ADB:Mülinen, Nikolaus Friedrich Graf von
*): Niklaus Friedrich Graf v. M., Schultheiß von Bern; schweizerischer Geschichtsforscher; † den 15. Januar 1833. – Die Familie von Mülinen, ursprünglich unter den ritterlichen Vasallen des Hauses Habsburg-Oesterreich im Aargau stehend, seit 1469 ausschließlich in Bern fortblühend, wo Herman[1] v. M. 1407 Burgrecht erwarb, gab dem Freistaate Bern eine Reihe von Kriegs- und Staatsmännern. Von Wolfgang v. M. († 1735) stammen die beiden jetzigen Linien des Geschlechtes, deren ältere in Württemberg und in Oesterreich in der diplomatischen Laufbahn bekannt ist, die jüngere Bern angehört. In drei Generationen bernischer Staatsmänner war die letztere seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vertreten: in dem Venner Friedrich († 1769), dessen Sohn Albrecht, der neben Fr. N. von Reiper der beste Schultheiß des alten Bern[2] war († 1807), und in Albrechts Sohne, dem Schultheißen Niklaus Friedrich. Geboren am 1. März 1760, erhielt M. seine erste Bildung im väterlichen Hause, bezog 1779 die Universität Göttingen, wo er juristische, historische und auch naturwissenschaftliche Studien betrieb, Böhmer, Meister, Schlözer, Federer und Gatterer hörte und auch bei Heyne und insbesondere in Blumenbach’s Hause freundliche Aufnahme fand, mit dem und dessen Gattin er später noch lange Zeit in Briefwechsel blieb. Denn besondere Empfänglichkeit und Talent für gesellschaftlichen und brieflichen Verkehr war ihm von frühe an eigen. Im Spätjahr 1780 heimgekehrt, wandte er sich den historischen Studien zu. Das Beispiel seines Vaters, der eine ansehnliche Bibliothek besaß, Arbeiten im bernischen Archive, eigene Entdeckung wichtiger Urkunden und des ältesten Chronicon bernense (Phunt’s Chronik) führten M. in diese Bahn; entscheidend wirkte auf ihn die Bekanntschaft mit Johann von Müller, den er 1783 bei Bonstetten in Valeyres sah, und Müller’s Aufenthalt und Vorträge in Bern im Winter 1785 bis 1786 begründeten eine Freundschaft zwischen Beiden, die erst mit Müller’s Hinschied endigte. 1788 vervollständigte eine längere Reise nach Frankreich, England, Holland und den Rheingegenden Mülinen’s wissenschaftliche und weltmännische Ausbildung. Er sah in Paris Dom Clément und Dom Merle, erhielt ergiebigen Zutritt zu dem Archive von Clugny, erhielt von Malesherbes Empfehlungen nach England und verweilte auf der Heimreise bei Müller in Aschaffenburg, am Hofe des Kurfürsten von Erthal. M. hatte aber auch Gelegenheit, in Frankreich die Anzeichen der dem Ausbruche nahen gänzlichen Umwälzung alles Bestehenden wahrzunehmen. Bald riefen ihn Wirkungen derselben zum ersten Dienste für das Vaterland auf; 1791 und 1792 zog er unter Berns aufgebotenen Truppen in die Stadt[3] zur Stillung dortiger Unruhen und Beschützung [784] der Grenze gegen die vor Genf lagernden Franken. Als Hauptmann führte M. die Grenadiercompagnie des ersten Bataillons vom Regiment Oberland, Mannschaften aus der Landschaft Hasli und Brienz. Sie waren ihm voll ergeben; denn er pflegte sich seiner Leute in Allem anzunehmen und auch auf ihre geistige Ausbildung zu wirken; wie er denn später, vor dem Feinde stehend, ihnen beim Wachtfeuer die Thaten der Väter erzählte. 1795 wurde er Mitglied des gesetzgebenden Großen Rathes, (des „Souveräns“). Im gleichen Jahr erschien in Füßli’s Schweizer Museum seine erste historische Arbeit, ein urkundliches Verzeichniß der Schultheißen von Bern bis 1400. Nicht bloß wissenschaftliche, sondern auch politische Bedeutung hatte seine zweite im Herbst 1797 erschienene Schrift: „Recherches sur les anciennes assemblées du pays de Vaud“; sie trat den jetzt in der Presse eröffneten Angriffen der Wadtländer Fréd. César de Laharpe und J. J. Cart entgegen und widerlegte gründlich und ruhig die ganz haltlosen Behauptungen Laharpe’s in dessen zweibändigem: „Essai sur la constitution du pays de Vaud“. Allein mit wissenschaftlichen Schriften war die revolutionäre Publicistik nicht zu entkräften, die sich mehr und mehr entfaltete und ihre eigentliche Absicht erreichte. Begünstigt durch Frankreich vollzogen sich der Sturz der bernischen Herrschaft über die Wadt, unter dem Einrücken der Franzosen, der Krieg der Letzteren unter General Brune gegen Freiburg, Solothurn und Bern und die Umgestaltung der Eidgenossenschaft in eine helvetische Republik. M., der am 10. Januar 1798 die ihm aufgetragene Beeidigung wadtländischer Milizen in Vevey nicht mehr hatte durchsetzen können, war als Mitglied des Großen Rathes und als Officier bei den Ereignissen betheiligt. Mit seiner Grenadiercompagnie dem Centrum der bernischen Armee zugetheilt, focht er in den ersten Märztagen 1798 bei Gümmenen und Laupen gegen Brune’s Truppen. Er hatte die Genugthuung, daß in der politisch-militärischen Katastrophe, die jetzt über Bern hereinbrach, das Bataillon Franz Wurstemberger, dem er angehörte, und seine Grenadiere bis zum letzten Augenblicke fest und treu verblieben. Als die Nachricht von der Einnahme Berns durch General Schaumburg im Rücken der an der Saane und Sense stehenden Ueberreste des Heeres jeden weiteren Widerstand hier unmöglich machten, wandten sich M. und seine Gefährten nach dem Oberlande, um dort alle Kräfte zur Fortsetzung des Kampfes zu sammeln. Allein nur mit Noth gelang es M., mit wenigen Begleitern, an dem, vom Feinde besetzten Bern, vorbei nach Thun und nach Interlaken zu entkommen, wohin Mülinen’s Familie am Tage der Uebergabe der Hauptstadt sich geflüchtet hatte. Von Fortsetzung des Krieges konnte keine Rede sein. Denn überall erfüllte die Massen der von Frankreichs Werkzeugen verbreitete Wahn des Verrathes des Vaterlandes durch die gewesenen Regenten; Wahn, dem General von Erlach zum Opfer gefallen, dessen Wirkungen selbst Schultheiß Reiper[4] mit Noth entgangen war. M. selbst fand erst in Brienz sichere Zuflucht für sich und die Seinigen. Einer unerwarteten, mit Androhungen begleiteten Aufforderung, sich als Mitglied einer ernannten provisorischen Regierung in Bern einzufinden, folgte er nur, um seinen durch die Ereignisse und mannigfach erlittene Kränkungen tiefgebeugten Vater wiederzusehen und ihm beizustehen, als die Franzosen am 10. April den Altschultheißen und sieben andere Mitglieder der ehemaligen Regierung plötzlich als Geiseln nach Hüningen entführten. Dann wandte er sich nach seinem Gute Neuhaus bei Wichtrach, daß er früher bewohnt hatte; im März 1799 aber nach Hofstetten bei Thun, wo er in einem erworbenen Landsitze dem ihm befreundeten Oberlande nahe war und sein aus der Gefangenschaft in Hüningen und Straßburg entlassener greiser Vater Wohnung nahm. Seinen Studien wiedergegeben, Amtsanerbietungen des Helvetischen Directoriums ablehnend, blieb M. ein aufmerksamer Beobachter der Zeitereignisse. Als 1801 die Landschaft Hasli ihn zu ihrem Vertreter in eine [785] Tagsatzung der Kantone Bern und Oberland wählte, protestirte M. mit seinen Wählern gegen Uebergriffe der unitarischen Regierung. Zur Zeit des föderalistischen Reding’schen Senates übernahm er das Präsidium der Verwaltungskammer des Kantons Oberland, trat aber nach Reding’s Sturze aus dieser Stellung zurück, und schloß sich den Bestrebungen thätig an, welche in Bern und anderwärts darauf gerichtet waren, die Schweiz von dem Drucke Frankreichs und der unter dessen Schutze geübten Herrschaft der Unitarier zu befreien und ihr das Recht eigener Constituirung zu erringen. Obwol er der Gewaltsamkeit eines bewaffneten Aufstandes nicht geneigt war und über die einzuführende neue Gestalt der kantonalen und schweizerischen Verhältnisse vielfach anders dachte, als manche seiner bernischen Freunde, stellte sich M. doch, als die Erhebung unvermeidlich wurde, entschlossen in die Linie. Er nahm den eingreifendsten Antheil an der Organisation des Aufstandes im Oberlande, der demjenigen der Waldstätte, Zürichs und des Aargaues die Hand reichte; er wurde Mitglied der bernischen provisorischen Vollziehungsbehörde (Standescommission) und ging in deren Auftrag nach Paris, um dem Hülfgesuche der helvetischen Regierung bei dem Ersten Consul Bonaparte und seinem Minister des Aeußern, Talleyrand, entgegenzuwirken und die Erhebung der Schweiz zu rechtfertigen. Mit allem Nachdrucke strebte er an, daß Frankreich die Entscheidung des Conflictes nicht nach Paris ziehe, sondern sich darauf beschränke, seine Ansicht in der Schweiz selbst auszusprechen. Allein Bonaparte war schon entschlossen, als „Mediator“ der Schweiz eine Verfassung nach seinem Sinne zu geben. M. konnte zu einer Audienz beim Consul nicht gelangen, kehrte heim und in Paris trat die von Bonaparte einberufene Versammlung <tt(Consulta) schweizerischer Vertreter zusammen, aus deren Verhandlungen mit dem Consul die „Mediationsverfassung“ für die Schweiz und die entsprechenden kantonalen Verfassungen hervorgingen. M. hatte die Aufforderungen zu amtlicher Betheiligung an der Consulta abgelehnt, welche die bernische Standescommission und die Gemeinde Bern an ihn richteten. Als indessen Bonaparte durch angesehene Schweizer in Paris an M. und dessen Freund, Emanuel von Wattenwyl-Landshut, den gewesenen Anführer der bernischen Truppen, die dringende Aufforderung ergehen ließ, sich bei ihm einzufinden, glaubten sie es ihrer Pflicht gegen Bern und die Schweiz schuldig zu sein, sich diesem Rufe nicht zu entziehen und wenigstens als bloße Privatmänner dem Consul ihre verlangten Ansichten vorzutragen. Am 23. Februar 1803 zu einer Audienz beschieden, in welcher derselbe sie durch seine tiefe Kenntniß aller schweizerischen Verhältnisse und wunderbare Darstellungsgabe in Erstaunen setzte, erwarben sie sich seine persönliche Anerkennung durch ihre bestimmte Weigerung, die Freiheit und Selbständigkeit der Schweiz seinen Anerbietungen von Macht und Ehren aufzuopfern. Der Vorgang hatte zur Folge, daß M. bei Abschluß des Mediationswerkes vom Consul selbst zum Mitgliede der siebengliedrigen Commission ernannt wurde, welche die neue Verfassung des Kantons Bern einzuführen beauftragt war, und daß er in Bern bei der Wahl der definitiven Regierungsbehörden vom Bezirke Thun zum Mitglied des Großen Rathes und von dieser Behörde zum Mitgliede des Kleinen Rathes und zweiten Schultheißen ernannt wurde. In dieser Stellung stand M. an der Seite eines vertrauten Jugendfreundes, des ersten Schultheißen N. Rudolf von Wattenwyl-Montbenay (1804 und 1810 Landammann der Schweiz), an der Spitze des neuen bernischen Gemeinwesens und leitete mit Wattenwyl, mit dem Kleinen Rathe und dessen engerem Ausschuß, dem Staatsrathe, die Organisation des Kantons und dessen Ueberführung aus den politisch und finanziell trostlosen Zuständen der Revolutionsepoche zu neuem Aufblühen. M. war es auch, der das erste Nationalfest [786] in der befriedeten Schweiz ins Leben rief und leitete, das Aelplerfest von 1805, in Uspunnen[WS 1] bei Interlaken. Schon Ende 1806 bewog ihn aber Kränklichkeit zum Rücktritt vom Schultheißenamt. In Hofstetten, wohin er sich zurückzog, lebte er nun seinen Studien, vielbesucht von nah und fern, auch von fürstlichen Persönlichkeiten, welche die Schweiz bereisten, und in ausgedehntem Briefwechsel. Mit Müller, mit Hormayr u. A., auch mit Erzherzog Johann von Oesterreich, stand er in wissenschaftlichem Verkehre. Im Winter 1808/9 in Nizza, benutzte er die Heimreise zum Besuch der Archive von Mailand und Turin und des gelehrten Historikers Chorherrn de Rivaz in Sitten. Im December 1811 gab er dem längst gehegten Gedanken der Stiftung einer schweizerischen geschichtforschenden Gesellschaft Vollzug. Eingeladen durch ihn, versammelten sich in seiner Wohnung in Bern die dortigen Geschichtsfreunde und constituirten sich unter Cooptation von Fachgenossen in der übrigen Schweiz nach Mülinen’s Entwurfe. Als Vorstand der Gesellschaft eröffnete M. ihre Zeitschrift, den „Schweizerischen Geschichtforscher“ (1812) mit einer Geschichte der Dynasten von Weissenburg im Oberlande. Die Ereignisse von 1812 und 1813 riefen M., dessen Gesundheit sich wieder gekräftigt hatte, aufs Neue in eine vielbewegte politische Laufbahn. Durch die Kunde von Napoleon’s Rückzug aus Rußland wurde auch in der Schweiz, in Bern zumal, die Anschauung rege, es nahe die Möglichkeit, den trotz aller Wohlthat des Mediationswerkes tief empfundenen Druck des übermächtigen Frankreich abzustreifen. Schon im März 1813 nahm der Staatsrath von Bern Mülinen’s Gedanken auf, durch Vorbereitung möglichst umfassender Landesbewaffnung und eine Erklärung an die Mächte, der Schweiz eine neutrale Stellung und selbständige Entscheidung in ihren Angelegenheiten in der bevorstehenden europäischen Krisis zu sichern. Allein, der Landammann der Schweiz, Reinhard in Zürich, an den M. mit diesem Vorschlag gesandt wurde, fand denselben verfrüht und nur geeignet, die Schweiz in Conflict mit dem noch in voller Kraft schaltenden Beherrscher Frankreichs zu bringen, dessen italische Truppen zudem seit 1810 den schweizerischen Kanton Tessin besetzt hielten. Rascher, als gedacht, nahte die Entscheidung. Als die Heere der Alliirten Ende 1813 am Rheine erschienen und den Durchzug durch die Schweiz verlangten, konnte sich diese ihrem Verlangen nicht entziehen, und sah sich durch die Erklärung der Mächte, sie betrachten die Mediationsacte als mit dem Sturze ihres Urhebers für dahin gefallen, vor die Aufgabe gestellt, sich eine neue Staatsform zu geben. Allein erwachender Parteikampf, den eine häßliche Intrigue Metternich’s durch in Bern erweckte Hoffnungen, und dadurch in der Schweiz gegen Bern erregte Befürchtungen und Unwillen aufs Heftigste schürten, erschwerte diese Aufgabe so sehr, daß ihre volle Lösung nicht ohne schließlichen Schiedspruch der Mächte möglich war. Da Schultheiß von Wattenwyl in dieser Zeit durch den ihm übertragenen Oberbefehl über die schweizerischen Truppen voll in Anspruch genommen war, so fiel M., der seinen Ansichten näher stand, als der zweite Schultheiß, Freudenreich, die Hauptrolle in den bernischen Räthen bei den Ereignissen und zugleich die Aufgabe zu, als Berns erster Vertreter in seinen Beziehungen zur Eidgenossenschaft zu handeln. Sein Verhalten hiebei war ihm durch sein lebhaftes Gefühl für Pflicht und Ehre, wie durch seine Ansichten über eine der Entwicklung gemäße Gestaltung der schweizerischen Dinge vorgezeichnet. Als Mitglied der nach der kantonalen Verfassung von 1803 bestehenden Regierung widersetzte er sich mit aller Energie dem durch Metternich’s Sendling, den Grafen Senft-Pilsach, an dieselbe gestellten Ansinnen, ihre Gewalt niederzulegen und damit eine Rückkehr Berns und der Schweiz zu den Zuständen vor 1798 einzuleiten. Erst als das Erscheinen des Vortrabs der alliirten Heere in Bern, und Nachrichten aus Zürich über die [787] Aeußerungen dortiger Bevollmächtigter Oesterreichs und Rußlands den Aufforderungen des Grafen Senft das Gewicht authentischer Willenserklärung der Mächte zu verleihen schienen, stimmte auch M. dem Abdicationsbeschlusse des bernischen Großen Rathes zu. Aber die neue oberste Behörde stellte am 24. December wieder Wattenwyl und M. an Berns Spitze. M. setzte nun zunächst mit seinem Collegen die zeitgemäße Erweiterung des Großen Rathes durch Aufnahme einer größern Anzahl von Repräsentanten der Landschaft und der Municipalstände des Kantons durch, und übernahm es hiernach[5], in der Eidgenossenschaft die beiden Ziele zu verfolgen, die Bern nunmehr als die ihm gegebenen betrachtete: Neugestaltung der Schweiz durch die einstigen 13 Kantone der alten Eidgenossenschaft von 1798, und Entschädigung für Bern, für den damals erlittenen Verlust der Wadt und des bernischen (reformirten) Aargau. Daß von Wiedervereinigung der Wadt mit Bern nicht die Rede sein könne, wenn haltbare Zustände geschaffen werden sollen, verhehlte sich M. nicht. Dagegen schien der Wiedergewinn des Aargau – der einstigen Heimath seiner Vorfahren – für Bern, ihm nicht undenkbar, bei der losen, aus Landschaften ve[r]schiedenartigster Vergangenheit und entgegengesetzter Natur bestehenden Zusammensetzung des erst 1798 geschaffenen Kantons Aargau, zumal als Compensation für einen unzweideutigen Verzicht auf die Wadt. Allein diesen Bestrebungen Berns stand die Thatsache entgegen, daß sich schon am 29. December in Zürich unter Reinhard’s Führung, eine Anzahl von Kantonen dahin geeinigt hatte, die Neugestaltung der Schweiz auf den Bestand der 19 durch die Mediationsacte anerkannten Kantone zu begründen, daß Wadt und Aargau sich unter den Versammelten befanden und sich jeder Anforderung von Bern um so entschiedener widersetzten, je heftiger eine Kundmachung sie hatte verletzen müssen, in welcher Bern gegen Mülinen’s nachdrücklichen Widerspruch, schon am 24. December ihre Wiedervereinigung mit Bern feierlich proclamirt hatte. Was M. nach seinen Aufträgen anstrebte, erwies sich unerreichbar. Als gegen Mitte Januar 1814 die drei alliirten Monarchen, von ihren Ministern begleitet, in Basel erschienen, wo Reinhard an der Spitze einer Abordnung der Eidgenössischen Versammlung in Zürich. M. und Rathsherr Zeerleder als Abgeordnete von Bern zu ihrer Begrüßung erschienen und entgegengesetzte Absichten befürworteten, zeigte es sich, daß Oesterreich und Preußen die entscheidende Stimme in den schweizerischen Angelegenheiten an den russischen Kaiser Alexander zu überlassen gewillt waren, der von seinem ehemaligen Erzieher, General Fr. César de Laharpe, für die Schweiz und für den Kanton Wadt insbesondere gewonnen, über Metternich’s Intrigue heftig erzürnt, sich entschieden gegen Berns Absichten erklärte. Und als am 13. März die Alliirten ausdrücklich aussprachen, daß sie nur die von Zürich einberufene und daselbst tagende Versammlung als Vertretung der Schweiz anerkennen, mußte Bern den von ihm durch M. geleiteten Versuch einer Tagsatzung der 13 Orte in Luzern aufgeben. Die Art, in welcher M. nach dieser Entscheidung der Dinge die nicht leichte Aufgabe erfüllte, als Berns Vertreter in der Tagsatzung in Zürich zu erscheinen und an ihren Berathungen über den neuen schweizerischen Bundesvertrag theilnahm, erwarb ihm unverweilt die vollste Achtung der Versammlung und bald das Zutrauen ihrer Mehrheit. Als Haupt einer Abordnung derselben ging er im Mai 1814 zur Beglückwünschung Ludwigs XVIII. nach Paris; im März 1815 ward er Mitglied der diplomatischen Commission, die aus dem Tagsatzungspräsidenten, Bürgermeister David von Wyß, und dem Bürgermeister Wieland von Basel bestehend, alle Verhandlungen mit den Mächten und wichtige innere Angelegenheiten in erster Linie zu leiten hatte, und nach Beschwörung des Bundes, am 7. August 1815, stand M. an der Spitze der Commissäre, die den letzten Unfrieden in der Eidgenossenschaft, die [788] Entzweiung des Kantons Nidwalden, beilegten. Die vielbewegte Zeit blieb für M. nicht ohne den Gewinn mancher interessanten persönlichen Berührung, wie er denn in Basel nicht nur Metternich, und den von der Universitätszeit her ihm befreundeten Minister Graf Stadion sah, sondern auch mit dem Freiherrn von Stein bekannt wurde, der sich später Mülinen’s Vermittlung in der Schweiz für die Arbeiten der Deutschen Geschichtforschenden Gesellschaft erbat. Auch an äußerer Anerkennung seiner Verdienste fehlt es M. nicht. Am 14. Juni 1816 erhob Kaiser Franz II. M. und auf dessen Wunsch auch Mülinen’s einzigen übrigen Verwandten aus der älteren Linie des Geschlechtes, den Kammerherrn und Flügeladjutanten des Kronprinzen von Württemberg, Bernhard Albrecht Rudolf v. Mülinen, und beider Nachkommen in den österreichischen Grafenstand. König Friedrich Wilhelm von Preußen, als Fürst von Neuenburg Berns befreundeter Nachbar, ertheilte den Schultheißen von Wattenwyl und M. 1817 das Großkreuz des Rothen Adlerordens, und König Ludwig XVIII. beschenkte M. mit seinem von Rouget gemalten lebensgroßen Bildnisse. Am meisten erfreute es M., als die Landsgemeinde von Nidwalden ihm 1816 zum Zeichen ihres Dankes das dortige Landrecht verlieh; denn niemals war diese Auszeichnung einem Schweizer reformirter Confession zu Theil geworden. Mittlerweile war M. bei definitiver Bestellung der bernischen Regierung am 14. Januar 1814 wieder Wattenwyl’s College als Schultheiß geworden und blieb nun bis 1827 in diesem Amte, das 1818 und 1824 ihm auch das Präsidium der schweizerischen Tagsatzung übertrug. Enges Vertrauen verband fortwährend die beiden Freunde, welche Bern leiteten. Die Grundgedanken ihrer Politik waren: Unabhängigkeit der Schweiz von den Einflüssen des Auslandes, Festhalten an den historisch gegebenen schweizerischen Staatsformen, aber auch Weiterbildung derselben nach dem Bedürfniß concreter Verhältnisse, nicht nach bloßer Staatstheorie. Von den Resten der Unitarier und von dem Liberalismus einer jüngern Generation durch ihre Anschauungen geschieden, hatten sie übrigens meist gegen Richtungen ganz entgegengesetzter Natur zu kämpfen. Denn die Ideen unbedingter Rückkehr zu einer nicht wiederzubringenden Vergangenheit fanden in Bern nicht allein ihren schärfsten und unbeugsamsten Theoretiker, Karl Ludwig von Haller (Bd. X, 431), sondern bei einem Theile des herrschenden Patriziates vielfachen Anklang und unter den in Bern residirenden Vertretern des Auslandes oft recht intrigante oder anmaßliche Förderer. Der ultramontane baierische Gesandte von Olay[6], der französische Botschafter, Marquis von Moustiers u. A. m. bereiteten der bernischen Regierung manche Unannehmlichkeit, die empfindlicher war, als die Sticheleien der Bern feindlichen Presse in einigen Kantonen der Ostschweiz. Mit Festigkeit begegnete sie Beiden. M. sprach seinen Aberwillen gegen eine leidenschaftliche Restaurationspolitik, wie gegen das Andrängen revolutionärer Ideen, oft in gedankenreicher und eindringlicher Weise, vorzüglich in seinen Tagsatzungsreden aus. Die Muße der Friedensjahre benutzte er 1817 zur Wiederbelebung der Geschichtforschenden Gesellschaft, deren Versammlungen und Arbeiten die Ereignisse der Jahre 1812–1815 unterbrochen hatten und gründete sich 1818 unter Verkauf seines Hofstetten, ein neues idyllisches Heim in der „Carthause“ unweit Thun, Einheimischen und Fremden eine wohlbekannte Stätte edelsten Empfanges. 1827 nöthigte ihn erneute und schwere Kränklichkeit zum Rücktritt vom Schultheißenamte und aus dem Kleinen Rathe; auf Einladung des Großen Rathes behielt er unter Vorbehalt völliger Freiheit seinen Sitz in dieser Behörde und als ihr Vertreter im Staatsrathe. Nun vollerer Muße genießend, lebte er ausgebreitetem Verkehr mit Historikern des In- und Auslandes und uneigennützigster Unterstützung ihrer Forschungen. Eigene, früher in Aussicht genommene Arbeiten auszuführen, gestattete ihm seine [789] Gesundheit nicht mehr. Im Großen Rathe von Bern erhob er sich 1829 mit Nachdruck für ein Entgegenkommen Berns gegenüber Wadt in der bis auf heute die Kantone trennenden „Ohmgeldfrage“ und für die Pflicht und Wichtigkeit, kantonale Geldinteressen den höhern moralischen der Einigkeit unter Bundesgliedern aufzuopfern. 1830 sah er, tiefbekümmert, die Wirkungen der französischen Julirevolution über die Schweiz, zuletzt auch über Bern, sich verbreiten und hielt für Pflicht, das Ansehen der Regierung den Drohungen einer Umsturzpartei gegenüber zu behaupten, und nur durch die verfassungsmäßigen Organe die billigen Wünschen entgegenkommenden Abänderungen in der Staatsform schaffen und einführen zu lassen. Dem am 13. Januar 1831 von seinem Amtsnachfolger Schultheiß Fischer (Bd. IX. 57) eingebrachten, von 200 Stimmen gebillten Antrage auf Niederlegung der Gewalt, widersprach M. mit 18 andern Gliedern des Rathes. Zwei Jahre später, am 15. Januar 1833 folgte er seinem, am 10. August 1832 verstorbenen Freunde Wattenwyl im Tode nach. In der Stille ein aufmerksamer Beobachter der Zeitereignisse, Jüngere zur Betheiligung an den vaterländischen Angelegenheiten auch unter neuen Formen ermahnend, mit Freunden noch im wissenschaftlichen Verkehr hatte der Greis seine beiden letzten Lebensjahre zugebracht.
Mülinen- Schweizerischer Geschichtforscher, Bd. 9, (Biogr. Mülinen’s von J. L. Wurstemberger), Bern 1837. – Maurer-Constant, Briefe von J. von Müller, Fünfter Band, Schaffh. 1840. – Familiengeschichte und Genealogie der Grafen v. M., Berlin, A. Duncker 1844. – Stern, A., Briefe des Freiherrn vom Stein an N. Fr. v. Mülinen, Hannover, Hahn 1883. – Leben der beiden Bürgermeister von Wyß, Zürich, S. Höhr 1885.[7]
[783] *) Zu S. 494.
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ S. 783. Z. 19 v. o. l.: Hemman (st. Herman). [Bd. 24, S. 787]
- ↑ S. 783. Z. 26 v. o. l.: Steiger, der letzte Schultheiß des alten Bern. [Bd. 24, S. 787]
- ↑ S. 783. Z. 1 v. u. l.: in die Wadt. [Bd. 24, S. 787]
- ↑ S. 784. Z. 14 v. u. l.: Schultheiß Steiger. [Bd. 24, S. 787]
- ↑ S. 787. Z. 8 v. o. l.: nachher (st. hiernach). [Bd. 24, S. 787]
- ↑ S. 788. Z. 18 v. u. l.: Olry (st. Olay). [Bd. 24, S. 787]
- ↑ S. 789. Z. 23 v. o. l.: Fr. v. Wyß, Leben der beiden Bürgermeister etc., 2 Bde. Zürich 1885. [Bd. 24, S. 787]
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ gemeint ist das Unspunnenfest nahe der Burg Unspunnen bei Interlaken