ADB:Nicolai, Philipp
Jeremias (vgl. oben S. 592); auf diesen folgten außer einem fünften früh verstorbenen Sohne noch drei Töchter. N. zeigte von früh an hervorragende Geistesgaben und eine entschiedene Neigung für den geistlichen Beruf, für den er wie seine Brüder von den Eltern bestimmt war. Gerade wie den beiden ältesten Söhnen, Johannes und Jonas, ließen die Eltern auch den beiden jüngeren unter eignen Entbehrungen einen vortrefflichen Unterricht zu theil werden. Wohl vorbereitet wurden sie im J. 1567 nach Rhoden gegeben, wahrscheinlich um von dem dortigen Pfarrer Matthäus Taschen weiter unterrichtet zu werden. Von hier kam N. im J. 1568 auf die Schule in Kassel, auf welcher damals auch seine beiden älteren Brüder waren. Hier wurde neben der Religion und den classischen Sprachen namentlich eifrig Musik getrieben. Im J. 1570 kam N. auf die Schule nach Hildesheim, 1571 nach Dortmund. Am letzteren Orte war er mit seinen Brüdern Jonas und Jeremias zusammen; alle drei mußten, wie es scheint unfreiwillig, im Herbst 1572 dieses Gymnasium verlassen. Darauf waren alle vier Brüder eine kurze Zeit zusammen in Mühlhausen auf der Schule; doch wurden unser Philipp und Jeremias im Frühling 1573 wieder in Dortmund aufgenommen. Hier arbeitete N. im Herbst 1573 ein lateinisches Gedicht in 174 Hexametern aus, dessen sämmtliche Wörter mit einem C anfangen; es behandelt „Certamen corvorum cohabitum columbis“ und bezieht sich auf die kirchlichen Streitigkeiten jener Zeit. Damals unterschrieb er sich noch: Philippus Rafflenbolius Mengerchusanus. Den Sommer 1574 scheint er in Wittenberg verbracht zu haben; wenigstens erschien mit der Angabe „Ex Wittenberga, in festo Michaelis a. 1574“ ein lateinisches Gedicht von ihm „Pacis pietatisque periclitatio“ in 241 Hexametern, dessen sämmtliche Wörter mit einem P beginnen; auf dem Titel nennt er sich hier: Philippus Nicolai Mengeringhusanus. Auch dieses Gedicht hat einen theologischen Inhalt und läßt schon seinen Eifer für die reine Lehre erkennen. Vom Herbst 1574 an besuchten darauf Jonas, Philipp und Jeremias noch eine kurze Zeit die Schule in Corbach, welcher damals Rudolph Gockel (Goclenius, später in Kassel) vorstand. N. hat dann, und zwar wahrscheinlich im Herbst 1575, seine Universitätsstudien in Erfurt begonnen. Durch lateinische Gedichte hat er sich dort seinen Unterhalt zu erleichtern gesucht. Nachdem sein Bruder Jonas am 10. April 1576 zu Hause bei den Eltern gestorben war, erkrankte bald auch die Mutter bedenklich. Als sie am 27. Mai 1576 starb, umstanden die drei noch lebenden Söhne ihr Sterbebett. N. bezog sodann im Herbst 1576 die Universität Wittenberg und ist hier wol bis zum Frühjahr 1579 geblieben. Sicher ist, daß er vom [608] Herbste 1579 bis zum October 1580 mit seinem Bruder Jeremias im Kloster Volkhardinghausen (in der Nähe von Mengeringhausen) mit Studien beschäftigt verweilte; von hier aus unterstützten sie des Sonntags mitunter ihren Vater im Predigen. Eine Frucht dieser Studien sind seine „Commentariorum de rebus antiquis Germanicarum gentium libri sex“, ein Werk, das für seine Zeit wegen des Umfanges der Quellenforschungen und wegen der patriotischen Gesinnung seines Verfassers von Interesse ist. Im October 1580 siedelten die Brüder nach Mengeringhausen über; N. zog dann jedoch wieder nach Volkhardinghausen, als die Pest (1581–1582) in Mengeringhausen wüthete. Im August 1583 erhielt er seine erste Anstellung als Pfarrer in Herdecke, von wo sein Vater früher vertrieben war. Auch er hatte hier mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen; der katholische Magistrat widersetzte sich seiner Wirksamkeit, und als die Spanier von Belgien aus in Westfalen einfielen, mußte er auf einige Wochen nach Wetter fliehen (März 1584). In Herdecke arbeitete N. seine erste Streitschrift gegen die Reformirten aus: „Fundamentorum Calvinianae sectae cum veteribus Arianis et Nestorianis communium detectio“, welche zu Tübingen mit einer Vorrede der dortigen theologischen Facultät 1586 erschien (2. Aufl., Hamburg 1609). Im J. 1586 mußte er Herdecke verlassen; sei es nun, daß er von den „heillosen Papisten“, wie Dedeken (s. u.) sagt, vertrieben ward, oder daß er, wie andere angeben, freiwillig der Uebermacht wich. Er soll darauf (auch im J. 1586) eine Zeitlang heimlich Prediger bei den Evangelischen in Köln gewesen sein. Im Januar 1587 trat N. darauf die Stelle des Diakonus in Nieder-Wildungen an, wohin er auf Verwendung des Grafen Franz und der verwittweten Gräfin Margaretha von Waldeck berufen war; im November 1588 berief ihn die Gräfin Margarethe zum Pfarrer nach Alt-Wildungen; er wurde hier zugleich Hofprediger und Informator des jungen Grafen Wilhelm Ernst. Es ist dies die Zeit der heftigsten Streitigkeiten innerhalb der lutherischen Kirche und mit den Reformirten über die Lehre vom Abendmahl und im Zusammenhange damit über die Lehre von der Ubiquität. Schon ehe N. nach Nieder-Wildungen kam, war zwischen den dortigen Predigern Pusche und Reinemann ein heftiger Streit über die Ubiquität ausgebrochen, und N. wurde nun auch alsbald selbst in diese Streitigkeiten verwickelt. Er stand entschieden auf der Seite der lutherischen Orthodoxie; doch nahm er eine selbständige Stellung ein in der Art, wie er die Lehre von der Ubiquität auffaßte und begründete (vgl. namentlich Dorner in dem hernach zu nennenden Werke); seine Gegner waren im Waldeckischen hauptsächlich die Prediger Justus Crane und dessen Sohn Heinrich Crane, ferner der Kanzleirath Johannes Backbier; doch fand Nicolai’s Auftreten bald in weiteren Kreisen Beachtung und Anerkennung. Die Einzelheiten des Streites erzählt besonders ausführlich Curtze (im Leben Nicolai’s, s. u.). Als Aegidius Hunnius (vgl. A. D. B. XIII, 415), eine der Hauptstützen der lutherischen Theologie, damals Professor in Marburg, N., der sich nun schon eines theologischen Rufes erfreute, zum Doctor der Theologie machen wollte, verbot der Landgraf Wilhelm von Hessen, von den calvinischen Gegnern Nicolai’s dazu veranlaßt, der theologischen Facultät die Promotion; obgleich N. schon in Marburg sein Examen bestanden und seine Disputation „De duobus antichristis primariis Mahumete et Romano pontifice“ (gedruckt mit Vorwort von Hunnius) am 15. August 1690 gehalten hatte, mußte er doch, ohne promovirt zu sein, wieder abziehen. Als jedoch Hunnius nach Wittenberg versetzt war, lud er N. dorthin ein und hier wurde N. dann am 4. Juli 1594 Doctor der Theologie. Das Ergebniß seiner damaligen Studien legte er dann vorzüglich nieder in seinem größeren Werke „Nothwendiger und ganz vollkommener Bericht von der ganzen calvinischen Religion, ..... sammt derselben aus heiliger Schrift Widerlegung“, Frankfurt [609] 1596, 2. Ausgabe 1597 (vgl. einen Auszug aus diesem Werke bei Curtze a. a. O., S. 57 ff.). In demselben Jahre erschien dann auch die Schrift „Methodus controversiae de omnipraesentia Christi“ (Francof. 1596, Curtze S. 71 ff.). Heftigere polemische Schriften sind nicht viele erschienen; aber so sehr wir uns auch durch die Art dieser Polemik abgestoßen fühlen und so wenig die Beweisführung derselben uns auch genügt, daß es ihm ein heiliger Ernst war, daß es ihm den Bestand der christlichen Wahrheit galt, und auch daß er nicht um des Streites, sondern um des Friedens willen gekämpft hat, kann Niemand leugnen. Curtze sucht nachzuweisen, daß N. auch noch in Wildungen die vier geistlichen Lieder gedichtet hat, die wir von ihm haben. Durch sie und namentlich durch die zwei bedeutendsten unter ihnen: „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ und „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, hat er sich ein bleibendes Gedächtniß in der deutschen evangelischen Kirche gestiftet; sie gehören mit Recht zu den bekanntesten und beliebtesten Kirchenliedern und haben in der Geschichte des Kirchenliedes dadurch, daß sie den Uebergang von den Liedern der Reformationszeit zu den mehr subjectiven Glaubensliedern bilden, eine ganz besondere Bedeutung; ihre Innigkeit und ihr wol kaum sonst in gleicher Weise erreichter musikalischer Schwung zeigen, daß N. ein Dichter von Gottes Gnaden war. Daß das erstere dieser beiden einem weltlichen Liede „Wie schön leuchten die Aeugelein der Schönen und der Zarten mein“ nachgedichtet sei, ist eine namentlich durch v. Winterfeldt aufgebrachte Meinung, die, obschon sie durch innere und äußere Gründe (vgl. vor allem Curtze S. 84 ff.) längst widerlegt ist, sich noch immer wieder ausgesprochen findet; vielmehr ist das weltliche Lied für eine Parodie des geistlichen zu halten. Im October 1596 zog N. von Wildungen nach Unna; er hatte den Ruf in das dortige Pfarramt erst angenommen, als er zum dritten Mal an ihn gelangt war; man begehrte dort seiner als eines erprobten Vertheidigers der lutherischen Lehre gegen die Angriffe der Reformirten, und so wurde ihm auch sein Aufenthalt hier, der fünf Jahre dauerte, zu einer Zeit schwerer kirchlicher Kämpfe. Dazu kam viel häusliches Leid – im J. 1597 starben ihm zwei Schwestern – und eine furchtbare Pestepidemie. Während der Pest, in der er furchtlos seiner Gemeinde beistand, war seine Erquickung anhaltendes Nachdenken über das ewige Leben und den Zustand der Seelen nach dem Tode; so entstand sein berühmtestes ascetisches Werk „Freudenspiegel des ewigen Lebens“, zuerst erschienen Frankfurt a. M. 1599 und dann oft wieder gedruckt; im Anhange zu diesem Werke finden sich drei seiner Lieder abgedruckt, unter ihnen auch die beiden obengenannten, die aber wahrscheinlich vorher schon als Einzeldrucke erschienen sind. Als die Spanier Ende 1598 nach Unna kamen, mußte N. auf Wunsch des Senates aus der Stadt fliehen; man befürchtete, daß sie ihm, der in seinen Schriften das Papstthum so oft angegriffen habe, etwas zu Leide thun möchten; er hielt sich zuerst bei seinem Bruder in Mengeringhausen und dann in Alt-Wildungen auf; Ende April 1599 kehrte er nach Unna zurück. Aber er sollte noch nicht zur Ruhe kommen. Die Reformirten waren besonders gegen ihn aufgebracht durch seine neue, mehr populäre Streitschrift gegen sie: „Kurzer Bericht von der Calvinisten Gott und ihrer Religion“, zuerst 1598 erschienen (Curtze S. 188 ff.), die allerdings auch nach dem damals geltenden Maße in der Polemik die Grenzen des Erlaubten überschreitet; sie ist „eines der berüchtigtsten Producte der interconfessionellen Streitlitteratur des 16. Jahrhunderts“ (Wagenmann, vgl. unten) und wird von den Gegnern nicht ohne Grund ein „Schmachbuch“ genannt; aber man bekämpfte sie abseitens der Gegner nicht nur mit Schriften, die ihre Derbheit noch überboten, sondern rächte sich auch dadurch, daß man ehrenrührige Gerüchte über Nicolai’s sittlichen Lebenswandel ausbrachte [610] (Curtze S. 159 f.). Das waren Waffen, mit denen man zwar dem in weiten Kreisen verehrten Manne bei denen, die ihn kannten, nicht schaden konnte, die aber ihn selbst doch schmerzten. In dieser Zeit der Bedrängniß verlobte sich N. mit der Wittwe des Pastor Petrus Dornberger zu Dortmund; die Hochzeit fand am 8. Januar 1600 zu Unna statt. Nicht lange darnach sollte er in ein Pfarramt oder eine akademische Stellung nach Rostock berufen werden; aber die Sache zerschlug sich. Hingegen wurde er am 14. April 1601 zum Hauptpastor zu St. Katharinen in Hamburg erwählt; er nahm diesen damals für höchst ehrenvoll geltenden Ruf an und ward am 6. August desselben Jahres in sein neues Amt eingeführt. Er konnte sich bald erfreut darüber äußern, daß er mit seinen sämmtlichen Collegen in Hamburg in schönster Eintracht lebe. Besonders durch seine Predigten fand er hier eine große Wirksamkeit. Auch hier erlebte er im J. 1604 eine Zeit der Heimsuchung seiner Gemeinde durch die Pest; während derselben schrieb er seine „Theoria vitae aeternae oder historische Beschreibung des ganzen Geheimnisses vom ewigen Leben“, Lübeck und Hamburg 1606, eine Schrift, in welcher er einige Gedanken seines „Freudenspiegels“ weiter ausführt. Noch einmal sollte er in einen Streit verwickelt werden. Infolge einer Aeußerung, die N. einmal über Tisch in Gegenwart eines Katholiken Alexander Rocha über den Papst gethan hatte, erhielt er ein Schreiben von dem in Altona, das damals noch ein Dorf war, bei der kleinen katholischen Gemeinde daselbst als Priester angestellten Jesuiten Henricus Neverus vom 14. October 1607, das er um so weniger unbeantwortet lassen konnte, als er zu öffentlicher Erklärung in der Sache aufgefordert war. Er verfaßte eine Schrift „De Antichristo Romano“, deren Veröffentlichung er jedoch nicht mehr erlebte; sein Bruder Jeremias gab sie nach seinem Tode heraus (Rostock 1609 und öfter gedruckt). Im J. 1608 erkrankte er an rheumatischen Kopfschmerzen; das Uebel verschlimmerte sich immer mehr, da er sich nicht schonte; am 23. October ergriff ihn ein heftiges Fieber, an welchem er am 26. October 1608 starb, erst 52 Jahre alt. – N. war einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit. Seinem persönlichen Charakter wird von den Zeitgenossen nicht nur Geradheit und fester Muth, sondern auch Friedfertigkeit und Sanftmuth nachgerühmt. Sein College Georg Dedeken, der ihm die Leichenrede hielt, sagt, N. habe außer seinem Amte nicht einen Menschen in Hamburg erzürnt oder persönliche Feindschaft mit dem allergeringsten Menschen gehabt, ein Lob, dem nach der Anschauung der damaligen Zeit der maßlose Eifer, mit dem er in seiner Polemik verfuhr, nicht widerspricht; dieser Eifer galt als die Pflicht eines echten Theologen und schloß gewinnende Freundlichkeit und Milde im persönlichen Verkehr, wie sie N. nach unverwerflichen Zeugnissen eigen gewesen sind, nicht aus. Von seinen wissenschaftlichen und populären Werken sind oben nur die wichtigsten genannt. Nach einer verbreiteten Angabe, die sich auch bei Curtze (S. 262) findet, soll er die Ausgaben des griechischen und lateinischen neuen Testamentes, welche Leipzig 1578 und 1594 erschienen, besorgt haben; doch weist in diesen Ausgaben selbst (wenigstens in den dem Unterzeichneten bekannten Exemplaren derselben) nichts auf eine Mitwirkung Nicolai’s bei ihrer Entstehung hin, und die Sache ist um so unwahrscheinlicher, als diese Ausgaben fast völlig unveränderte Abdrucke früherer bis ins Jahr 1563 zurückgehender Ausgaben sind. Vielleicht ist die Angabe darauf zurückzuführen, daß N. als Student in Wittenberg bei der Correctur der Ausgabe von 1578 behülflich war (?).
Nicolai: Philipp N., bekannter lutherischer Theologe und Dichter geistlicher Lieder, wurde am 10. August 1556 zu Mengeringhausen im Waldeck’schen geboren. Sein Vater, Dietrich (Theodorich) Rafflenbeul, der sich nach dem Vornamen seines Vaters, Nicolaus Rafflenbeul, auch Dietrich Nicolai nannte, welchen Namen dann später seine Söhne als Familiennamen annahmen, war im J. 1505 in der Grafschaft Mark geboren; er wurde von seiner Pfarre zu Herdecke, wo er die Reformation eingeführt hatte, vertrieben, weil er das Interim nicht annehmen wollte und war sodann im J. 1552 vom Grafen Johann zu Waldeck und dessen Mutter Anna zum Pastor in Mengeringhausen berufen; hier verheirathete er sich am 4. December 1552 und starb im J. 1590. Unser Philipp N. war sein dritter Sohn; der vierte war- Moller, Cimbria literata III, 507 ff. – Wilckens Hamburgischer Ehrentempel, S. 389 ff. – Lexikon der hamburgischen Schriftsteller V, S. 526 ff.; hier das ausführlichste Verzeichniß seiner Schriften. – L. Curtze, Philipp Nicolai’s Leben und Lieder, Halle 1859. – Hans Hinrich Wendt, Philipp [611] Nicolai, Hamburg 1859. – Koch, Geschichte des Kirchenlieds u. s. f., 3. Aufl., II, S. 324 ff. – Wagenmann in Herzog’s theologischer Realencyklopädie, 2. Aufl., X, S. 551 ff. – Dorner, Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, 2. Thl. (Berlin 1853), S. 779 ff. – Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied V, S. 256 ff. – Die sämmtlichen Werke Nicolai’s hat Dedeken, die lateinischen in zwei, die deutschen in vier Folianten, Hamburg 1617, herausgegeben. – Ein Sohn Nicolai’s, Theodor, war zu Hamburg geboren, studirte zu Greifswald Jurisprudenz und lebte dann als Advocat in Hamburg.