersuchungen über Shakespeare’s Sonette“ und „Parallel-Zählung der Globe Edition und ersten Folio“ in Bd. XXIII (1888). Im nächsten, XXIV. (1889), steht an der Spitze sein dritter Festvortrag, danach der fesselnde „Rückblick auf das 25jährige Bestehen der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft“; im XXV. (1890) die Mittheilungen über das Autograph der Hamlet-Gefährten „Rosenkrantz und Guldenstern“ nach dem Stammbuch eines deutschen Fürsten, der 1577 den Kopenhagener Hof besuchte. Die volle Breite der in englischen wie deutschen Gebrauch eingesickerten Stellen faßt Leo’s feinsinnige und klar gruppirte Liste „Geflügelte Worte und volksthümlich gewordene Aussprüche aus Shakespeare’s dramatischen Werken“ in Bd. XXVII (1892) ins Auge; ebenda S. 218 legt er sich energisch für das Recht der Text-Säuberung ins Zeug. Ein an Kuno Fischer’s Schrift über Hamlet sich anlehnender Essay in Bd. XXXIII (1897) ist Leo’s letzte längere Beisteuer zum „Jahrbuch“. Sonst jedoch hat dies Kind seiner Sorge zahllose [653] kleinere Notizen, Miscellen, Referate, Nekrologe aus seiner Feder gebracht, die oft voller geistreicher, nicht selten auch paradoxer Momenteinfälle stecken, aber doch fast stets lebhaft anregen. Diese bis zuletzt fortgesetzte Kleinarbeit verzeichnen die Register des Jahrbuchs, dessen periodisch erneuertes General-Register (Jahrb. 29/30, 448) auch der Katalog der Bibliothek der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Schließlich hat L. noch Shakespeare’s Sonette 18, 40, 71, 76 treffend verdeutscht: in seinen „Gedichten“, 3. Aufl. S. 348–51, wo S. 352 eine schöne Wiedergabe „Aus Shakespeare’s Passionate Pilgrim“ („Schwört meine Liebe, sie sei treu und wahr“) steht. – Ein langes, inhaltreiches, mancherlei Früchte, darunter viele reife, bringendes Menschen-, Litteraten-, Forscherdasein, dessen Träger eine Persönlichkeit und ein Charakter war und das in seinen verschiedenartigen litterarischen Aeußerungen längst nicht ausgeschöpft ist.

Persönliche Eindrücke und Beziehungen sowie Correspondenzen. Mittheilungen, besonders Leo’scher Schriften, seitens Frl. Helene Bril’s (späterer Frau Professor Curatolo in Rom), die verständnißvoll nach Wunsch der todten Gattin dem Wittwer bis zu dessen Tod zur Seite stand und das große Hauswesen leitete. Hauptquelle der pietätvolle Nekrolog seines langjährigen Freundes Albert Cohn i. Jahrb. d. Dtsch. Sh.-Ges. XXXV (davor Bildniß) S. 281–294; ebenda S. VI Nachruf des Vorstandes. Zeitungsnotizen Berliner Blätter nach dem Tode. Lebens- u. Charakterskizze von L. Fränkel Biogr. Jahrbuch u. Dtsch. Nekrolog III, 241–43; danach Brümmer, Lex. d. dtsch. Dichter u. Pros. d. 19. Jhs.5 II, 588 (u. S. 402). Die neuesten (1905) unmotivirten antisemitischen Schmähungen Emil Mauerhof’s in seinen „Shakespeareproblemen“ (S. 221 u. 274) seien, ohne weiter Notiz davon zu nehmen, nur verzeichnet. – Wie Leo anläßlich polemischen Auftretens 1862 einmal ein vierzeiliges Spottgedicht unter eine publicistische Veröffentlichung gemischt, so hat er, laut A. Cohn’s Angaben, 1867–82 viele journalistische Gelegenheits-Artikel drucken lassen, „sowohl politische wie litterarische, mitunter auch satirische Verse, in Berliner Zeitungen, u. a. in der Montags-Zeitung von Adolf Glasbrenner, mit dem er eng befreundet war“. Proben seines nimmermüden dichterischen Triebs aus allen Jahrzehnten der Schriftstellerei barg sein handschriftlicher Nachlaß ebenso reichlich wie halbe oder fertige Entwürfe linguistischer, historischer, belletristischer Arbeiten aus seinen Anfängen. – Ueber Leo’s Vermächtnisse s. z. B. Berl. Tagebl. v. 18. Sept. 1898, 1. Beibl.