ADB:Lindner, Ernst Otto Timotheus

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Artikel „Lindner, Ernst Otto Timotheus“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 18 (1883), S. 701–703, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lindner,_Ernst_Otto_Timotheus&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 15:47 Uhr UTC)
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Lindner: Ernst Otto Timotheus L., geb. am 28. November 1820 in Breslau, bezog im J. 1839 die dortige Universität, um Philologie zu studiren, legte sein Doctorexamen ab und wollte die akademische Carriere ergreifen, doch seine liberalen Gesinnungen, sein offenkundiger Unglaube in religiösen Dingen erregten in den damals leitenden Kreisen ein so großes Mißfallen, daß L. es vorzog sich denselben zu entziehen und 1845 eine Hauslehrerstelle in Berlin anzunehmen. Seine musikalische Begabung, seine prächtige Baritonstimme hatten ihn bereits in Breslau zu einem unentbehrlichen Mitgliede aller musikalischen Zirkel gemacht und war er auch in der Breslauer Singakademie unter Mosewius’ Leitung ein stets williger Uebernehmer von Solopartieen in den Oratorienaufführungen. In Berlin fand er in Dehn eine ihm verwandte Natur und obgleich sie sich später feindlich gegenübertraten – eben wegen ihrer ähnlichen Veranlagung – so schlossen sie sich anfänglich eng aneinander an. Sein allumfassender Geist, seine Vielwisserei und sein gewandter Stil verschafften ihm um 1848 eine Stelle in der Redaction der Vossischen Zeitung, er stieg hier sogar bis zum Chefredacteur empor. Bei der bekannten damaligen Haltung der Vossischen Zeitung, die sich den Spotttitel der „Tante Voß“ erworben hatte, konnte L. seine politischen Ideen in keiner Weise zur Geltung bringen, und als im J. 1860 die „neue Aera“ in Preußen begann und die liberale Richtung die Oberhand zu gewinnen schien, steuerte L. mit einer Hast und Unüberlegung in das neue Fahrwasser, daß die alten Leser erschreckt die Zeitung bei Seite legten. L. mußte wohl oder übel wieder zurück in die stille, beschauliche, altväterische, politische Kannegießerei und suchte Ersatz in der Musik und in der Erziehung des Volkes in Gemeindeschule, in Vereinen und Fortbildungsanstalten. Hier lag der Beginn der socialen Frage, die durch L. fort und fort genährt wurde, aber freilich schließlich einen ganz anderen Weg als den anfangs geplanten nahm. L. wollte das Volk zur Urtheilsfähigkeit und besseren Einsicht erziehen; statt dessen ward es nur begehrlicher.

Glücklicher war er in Beziehung auf seine musiklitterarische Thätigkeit, sowol als Recensent, wie als Förderer großer musikhistorischer Unternehmungen. Schon in Breslau durch Mosewius in die Werke Seb. Bach’s eingeweiht, war er fort und fort bemüht dem großen Meister die Bahn zu eröffnen, und als sich im J. 1850 in Leipzig die Bachgesellschaft zur Herausgabe seiner Werke bildete, so war L. einer der eifrigsten Beförderer dieser großen Aufgabe und seiner unermüdlichen Mahnung in öffentlichen Blättern ist es mit zu danken, daß durch eine genügende Subscriptionszeichnung das Unternehmen pecuniär gesichert ward. Neben Bach standen ihm Mozart und Gluck. Es erscheint uns heute fast unglaublich, daß es damals, in den 50er Jahren, noch nöthig war, diesen Heroen in der Kunst das Wort zu reden. Dennoch war es so, denn das Seichte und Mittelmäßige ließ sie nicht aufkommen und es bedurfte der unablässigen Mahnungen und Belehrungen durch einsichtige Kenner wie L., um die große Masse zur Kenntniß und Liebe der Altmeister heranzuziehen. Es ist ein Hauptverdienst Lindner’s, durch seine geschickte und beredte Wirksamkeit in der Tagespresse dafür [702] gewirkt zu haben, daß nicht nur im Opernhaus und im vornehmen Concertsaal, sondern auch in den volksthümlichen Kreisen der Gartenconcerte die klassischen Werke in immer zunehmendem Maße zur Aufführung kamen und endlich Gemeingut des ganzen Volkes wurden. Als im J. 1857 der von Vierling gegründete Bach-Verein aus Mangel eines Dirigenten zu scheitern drohte, stellte sich L. an die Spitze, bis die geeignete Kraft in Wilhelm Rust gefunden war. – Nicht sonderlich harmonirt damit die Vorliebe und thätige Unterstützung durch Wort und Schrift, die er Meyerbeer zu Theil werden ließ. In seiner Schrift: „Meyerbeer’s Prophet als Kunstwerk beurtheilt“ (1850) erkennt man sein sonstiges strenges Urtheil in der Musik nicht wieder; man möchte hier eher einen litterarischen Liebesdienst als ein aus innerster Ueberzeugung ausgesprochenes Urtheil erkennen. Treten doch gerade im Propheten Meyerbeer’s Talente vor der Effecthascherei in bedenklicher Weise zurück und er mochte wol darauf bedacht sein, einen Fürsprecher zu erlangen, trotzdem er sich auf der höchsten Staffel seines Ruhmes befand. Meyerbeer war ein zu vorsichtiger Rechner, um sich auf sein Werk und seinen Ruhm allein zu verlassen.

Auch Schopenhauer, der zu Lebzeiten nur wenig Anerkennung fand, erhielt in L. einen freudigen und feurigen Vertheidiger. Sie traten in persönliche Verbindung und ein Band inniger Freundschaft umschloß sie. L. suchte nicht nur Schopenhauer’s Werke zu verbreiten, sondern kämpfte auch mit der Feder für die Ideen seines Freundes und seinem Werke „Zur Tonkunst“, welches 1864 erschien, ist – freilich sehr am unrechten Orte – eine umfangreiche philosophische Abhandlung beigegeben, so umfangreich, daß der eigentliche Zweck des Buches in den Hintergrund gedrängt wurde; Verfasser wie Verleger sahen sich in ihren Hoffnungen getäuscht, denn Musik suchte man und fand Schopenhauer-Lindner’sche Philosophie. Einen glücklicheren Griff machte er dagegen mit dem musikhistorischen Werke „Die erste stehende deutsche Oper“ (in Hamburg), 1855. Dies äußerst dankbare Feld war damals noch fast gar nicht bearbeitet und ihm bleibt immerhin das Verdienst, es erschlossen zu haben. Uebrigens blieb freilich die Arbeit weit hinter ihrem Ziel zurück, so daß ein Kenner der Hamburger Quellen, wie Arrey v. Dommer, von ihr urtheilt (Musikgesch. 1868, S. 425), sie biete nur „leichtfertig und fehlerhaft zusammengeschriebenes Material“. Wir können uns diesem scharfen Urtheile nicht völlig anschließen, denn wenn L., als ächter Zeitungslitterat, auch ein eilfertiger Arbeiter war, so ist doch hier die „Leichtfertigkeit und Fehlerhaftigkeit“ nicht so bedeutend, daß sie das Werk gänzlich unbrauchbar machte. Das kleine Büchelchen von 200 Seiten mit seinen 37 Seiten Musikbeilagen in Folio füllt bis heute immer noch eine Lücke aus, und nimmt man das von Friedrich Chrysander in der Allgemeinen musikalischen Zeitung in Leipzig über die Oper in Hamburg veröffentlichte Material ergänzend hinzu, so erhält man immerhin etwas recht Brauchbares. Mitten in eifriger Arbeit ward L. nach kurzem Krankenlager am 7. August 1867 vom Tod überrascht, so daß sein letztes Werk „Geschichte des deutschen Liedes im 18. Jahrhundert“ von Freundeshand 1871 herausgegeben werden mußte. Es trägt zu sehr den Stempel des Unfertigen an sich, als daß man es eine Geschichte des deutschen Liedes nennen könnte, doch gibt es über die Zeit von 1733–1783 eine recht gute litterarische Uebersicht, wozu hauptsächlich die zahlreichen Musikbeispiele beitragen, die von Ludwig Erk, dem Herausgeber, noch vermehrt wurden. L. hatte in seinem Charakter eine starke Neigung zum Mephistophelischen, dem stets Verneinenden; eine Eigenschaft, welche in diesem seinem letzten Werke sehr stark hervortritt. Es ist, als wenn er sich die schwächste Periode und die schwächsten Leistungen hervorgesucht hätte, um seinem Sarkasmus Genüge zu thun und das, was er auf politischem Gebiete unterdrücken mußte, hier in anderer Form von [703] sich zu geben. – Seine mit schweren Opfern gesammelte Bibliothek gab ein getreues Abbild seiner Vielseitigkeit und seines Kostens von allem Schönen: wie er unstet wechselnd Philologie, Socialismus, Dichtkunst, Philosophie, Musik und Musikgeschichte trieb, davon gaben seine Bücher mit ihren handschriftlichen Bemerkungen beredtes Zeugniß. Sein früher Tod rief ein allgemeines Bedauern hervor und man beeiferte sich den Todten auf jegliche Weise zu feiern. Er war doch mehr als nur ein Tagesschriftsteller!