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ADB:Reyher, Samuel

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Artikel „Reyher, Samuel“ von Karl Ernst Hermann Krause in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 354–358, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reyher,_Samuel&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 11:17 Uhr UTC)
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Reyher: Samuel R., ward am 19. April 1635 zu Schleusingen in der Grafschaft Henneberg geboren, er starb am 24. November 1714 in Kiel. Sein Vater, Andreas R., war erst Schulrector in Schleusingen, demnächst in Lüneburg und von 1642 an Rector des Gymnasiums in Gotha. An dieser Lehranstalt wurde Samuel R. unterrichtet, bezog dann 1654 die Universität Leipzig, wo er mathematische, juristische und philosophische Vorlesungen hörte, 1655 wurde er Baccalaureus und 1656 Magister der freien Künste. Der Senator Andreas Winckler in Leipzig unterstützte R., nahm ihn auf seinen Reisen nach Holland mit und empfahl ihn in Leyden, wo sich R. noch dem weiteren Studium der Mathematik und Jurisprudenz widmete, sich auch mit andern Fächern u. a. mit dem Studium orientalischer Sprachen beschäftigte. Sodann lebte R. einige Monate bei seinem Vater in Gotha, wo der Herzog Ernst auf ihn aufmerksam wurde. Dann ging R. nach Leipzig, ließ 1660 eine Dissertation „De antinomiis in jure“ drucken und hielt als Privatdocent, obgleich er noch nicht Doctor der Rechte, aber Magister der Philosophie war, juristische Vorlesungen. 1665 wollte R. wieder nach Leyden gehen, um dort die juristische Doctorwürde zu erwerben, wurde aber, infolge der in Holland herrschenden Pest, einige Zeit in Rinteln aufgehalten. Hier wurde er mit dem Philosophen Mich. Watson bekannt, welcher nach der in Kiel zu stiftenden Universität berufen war als Professor der Philosophie. Watson vermittelte für R. den Antrag, als Professor der Mathematik nach Kiel zu gehen. Bevor dies geschah, promovirte R. 1666 in Leyden mit der Dissertation: „De jure primogeniorum“ (diese kleine Schrift ist verbessert aufgenommen in Reyher’s „Mathesis mosaica sive loca pentateuchi mathematica mathematice explicata“. Kiliae 1679, 4°, p. 526–568). R. las zuerst als ordentlicher Professor der Mathematik über Elemente der Geometrie und Arithmetik, über die Grundsätze der Astronomie in Verbindung mit der Geographie, über den Gebrauch der Mathematik in der Militärarchitektur oder die Fortificationslehre, über Pneumatik, Hydraulik, Optik, Mechanik, Akustik, Geodäsie und Civilbaukunst.

1672 verheirathete sich R. mit der Tochter eines Gottorfischen Beamten, spätern königl. Rathes in Schleswig, J. A. Beselin. 1673 erhielt er zu der ordentlichen Professur der Mathematik eine außerordentliche der Rechtswissenschaft, 1683 ward er ordentlicher Professor der Institutionen und 1692 des Codex. Beide Aemter in der philosophischen und juristischen Facultät bekleidete R. bis zu seinem Tode. Seine Leiche ward in Schleswig im Begräbniß seines Schwiegervaters Beselin beigesetzt. Wegen seiner vielseitigen Kenntnisse, seiner unermüdlichen Thätigkeit und seines ehrenvollen Charakters genoß R. der allgemeinen Achtung. Der Herzog von Gotha verlieh ihm 1686 den Rathstitel und die Berliner Societät der Wissenschaften ernannte ihn 1702 zu ihrem Mitgliede. R. hat 49 Jahre an der Kieler Universität gewirkt, und wenn auch seine juristischen Schriften selbst für die damalige Zeit kaum genügten und das Einmischen entlegner Dinge in ihnen störend wirkt, so hat er doch als Rechtslehrer anregend gewirkt. Bedeutender dagegen ist seine wissenschaftliche Thätigkeit auf dem Gebiete der Mathematik und verwandten Disciplinen gewesen. R. hat als Lehrer eine umfassende Thätigkeit bewiesen. Außer den schon erwähnten Vorlesungen als Professor der Mathematik, hat er als Professor der Rechtswissenschaften Vorträge über allgemeine Rechtsgeschichte, Erklärungen des Pandektentitels De verborum significatione, Justin. Institutiones, Jurisprudentia Romano-German. nach Struve’s Compendium, Justin. Codex nach Brunnemann’s Memoriale gehalten.

Als Schriftsteller war R. von außerordentlicher Fruchtbarkeit. In Rotermund’s Gel.-Lex. sind 83 Schriften Reyher’s verzeichnet und dies wird kaum [355] ein vollständiges Verzeichniß sein. Zahlreiche Abhandlungen Reyher’s finden sich in Dissertationen, welche er für Disputationen schrieb. Solche Abhandlungen sind dann vielfach in erweiterter Form zu einer besondern Schrift zusammengefaßt oder einer anderen größern Arbeit einverleibt worden. So ging aus solchen Disputationen und aus einzelnen Theilen seiner juristischen Vorlesungen später Reyher’s „Historia jurium universalis“ hervor, die umfänglichste seiner juristischen Arbeiten. So sind der „Mathesis mosaica sive Loca Pentateuchi mathematica mathematice explicata, cum appendice aliorum S. Script. Locorum mathematicorum“, Kiliae 1679, 808 Seiten in 4°, zahlreiche Disputationen einverleibt, welche sich auf die verschiedenartigsten Dinge beziehen. Dies sonderbare Werk, welches noch im folgenden Jahrhundert manchen ähnlichen Schriften als Fundgrube diente, entsprach der damaligen Zeitrichtung, die Wissenschaften durch den Nachweis ihres usus in theologia zu verherrlichen. Auf Grundlage von Bibeltexten ließen sich wissenschaftliche Kenntnisse verbreiten und durch die Hinzufügung mancher Curiosa die Aufmerksamkeit fesseln. Loca mathematica waren dabei alle Stellen, die, wenn auch nur entfernt, eine Beziehung zur Mathematik in ihrem weitesten Sinne haben konnten. So kommen von den juristischen, dem Werke einverleibten Disputationen vor: die schon erwähnte „De jure primogeniorum“, dann „De mappa geographica Palestinae“, „De columnis templi Salomonici“, „De aeneo Salomonis mari“ u. s. w. Bei der Erwähnung des ersten Regenbogens wird die Cartesische Theorie des Regenbogens vorgetragen. Zu der in das Buch eingefügten Disputation „De diluvio Noachico“ wird auf die Angabe der Dauer vom 17. bis 27. Tage des zweiten Monats hingewiesen, doch ließ sich R. hierbei, wie Weyer bemerkt, die merkwürdige Beziehung entgehen, daß diese Dauer dem Unterschiede der Tage des Sonnenjahres und Mondjahres entspricht. Bei den Mauern Jericho’s wird das Mitklingen von Tönen abgehandelt u. dergl. mehr. Vielfach verquickt sind Reyher’s Schriften mit alchimistischen und astrologischen Angaben, denen R. sehr nachgiebig gegenüber steht, was um so merkwürdiger ist, als er andrerseits sich durch eine große Zahl guter, nüchterner und nach damaliger Zeit auch strenger Beobachtungen bekannt gemacht hat. Reyher’s astronomische Beobachtungen hat Weyer zusammengestellt, da manche derselben nur in den Lectionskatalogen enthalten und anderweitig nicht bekannt gemacht sind. Eine der wichtigeren Beobachtungen ist die der Sonnenfinsterniß am 23. September 1699, welche in der Geschichte der Astronomie deshalb merkwürdig ist, weil sie die erste Sonnenfinsterniß war, aus deren Beobachtung die geographische Länge bestimmt wurde. Cassini berechnete aus den Beobachtungen jener Finsterniß zuerst die Länge dreier deutscher Städte: Nürnberg, Kiel und Greifswald.

Bemerkenswerth ist die von R. angewendete Methode zur Beobachtung von Finsternissen. Er benutzte eine objective Darstellung, indem er von dem Objective das Bild der Sonne oder des Mondes auf einen Schirm fallen ließ und den Eintritt, Verlauf und Ende der Finsterniß an einer auf dem Schirm angebrachten Theilung beobachtete („De observationibus astronomicis“ 1703). Dasselbe Verfahren wurde auch bei der Beobachtung des Fortrückens der Sonnenflecke, welches er 1704 recht gut bestimmte, angewendet. Zur Geschichte des Mikrometers macht bei Gelegenheit der Besprechung eines Mikrometers von O. Römer R. die Bemerkung, daß er schon 1659 bei Basilius Tilesius in Leipzig gesehen habe, wie dieser zufällig ein in der Glaslinse eines Teleskopes befindliches Bläschen benutzte „ad cognoscendas siderum distancias“. Ueber Bestimmung der Mittagslinie, der Zeit und der Polhöhe hat R. geschrieben und wird von ihm eine Polhöhenbestimmung von Kiel, 54° 20’ angeführt, welche für die Zuverlässigkeit [356] seiner Beobachtungen spricht. Den veränderlichen Stern im Walfische (Mira Ceti) hat R. 44 Jahre lang beobachtet. Die Periode des Lichtwechsels wird auf 333 Tage angegeben. Bei Rechnungen bediente sich R. von ihm erfundener Rechenstäbchen („S. Reiheri Baccilli sexagenales et de meridianorum differentiis accurate et facile inveniendis.“ Kiliae 1688, 4°). Diese Stäbchen werden noch von Klügel im mathem. Wörterbuch, Art. Instrumentale Arithmetik erwähnt.

Sehr eingehend hat sich R. von 1697–1706 mit der Kalenderreform beschäftigt. In dieser Angelegenheit hat er viel mit Leibnitz correspondirt, der die von R. vorgeschlagenen Einschaltungen nur unbequem fand, übrigens die Grundlagen für beachtenswerth hielt. R. schickte seine Vorschläge an die Reichsversammlung in Regensburg ein. Der eine Vorschlag, dem Kalender die „rechte, wahrhafte“ Jahreslänge zu Grunde zu legen, ist durch Beschluß des Reichstags 1699 zur Geltung gekommen, dagegen hatten Reyher’s Einschaltungsvorschläge keinen Erfolg. Die Arbeiten Reyher’s über die Kalenderreform hat Weyer in der Chronik der Universität Kiel 1858 sehr ausführlich dargestellt.

Von Arbeiten Reyher’s aus der reinen und angewandten Mathematik findet sich eine beträchtliche Zahl. Er gab eine deutsche Bearbeitung der sechs ersten Bücher des Euklid heraus (Kiel 1699, 4°). Ferner Schriften, welche sich vorzüglich mit der Methode des mathematischen Unterrichts für einen jungen Prinzen beschäftigten („De rege mathematico“ 1670 und „Mathesis regia“ 1693). Die Geometrie und Arithmetik galten R. als Vorbereitungen für die Kriegswissenschaften, über welche er Vorlesungen hielt, praktische Uebungen veranstaltete und einige Schriften veröffentlichte. Diese jetzt von den Universitäten verschwundene Wissenschaft hat sich an der Universität in Kiel bis 1802 erhalten, in welchem Jahre von F. Valentiner noch architectura militaris angekündigt wurde.

Einen großen Umfang nahmen Reyher’s physikalische und besonders die meterologischen Beobachtungen ein. Leibnitz hatte 1679 den Wunsch Mariotte’s an R. übermittelt, einige Monate Beobachtungen über Luftdruck, Luftwärme, Wind und Himmelsansicht täglich drei Mal anzustellen. R. ging gleich auf diesen Wunsch ein, fügte noch Beobachtungen am Hygrometer hinzu und beobachtete 34 Jahre lang von 1680–1713. Von den physikalischen Untersuchungen möge Folgendes erwähnt werden: In einer kleinen Schrift: „Aquae marinae dulcedo die 6. Februar. Anni 1697“ gibt R. an, daß ein fußdickes Eisstück bei Friedrichsort (nach dem hübschen Bilde, welches der Abhandlung beigegeben ist, wol nah bei dem jetzigen Bellevue) aus der Bucht entnommen, sich ganz salzfrei ergeben habe. Ebenso das Wasser dicht unter dem Eise. Wasser aus 11/2 Fuß Tiefe sei schon etwas salzig gewesen. Wasser aus 5 Fuß Tiefe geschöpft, ergab beim Verdampfen von 4 Pfund Wasser 1 Unze und 11/2 Skrupel Salz. Dies würden nahezu 1,8 Procent sein, und mit der uns jetzt bekannten specifischen Schwere des Winterwassers sehr gut übereinstimmen. Ferner ist die ganz richtige Beobachtung angeführt, daß das Wasser der Swentine und Levensaue sich lange an der Oberfläche des Hafenwassers erhalte, sich in der Strömung bis zum Ausgang des Hafens durch abweichende Farbe auszeichne und sich nur bei der Bewegung infolge der Winde mit dem Salzwasser vermische. Das Leuchten des Wassers im Kieler Hafen, welches autumnali tempore praecipue stattfände (gewöhnlich geschieht es von Ende August an), hat R. ebenfalls schon beobachtet, wenn er die Ursache auch nicht richtig erkannte, sondern das Leuchten auf die Salztheile zurückführte. Reyher’s Erklärung von dem Ausscheiden des Salzes beim Erstarren des Meerwassers ist freilich sehr undeutlich. Er gibt zwei Gründe an: 1) Bei Zusammenpressung des Wassers werden die Salztheilchen herausgepreßt, was aber kein Grund, sondern das Ergebniß ist. 2) Das Salz scheidet [357] sich wegen seiner Schwere aus, durch welche es von selbst zu Boden sinkt. Wichtiger als diese Erklärungen und die sonstigen wunderlichen Bemerkungen, welche R. an die Beobachtung schließt, ist die Mittheilung einer kleinen Tabelle (S. 14) von dem Tage der Beobachtung (6. Februar) und einigen anderen Tagen, weil dadurch vielleicht noch die Verwerthung der nachher zu besprechenden meterologischen Beobachtungen Reyher’s ermöglicht wird. Eine mehrfach herausgegebene Schrift Reyher’s „De aere sive de pneumatica“ behandelt eine Menge der verschiedenartigsten Beobachtungen, welche sich auf die Eigenschaften der Luft beziehen, außerdem noch Manches sonst. Es sind theils Beschreibungen und Erklärungsversuche von Beobachtungen Anderer, z. B. die Magdeburger Experimente mit der Luftpumpe, Heronsbrunnen, Capillarität, Glasthränen, über leere Räume in Kieselsteinen, wobei die uns sehr wundersam klingenden Erläuterungen Reyher’s zwar ergötzlich zu lesen sind, aber jetzt keinen Werth haben.

Zu bedauern ist, daß Reyher’s vollständige meterologischen Beobachtungen nicht erhalten zu sein scheinen. Es finden sich, außer in der erwähnten Schrift „Novum experimentum“ noch einzelne ausführlichere Zusammenstellungen. So in der letzten Ausgabe der Schrift „De aere“ vom Jahre 1713, Excerpte der Beobachtungen am Barometer, Thermometer und Hygroscop von Februar 1680 bis Januar 1681 und ein Verzeichniß der niedrigsten Temperaturen in den Jahren 1679–1713. Ein nur die Jahre 1679–1701 umfassendes, aber ausführlicheres Verzeichniß der niedrigsten Wärmegrade ist abgedruckt in: „Miscellanea Berolinensia“. Berol. 1710, S. 379. Das von R. benutzte Thermometer war ein in 100 Grade nebst Viertelgraden getheiltes Weingeistthermometer. Der Werth der Theilung ist aber nicht zu ermitteln, da Reyher’s Beschreibung der von ihm benutzten Instrumente sehr mangelhaft ist. Die niedrigsten Temperaturen, welche R. verzeichnet, sind 1684 Januar 28 u. 30 mit –1/4° 1685 Januar 5 mit –1/2°, 1709 Januar 13 mit –2° angegeben. Als höchste in der Schrift „De aëre“ angegebene Temperatur findet sich 80° am 20. Juni 1680. Das Reyhersche Hygroscop ist auf der Drehung einer Darmseite beruhend, die Theilung war ebenso wie bei dem Thermometer 100 Theile in Viertel. Der Werth der Theilung dieses ohnehin schon sehr wenig brauchbaren Instruments ist noch weniger zu ermitteln. Die Angaben für die Feuchtigkeit im J. 1680/81 schwanken zwischen 0 am 13. Februar und 92 am 13. Januar 1681. Wie es von Weyer bedauert wird, daß Reyher’s astronomische Instrumente spurlos verschwunden sind, so ist dasselbe auch bezüglich der physikalischen Instrumente zu sagen, da es von Interesse sein würde, die lange Reihe niedriger Wärmegrade aus der damaligen Zeit mit denen der Neuzeit zu vergleichen. Dies gilt aber allgemein. Welcher Fülle von Beobachtungen älterer Zeiten, wieviel aufgewendete Mühen würden noch nutzbar gemacht werden können, wenn man früher, wie es jetzt mehr geschieht, die älteren zu den neuen Forschungen nicht genügend erscheinenden Geräthe, wenn auch nur aus historischem Sinne aufbewahrt hätte.

Poggendorff, Biogr.-liter. Handwörterbuch II, 617, wobei zu bemerken ist, daß die daselbst angegebene Schrift Epist. ad Schelhamerum nicht besonders zu existiren scheint, sondern als ein später der Schrift De aëre von 1713 zugefügtes Kapitel vorhanden ist. – Moller, Cimbria literata, Art. Reyher. – Rotermund VI, 1916. Besonders H. Ratjen und G. Weyer in den Aufsätzen zur Geschichte der Universität. A. Die Professoren der juristischen Facultät in Kiel. Chronik der Universität Kiel aus dem Jahre 1858, S. 4–30. Aus der letzteren Quelle ist die obige Darstellung im wesentlichen entnommen und ist auf dieselbe zur Würdigung der mathematischen [358] und astronomischen Thätigkeit Reyher’s mit Einschluß seiner Betheiligung an der Kalenderreform ausdrücklich hinzuweisen.