ADB:Rore, Cyprian

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Rore, Cyprian“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 29 (1889), S. 152–155, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rore,_Cyprian&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 00:45 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Röper, Johannes
Nächster>>>
Roriczer, Konrad
Band 29 (1889), S. 152–155 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Cipriano de Rore in der Wikipedia
Cyprian de Rore in Wikidata
GND-Nummer 119316897
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|29|152|155|Rore, Cyprian|Robert Eitner|ADB:Rore, Cyprian}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=119316897}}    

Rore: Cyprian R., ein niederländischer Tonmeister des 16. Jahrhunderts, der nach den neuesten Untersuchungen im 20. Jahrgang der Monatshefte für Musikgeschichte gegen 1516 geboren ist; ob in Mecheln oder Antwerpen ist bis heute nicht zu entscheiden. Er scheint bereits als Knabe für die herzogliche Capelle in Venedig angeworben zu sein, wie man damals überhaupt den niederländischen Künstlern in Italien durchweg den Vorrang einräumte und selbst die Chorknaben aus Belgien bezog. Mochte es auf einem Vorurtheile beruhen, oder waren die Knaben schon im zartesten Alter besser geschult, so viel steht durch unzählige Beweise fest, daß Italien bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts Chorknaben, Sänger, Capellmeister und Componisten aus den Niederlanden bezog und die eigenen Künstler vernachlässigte, gerade so wie es dann in Deutschland in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Mode wurde, bis dann im 17. Jahrhundert der Italiener die Oberhand gewann und in allen Ländern als der allein Berechtigte den Vorzug erhielt. R. hatte das Glück in Venedig keinen geringeren als den Altmeister Adrian Willaert zum Vorgesetzten zu haben. Willaert wurde am 12. December 1527 Capellmeister der „herzoglichen Capelle“, die zugleich am San Marco die Kirchenmusik zu versehen hatte. Die Capellmeister erhielten damals die Chorknaben in Kost und Erziehung und es lag ihnen ob, dieselben nicht nur in der musikalischen Wissenschaft, im Gesange und Instrumentenspiele zu unterrichten, sondern auch in den Schulwissenschaften. Die Zöglinge besuchten wohl auch daneben eine lateinische Schule, wie dies in Deutschland Sitte war. In Venedig wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein eigenes Seminar eingerichtet, in welchem die Zöglinge Wohnung und Unterricht fanden. Vor dieser Zeit aber lag dort dem Capellmeister allein die ganze Last auf. Willaert, ebenfalls ein Niederländer, war bereits in Italien heimisch und hatte durch seine genialen Compositionen aller Augen auf sich gezogen. Er vereinte die Kraft und Hoheit der niederländischen Schule mit dem Geschmeidigen [153] und Wohlklingenden des Italieners und wurde dadurch zum Gründer der modernen Richtung, die ihre Kunst nicht mehr in der Spitzfindigkeit contrapunktischer Probleme suchte, sondern den Contrapunkt zum Zwecke des Wohlklanges und seelischer Vertiefung verwerthete. Dieser Richtung folgten alle großen Meister des 16. Jahrhunderts bis zu Palestrina hinauf und durch ihn verschwand nach und nach das specifisch Niederländische in der Musik und dieser Stil wurde nun die musikalische Sprache der ganzen civilisirten Welt. Unter solchen mächtigen Einflüssen bildete sich das Genie Rore’s und er war berufen, noch den letzten Rest niederländischer Künstelei aus der Kunstübung zu verbannen. – Wann R., als er mutirt hatte, als Sänger in die Capelle eintrat, ist unbekannt. Sein unruhiger Geist litt ihn aber nicht lange in einer untergeordneten Stellung und er sah sich daher nach einem höheren und selbständigeren Amte um. Italien, damals in viele kleine Herzogthümer zersplittert, deren Herrscher fast durchweg der Musik eine bevorzugte Stellung an ihren Höfen einräumten, war ganz geeignet, aufstrebende Talente zu fördern und zu unterstützen. R. fand in Ferrara die gewünschte Stellung als Capellmeister an der herzoglichen Capelle. Wann er diesen Posten erhielt, ist nicht bekannt, denn erst aus dem Jahre 1553 erlangen wir durch ein Document vom 10. October Kunde, daß er sich überhaupt in Ferrara befand (Monatshefte f. Musikg. XVII, 37). Doch auch hier ließ es ihn nicht lange stille sitzen. Durch einen Brief aus dem Jahre 1558 erfahren wir, daß er Urlaub auf bestimmte Zeit erhalten hatte, um seine Heimath zu besuchen, daß er aber den Urlaub überschritten habe und auch nicht Willens sei, den Posten wieder anzutreten. Seine Eltern wohnten damals in Antwerpen, und wie er schreibt, konnte er sie der ausgebrochenen Unruhen halber nicht verlassen. Es war die Zeit, als König Philipp die Geißel religiöser Verfolgung über die Niederlande schwang, bis er sie schließlich dem Aufstande in die Arme trieb. Am 3. October 1559 starb der Herzog Hercules II. von Este, und am 12. November desselben Jahres richtet R. an den Nachfolger, Alfonso II., das Gesuch, ihn in Dienst zu nehmen, da, wie er sagt, Italien ihm theuer und werth geworden sei und er dort am liebsten seine Kräfte verwerthe. Der Herzog scheint aber auf Rore’s Gesuch nicht eingegangen zu sein. Wir bleiben in Ungewißheit, wo er sich in den nächsten Jahren aufhielt. Aeltere Biographien lassen ihn nach Venedig gehen und dort den Vicecapellmeisterposten an S. Marco bekleiden, doch ist diese Annahme unhaltbar, da in der Zeit das Amt eines Vicecapellmeisters überhaupt noch gar nicht eingerichtet war und Willaert allein die Leitung in der Hand hatte. Da aber R. der Nachfolger Willaert’s wurde, wie documentarisch feststeht, so ist es immerhin möglich, daß er sich doch in jenen Jahren nach Venedig wandte und seinen alten vom Podagra heftig geplagten Meister in der Verwaltung des Amtes unterstützte, ohne eine officielle Berechtigung dazu zu haben. Erst am 18. October 1563, nachdem Willaert am 7. December 1562 gestorben war, wurde er zum Capellmeister an der „herzoglichen Capelle“ in Venedig erwählt. Es scheint aber, als wenn R. jede gesicherte Stellung und jedes ihn bindende Amt als einen Eingriff in seine persönliche Freiheit betrachtet und sich sobald als möglich dieses Zwanges entledigt hätte. Er nahm im December 1564 Urlaub, um nicht wiederzukehren. Er kam auf seinen unsteten Wanderungen auch nach Parma, fand dort die ehrenwertheste Aufnahme und ließ sich vom Herzoge zum Capellmeister machen. In Venedig wartete man vergeblich auf seine Rückkehr; ein gewisser Marc’ Antonio de Aloise versah einstweilen stellvertretend sein Amt. Am 5. Juli 1565 schreitet man endlich zu einer Neuwahl in Venedig, die auf den berühmten Theoretiker Gioseffo Zarlino fällt. Da jedoch R. in demselben Jahre 1565 in Parma starb, das Datum ist nicht bekannt, so ist es auch möglich, daß man in Venedig erst [154] nach dem Bekanntwerden seines Todes einen neuen Capellmeister wählte. – R. war ein ungemein fruchtbarer Componist und fand in seinen Zeitgenossen die größten Verehrer seiner Kunst, obgleich letztere die Grenzen des damaligen Kunstgeschmackes und der herrschenden Theorie um ein Bedeutendes überschritt. Dies würde freilich für uns im Dunkeln bleiben, wenn uns nicht die Aussprüche späterer Meister aufbewahrt wären, welche, um ihre eigenen Kunstprincipien zu vertheidigen, sich stets auf R. berufen und ihn dabei als denjenigen hinstellen, der den neuen Anschauungen vom musikalischen Wohlklange Bahn gebrochen habe. Die Tonalität des Tonsatzes festzuhalten, galt damals als erstes Gesetz. Ausweichungen waren zwar gestattet, doch nur in die Ober- und Unterdominante, und auch das nur vorübergehend. Jeder Zusammenklang war an bestimmte fortschreitende Intervalle gebunden. Die dissonirenden Intervalle waren nur als Durchgangsnoten gestattet, oder mußten vorbereitet sein. Eine Harmonielehre kannte man noch nicht und alles hing von der Stimmführung ab. Die Erzeugung der Harmonie entstand nur durch eine gesetzlich geregelte Führung der Stimmen, und jede Stimme für sich in möglichst selbständiger Führung zu gestalten, galt für das oberste Gesetz des Wohlklanges. R. tritt diesen Gesetzen gegenüber mit großer Selbständigkeit auf, und man möchte fast sagen, er umgeht und überschreitet sie wo er kann. Er erscheint uns heute fast wie ein moderner Harmoniker. Mir liegt aus dem 2. Buche seiner vierstimmigen Madrigale von 1543, deren erste bekannte Ausgabe aber erst die vom Jahre 1571 ist (auf den Bibliotheken von Wien und München), der Satz Ove ’l silentio vor, der Rore’s kühne Art in Modulation und Harmoniefolge treffend kennzeichnet. Der Tonsatz scheint in der versetzten äolischen Tonart auf d zu stehen; sicher ist die Tonart eigentlich gar nicht anzugeben, denn er zeichnet ein b vor, setzt mit h, wie zu einem Vorspiel ein, und läßt den ersten vollen Accord in E–moll erklingen, geht darauf wieder nach C–dur, wieder nach E–moll, dann nach D–moll, schließt aber mit der großen Terz; setzt darauf in der Oberstimme mit b ein und läßt den Sextaccord von B–dur erklingen, aus dem sich der D–moll–Accord entwickelt, hält sich dann zwischen D moll und F–dur, auf dessen Dominante c e g er einen Abschluß bildet und verbleibt hierauf bis zum Schlusse in F–dur und D–moll, auf dessen Dominante a cis e endlich der Abschluß erfolgt. Das damals herrschende Verbot der Anwendung von Versetzungszeichen ficht ihn nicht an, und er geht von dem Grundsatze aus, daß ihr thatsächliches Vorhandensein auch ihre Anwendung rechtfertige. Er betrachtet alle Verbote nur als eine engherzige, kurzsichtige Auffassung und zeigt den Theoretikern, die stets von dem einstigen chromatischen und enharmonischen Geschlechte der Griechen schreiben und dasselbe als etwas Höheres betrachten, daß ihre Erkenntniß des sogenannten diatonischen Geschlechts auf falscher Grundlage beruht. Sein Verleger Gardano in Venedig gab daher auch der zweiten Auflage des 1. Buches fünfstimmiger Madrigale von 1544 (1. Ausgabe von 1542), ob mit oder ohne Erlaubniß des Componisten, die Bezeichnung „Madrigali cromatici“, die sich auch bei allen späteren Ausgaben bis zum Jahre 1593 erhalten hat, während die übrigen zahlreichen Madrigalenbücher Rore’s diese Bezeichnung nicht tragen, obgleich sie in demselben Charakter geschrieben sind. Es läßt sich daher wohl annehmen, daß R. Verwahrung gegen diese Bezeichnung einlegte, sie aber bei den Nachdruckern seiner Werke nicht durchzusetzen im Stande war. Er ging von dem ganz richtigen Gesichtspunkte aus, daß ein Moduliren in entferntere Tonarten noch keine Chromatik sei, und gleichsam, um den Zeitgenossen zu zeigen, was eigentlich Chromatik sei, schrieb er das Madrigal „Calami sonum ferentes“ (erschien zuerst in einem Antwerpener Sammelwerke bei Susato 1555), welches auf das Motiv h c cis d dis e sich stützt und von Anderen recht oft benützt worden [155] ist. Dieses Motett ist für vier Bässe geschrieben und in Commer’s Collectio operum musicorum Batavorum, Berol., Trautwein, Bd. 12, S. 119 neuerdings in Partitur veröffentlicht. Es hat Ambros in seiner Musikgeschichte (V, 514) zu dem falschen Urtheile verleitet, Rore’s sämmtliche Madrigale seien im stilo cromatico geschrieben. Da nun dieses eine, Calami sonum ferentes, nicht zu den besten Compositionen Rore’s zu rechnen ist, sondern im Gegentheil einen sehr wunderlichen und wenig erbaulichen Eindruck macht, so fertigt Ambros den R. mit seinen Madrigalen sehr kurz ab, giebt ihm aber das höchste künstlerische Lob in Betreff seiner Kirchengesänge, der Messen und Motetten, die er zu dem Besten rechnet, was in jener Zeit geschaffen worden ist. Artusi, ein italienischer Musikschriftsteller aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, lobt besonders die gute Declamation in seinen Compositionen und stellt ihn als Muster darin aus. Auch Herzog Albrecht V. von Baiern war ein großer Verehrer seiner Compositionen und die Staatsbibliothek in München bewahrt heute noch einen Codex in prachtvoller Herstellung (Mus. Ms. B. 128), der von Miniaturen von Milich, dem Wappen und Brustbild des Herzogs sowie dem Rore’s geschmückt ist und 26 fünf-, sechs-, sieben- und achtstimmige Motetten enthält. Ein zweiter Band, weniger kostbar, verfaßt von Samuel Quickelberg im Jahre 1564 (der erste Band trägt die Jahreszahl 1559), enthält nur die Aufzählung sämmtlicher bei der Herstellung des Prachtmanuscriptes beschäftigten Personen (siehe Jul. Jos. Maier’s Katalog der Musikhandschr. auf der k. St.-Bibl. in München, 1879, S. 89, Nr. 128).