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ADB:Riecke, Karl Viktor

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Artikel „Riecke, Karl Viktor“ von Julius Hartmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 356–359, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Riecke,_Karl_Viktor&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 11:22 Uhr UTC)
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Riecke: Karl Viktor R., württembergischer Staatsminister, 1830 bis 1898. – Die gegen das Ende des 17. Jahrhunderts aus Mecklenburg in Württemberg eingewanderte Familie Riecke blühte dort durch mehrere Generationen in einer Reihe tüchtiger, verdienter Männer: den Medicinern Ludwig Heinrich, 1729–1787, Viktor, 1771–1850, Leopold, 1790–1876, Adolf, 1805–1857, den Pädagogen Heinrich, 1759–1830, und Gustav, 1798 bis 1883, dem Mathematiker Friedrich, 1794–1876, dem Juristen Christian, 1802–1865. Als des letztgenannten, der schließlich Hofkammerdirector und Hofrichter gewesen, einziger Sohn ist Karl R. in Stuttgart am 30. Mai 1830 geboren. Im Gymnasium seiner Vaterstadt, einer Cameralverwaltung, der landwirthschaftlichen Akademie Hohenheim und der Universität Tübingen gründlich ausgebildet, durchlief der junge Cameralist, nachdem er sich in Norddeutschland, Belgien und Paris umgesehen, als Cameralamtsbuchhalter und Hauptzollamtsassistent sich erprobt hatte, in raschem Lauf den höheren Finanzdienst seines Heimathlandes. Ministerialsecretär 1858, Ministerialassessor 1859, Rath 1864, war er seit September 1859 mit dem Referat über Zoll- und Handels-, Geld- und Münzwesen betraut und „bald berufen, in den wichtigsten Fragen nicht bloß der Zoll- und Finanzverwaltung, sondern des deutschen Zollvereins und der deutschen Zukunft thätig zu sein“. Durch den preußisch-französischen Handelsvertrag von 1862 war wegen des Widerspruchs von Baiern, Württemberg, Hessen und Nassau die Fortdauer des Zollvereins ernstlich gefährdet. Von den dadurch veranlaßten ersten Besprechungen im April 1862 bis zu der schwer erkämpften neuen Zollvereinigung im Mai 1865 Württembergs Vertreter, hatte R. früher als seine Auftraggeber das Verfehlte der süddeutschen Sonderpolitik erkannt, „treu und unentwegt, ohne den berechtigten Landesinteressen etwas zu vergeben, an dem Ziele der nationalen Einigung festgehalten und allezeit die Wege der Verständigung offen zu halten [357] verstanden“. Er hat dann im Beginn des Kriegs von 1866 bei Besprechungen in München über Sicherung der Zollinteressen der süddeutschen Staaten den Beschluß, daß vorerst nichts geschehen solle, mit herbeigeführt, wodurch glücklicherweise der Zollverein trotz des Krieges erhalten blieb. Nach einem Jahre durfte er den neuen Zollvereinsvertrag mit unterzeichnen, 1868, nun wirklicher Oberfinanzrath, als Bevollmächtigter im Zollbundesrath „eine Stütze der Verhandlungen“ sein, wie Delbrück bei Bismarck ihn vorstellte, auch den Handelsvertrag zwischen dem Zollverein und der Schweiz mit in die Wege leiten, 1870 bei den Verhandlungen über den Eintritt Württembergs in den Norddeutschen Bund thätig sein, im neuen Reich an den Arbeiten des Bundesraths als württembergischer Bevollmächtigter noch 1½ Jahre sich betheiligen. Es lag nahe, daß der treubewährte Arbeiter wiederholt zum Uebertritt in hohe Reichsämter eingeladen wurde. Er zog das Weiterdienen in der Heimath vor, erhielt im Juli 1873 die durch Gustav Rümelin’s Rücktritt erledigte Vorstandschaft bei dem Statistisch-Topographischen Bureau (jetzt Statistischen Landesamt), dessen ordentliches Mitglied im Nebenamt er schon seit 1863 gewesen und das er bei den internationalen statistischen Congressen in Berlin 1863 und im Haag 1866 vertreten hatte, worauf er von dem Congreß in St. Petersburg 1872 in die permanente internationale Commission gewählt, 1886 zum Ehrenmitglied des Internationalen statistischen Instituts ernannt wurde. Zu der von Rümelin mit Vorliebe ausgebauten Bevölkerungsstatistik trat mit R. im Landesamt die emsige Pflege der Verwaltungsstatistik, woneben die weiteren Aufgaben des in Württemberg seit der Errichtung im J. 1820 der gesammten Landeskunde gewidmeten „Bureau“ mit Eifer gefördert wurden. Alle die laufenden und periodischen Arbeiten: „Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde“, zu denen seit 1878 „Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte“ traten, das umfassende Kartenwesen, die Beschreibung des Landes nach Oberämtern (1824–1886, wieder aufgenommen 1893), das zusammenfassende Werk: „Das Königreich Württemberg“ (1882 bis 1886 und jetzt wieder 1904–1907) – alle erfreuten sich der verständnißvollen, thatkräftigen Leitung und Mitarbeit des umfassend gebildeten, nie auslernenden Führers. – Nur ungern vertauschte er im November 1880 die ihm liebgewordene Thätigkeit mit der Leitung des Steuercollegiums, dem er doch auch nützlich werden, z. B. einen beschleunigten, glatten Geschäftsgang verschaffen konnte. – Schon nach fünf Jahren wurde er in den obersten Rath der Krone, den Geheimen Rath, berufen, sodaß, da er schon seit 1872 lebenslängliches Mitglied der Ersten Kammer war, sein Antheil an der Landesverwaltung und -Gesetzgebung nun ein doppelt gewichtiger wurde. Was davon in die Oeffentlichkeit kam: seine freimüthigen und staatsmännisch besonnenen Berichte für die Kammer verschafften ihm weit über diese hinaus hohes Ansehen. – Auch der evangelischen Landeskirche hat R., in einer Zeit, in welcher eine neue Gemeinde- und Synodalordnung zu schaffen, die Stellung der Kirche zur Civilehe und anderes zu regeln war, seit 1874 als vom König ernanntes Mitglied der Landessynode, seit 1886 auch ihr erwählter Präsident, treue, allseitig anerkannte Dienste geleistet.

Spät, später als man im Lande gewünscht und gehofft – König Karl war dem „Preußen“ nie recht hold gewesen – kam endlich nach der Thronbesteigung König Wilhelm’s II. im October 1891 der 61 Jahre alte als Staatsminister der Finanzen an die Spitze des Departements, dessen hervorragende Kraft und Zierde er längst gewesen. Wohl haben die wenig mehr als sieben Jahre, die ihm noch zu wirken vergönnt war, nicht hingereicht, die von der Zeit gebotenen und von R. als Berichterstatter der Ersten Kammer [358] wie in der Litteratur des öftern dargelegten Forderungen – Einführung einer allgemeinen Einkommenssteuer, gesetzliche Ordnung des Staatshaushalts, Mitwirkung zur Stärkung und Verselbständigung der Reichsfinanzen, zugleich Unabhängigmachung der Einzelstaatshaushalte – zum ersehnten Ziele zu führen. Aber getragen von „dem großen persönlichen Vertrauen, dessen der Minister sich zu erfreuen hatte und das, neben seiner gründlichen Beherrschung des Stoffs, seinem stets auf das Sachliche gerichteten versöhnlichen Entgegenkommen, über manche Schwierigkeiten hinweghalf, ihm aber auch in entscheidenden Punkten gelegentlich ein festes Nein ermöglichte“, hat er den sicheren Weg gebahnt und eine gute Strecke zurückgelegt für die Reformen, die dann das neue Jahrhundert theils gebracht hat, theils noch bringen soll.

Vom Vater ererbter eherner Fleiß machte es dem lange Jahre Gesunden, der mit Vorliebe ein stilles, häusliches Leben, das letzte Jahrzehnt meist in seinem schönen Landsitz über dem Stuttgarter Thal, führte, durch alle Stadien seines Amtslebens möglich, seine in der Familie von Vater und Mutter, einer geborenen Reyscher, heimische Neigung zu schriftstellerischer Thätigkeit zu befriedigen. Das dem trefflichen Nekrolog Riecke’s in den Württembergischen Jahrbüchern (s. u.) angehängte Verzeichniß seiner Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften und in Zeitungen, Sammelwerken und selbständigen Schriften nimmt 5 Druckseiten großen Formats ein. Darunter befindet sich nicht weniges von bleibendem Werth. So das vierte Buch der von R. mit herausgegebenen Landesbeschreibung: „Verfassung, Verwaltung und Staatshaushalt des Königreichs Württemberg“ (als Sonderausgabe in 2 Auflagen, 1882 und beträchtlich erweitert 1887); „Zölle und Rübenzuckersteuer“ in 4 Auflagen von Schönberg’s Handbuch der politischen Oekonomie 1882 ff. („auf der Hochschule noch in schutzzöllnerischen Lehren aufgewachsen, hat er sich im Kampf um den preußisch-französischen Handelsvertrag und die Reform des Vereinszolltarifs den von Delbrück vertretenen freihändlerischen Anschauungen zugewendet; aber niemals ein Doctrinär, hat er mindestens die finanzpolitische Seite der deutschen Zolltarifreform von 1879 ausdrücklich gebilligt“); „Finanzlage, Etatsfragen und Stand der Steuerreform in Württemberg“, in Schanz’ Finanzarchiv 1891; „Die internationale Finanzstatistik“ 1886; „Statistik der Universität Tübingen“ 1877; „Meine Wanderjahre und Wanderungen“, als Handschrift gedruckt 1877; „Erinnerungen aus alter und neuer Zeit von A. L. Reyscher“ 1884; „Altwürtembergisches aus Familienpapieren von K. Fr. Haug“ 1886 – die drei letzten nur ein Theil der pietätvollen Erinnerungsschriften aus dem eigenen und dem Leben der Familienangehörigen. Zeigen die Veröffentlichungen aus den Fächern seiner öffentlichen Wirksamkeit eine Begabung, welche von der Tübinger staatswissenschaftlichen Facultät durch Berufung auf einen Lehrstuhl (1875) und Ernennung zum Ehrendoctor (1876) gewürdigt wurde, so lassen die andern auch den, der R. nicht persönlich kannte, einen Blick thun in die Gemüthstiefe des edlen Mannes, der mit der kräftigen, strammen Gestalt, dem ausdrucksvollen, schon frühe schneeweiß umrahmten Kopf, in einer gewissen natürlichen Schüchternheit und Befangenheit, richtiger gesagt „Bescheidenheit und Demuth der wahren Bildung“, nur gemessen correct, kühl und kurz angebunden erscheinen mochte, in Wirklichkeit ebenso wohlwollend wie gerecht, freundlich mild wie entschlossen und thatkräftig, gern zurückgezogen lebend wie heiter gesellig gewesen ist. – Als er nach längerem Leiden an einem Herzübel am 9. März 1898 sanft und gottergeben entschlief, war die Trauer über den Verlust des guten Menschen und charaktervollen Staatsmanns eine allgemeine; auch das Organ der schwäbischen Socialdemokratie sprach von „einem Minister, der in den weitesten Volkskreisen [359] sich großer Sympathien erfreute und von dem selbst seine Gegner auch in der Zukunft nur mit Hochachtung sprechen werden“. Seine Gattin, die reichbegabte Tochter des Tübinger Historikers Haug, mit der er 38 Jahre in glücklicher, aber kinderloser Ehe gelebt hatte, ist ihm nach zwei Jahren in die Ewigkeit nachgefolgt.

Nekrolog von H. Zeller im Schwäbischen Merkur 1898, Nr. 122 und 124, ausführlicher in den Württembergischen Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde, Jahrg. 1898, Heft I, sowie eigene Erinnerungen.