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ADB:Schleiden, Matthias Jacob

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Artikel „Schleiden, Matthias Jacob“ von Ernst Wunschmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 417–421, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schleiden,_Matthias_Jacob&oldid=- (Version vom 12. Oktober 2024, 16:01 Uhr UTC)
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Band 31 (1890), S. 417–421 (Quelle).
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Schleiden: Matthias Jacob S., Botaniker, geboren in Hamburg am 5. April 1804, † zu Frankfurt a. M. am 23. Juni 1881, ein Sohn des aus Schleswig-Holstein gebürtigen angesehenen hamburgischen Arztes und Physicus Dr. Andr. Benedict S. Auf dem Johanneum und akademischen Gymnasium seiner Vaterstadt vorgebildet, studirte er die Rechtswissenschaft in Heidelberg und erwarb daselbst 1826 den juristischen Doctorgrad. Im folgenden Jahre nach Hamburg heimgekehrt und hier Bürger und Advocat geworden, war vielleicht der geringe Erfolg seiner Praxis einer der Gründe seiner wachsenden Gemüthsverstimmung, welche sich zu entschiedener Abneigung gegen seinen Beruf steigerte und in der Katastrophe gipfelte, die als Wendepunkt seines Lebens und seiner bürgerlichen Existenz betrachtet werden kann. Dies – nach seiner Eigenart niemals [418] von ihm verheimlichte Ereigniß – war ein Selbstmordversuch, den er im J. 1831 mittelst eines Schusses in den Kopf unternahm, von welcher schweren Verwundung er indessen geheilt wurde, worauf er die juristische Carrière für immer aufgab, Hamburg verließ, um in Göttingen und Berlin Medicin, vorzüglich aber Botanik zu studiren. 1839 in Jena Dr. phil. geworden und bald darauf als außerordentlicher Professor der Botanik daselbst angestellt, auch 1843 von Seiten der Universität Tübingen zum Dr. med. promovirt, wurde er 1846 zum Honorar- und 1850 zum ordentl. Professor der Botanik an der Universität Jena, mit dem Titel eines großherzoglich weimarschen Hofraths, ernannt; indessen fand er sich im J. 1862 bewogen, aus dieser geachteten Stellung zu scheiden, Jena zu verlassen, um in Dresden als Privatgelehrter zu leben. Jedoch folgte er schon 1863 einer Berufung nach Dorpat als Professor der Botanik mit dem Titel eines kaiserlich russischen Staatsraths. Aber schon im nächsten Jahre verließ er auch dies Amt, Dorpat und Rußland, wie es scheint infolge von Differenzen mit kirchlichen Kreisen, veranlaßt durch seinen „naturwissenschaftlichen Standpunkt“ in religiöser Hinsicht. Nach Dresden zurückgekehrt, hat er seitdem in verschiedenen Städten privatisirt, z. B. in Frankfurt a. M., in Darmstadt (1872), und in Wiesbaden (1876). Hier feierte er im genannten Jahre sein 50jähriges Jubiläum als Doctor der Rechte (obschon er seit 45 Jahren der Jurisprudenz untreu geworden war), welches Fest die Universität Heidelberg durch Erneuerung seines juristischen Doctordiploms verherrlichte. 1881 zog er abermals nach Frankfurt a. M., wo er bald darauf (am 23. Juni) im 78. Jahre seines bewegten unstäten Lebens starb.

Begonnen hat S. seine schriftstellerische Thätigkeit 1837 mit einigen anatomischen und entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen, unter denen besonders die „Entwicklungsgeschichte der Samenknospe vor der Befruchtung“, veröffentlicht im dritten Bande von Wiegmann’s Archiv für Naturgesch. durch Inhalt und Darstellung werthvoll war. Bald darauf erschienen im Archiv f. Anatomie von Joh. Müller (1838) „Beiträge zur Phytogenesis“, die eine eigne Zellbildungslehre enthielten und 1839 erschien eine Abhandlung über die Bildung des Eichens und Entstehung des Embryos bei den Phanerogamen im 19. Bande der Abhandlungen der Leopoldina. Als selbständige Schrift endlich kam 1842 ein vorher in den Annalen der Petersburger Akademie veröffentlichter Aufsatz heraus: „Beiträge zur Anatomie der Cacteen“, der sowohl wegen der speciellen Pflanzengruppe, die er behandelte, als auch wegen der allgemeinen Hinweisungen auf den Bau und die Entwicklung der dicotylen Gewächse von großem Interesse war und sich durch die Beigabe von zehn vom Verfasser vortrefflich gezeichneten Tafeln auszeichnete. Geradezu epochemachend aber für die Entwicklung der botanischen Wissenschaft wirkte das Erscheinen von Schleiden’s Lehrbuch „Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik“. Die erste Auflage desselben erschien in zwei Theilen. Der erste 1842, umfassend eine methodologische Einleitung, die vegetabilische Stofflehre und die Lehre von der Pflanzenzelle; der zweite 1843, Morphologie und Organologie enthaltend. Trotz vieler in jene Zeit fallenden Arbeiten von hohem Werthe war der Zustand der botanischen Litteratur dennoch insofern ein wenig ersprießlicher, als es an einem Werke gebrach, das die damals bekannten wissenschaftlichen Thatsachen im Zusammenhange, kritisch beleuchtet, zur Darstellung brachte. Die existirenden Lehrbücher, angefüllt mit einer weitschweifigen Nomenclatur, aber leer an eignen Gedanken, boten den Studirenden keine belehrenden und anregenden Hilfsmittel, auch lag der botanische Unterricht meist in den Händen von Systematikern, die einseitig die von ihnen gepflegte Richtung der Jugend übermittelten. Diesem Zustande machte Schleiden’s Buch ein Ende. Zum ersten Male wurde auf das Ziel der Botanik, als einer inductiven [419] Wissenschaft hingewiesen, die sich nicht bloß damit zu begnügen habe, die Pflanzenformen als fertige Gebilde hinzunehmen, zu beschreiben und zu ordnen, sondern ihren Inhalt vielmehr finde im Studium der Entwicklungsgesetze pflanzlichen Lebens, kurz die Pflanzenwelt in ähnlichem Sinne zu behandeln habe, wie Physik und Chemie die anorganische Materie. Damit war in der That die Botanik als Naturwissenschaft im modernen Sinne hingestellt worden. Im Zusammenhange mit dieser Anschauung stellte denn auch S. in seinem Lehrbuche die Entwicklungsgeschichte in den Vordergrund. Die umfangreiche methodologische Einleitung läßt sich eingehend über das Wesen der inductiven Forschung im Gegensatz zur dogmatischen Philosophie aus. Wenn eine solche Einleitung in einem botanischen Lehrbuche auch sonderbar anmuthet, so war sie zu damaliger Zeit doch an ihrem Platz, zumal sie auch manche treffende Bemerkungen über den Zustand des botanischen Wissens, Rügen über vielfache Mängel der Untersuchungsmethoden, Andeutungen über noch auszuführende Untersuchungen und ähnliches enthält. Unter den speciellen Aufgaben botanischer Forschung betonte er die Embryologie und verlangte auch für die Metamorphosenlehre und selbst für die Systematik rein morphologische und entwicklungsgeschichtliche Gesichtspunkte. Seine Theorie der Blüthe und Frucht ist für ihre Zeit eine ausgezeichnete Leistung (S. und Vogel: „Beiträge zur Entwicklungsgeschichte bei den Leguminosen“ in Nova Acta Acad. Leop. 1839). Endlich brachten die „Grundzüge“ auch wirklich gute, auf sorgfältige Untersuchungen begründete Abbildungen. Daneben freilich durchweht das Buch ein Ton der rücksichtslosesten, die Grenzen einer sachlichen Kritik nur zu oft überschreitenden Polemik, die nicht verfehlen konnte, dem Verfasser viele Feinde zuzuziehen. Dadurch konnte trotzdem der allgemeine Umschwung, den das Buch hervorrief, nicht mehr aufgehalten werden und es ist gewiß bezeichnend, daß die Tübinger medicinische Facultät, in welcher der entscheidende Botaniker Schleiden’s Gegner in vielen wissenschaftlichen Specialfragen war, auf Grund dieser Arbeit S. zum Ehrendoctor promovirte. In sehr verbesserter Auflage kamen die „Grundzüge“ 1845 und 1846 heraus, auch in dem Zusatze zum Titel „Die Botanik als inductive Wissenschaft behandelt“, andeutend, worauf es dem Verfasser besonders ankam. Die dritte, ebenfalls wieder verbesserte Auflage erschien 1849 u. 1850 und die vierte, nur ein unveränderter Abdruck der letzteren, 1861. Neben dieser reformirenden Thätigkeit, welche S. durch die Veröffentlichung dieses Buches ausübte, treten die Erfolge seiner eigenen Untersuchungen, hinsichtlich ihres bleibenden Einflusses auf die botanische Wissenschaft, erheblich zurück, obwohl die Zahl seiner Arbeiten recht beträchtlich ist (vgl. deren Aufzählung im Catalogue of scient. pap. Vol. V. 1871, p. 484 u. 485). Am fruchtbarsten an neuen Anschauungen sind seine oben erwähnten entwicklungsgeschichtlichen Aufsätze. In seinen „Beiträgen zur Phytogenesis“ entwickelte S. eine neue Theorie der Zellbildung, die sogenannte „freie Zellbildung“, welche er als das allgemeinste Bildungsgesetz des vegetabilischen Zellgewebes, wenigstens bei den Phanerogamen hinstellte, wonach die neuen Zellen aus den Kernkörperchen des schleimigen Inhalts der alten Zelle entständen. Trotz der fast um die nämliche Zeit publicirten grundlegenden Arbeiten von Unger, Mohl und Nägeli, welche diese Theorie, mindestens in ihrer Allgemeinheit als falsch nachwiesen, hielt S. noch lange fest daran und gab auch eine nochmalige Darstellung derselben in seinen 1844 erschienenen „Beiträgen zur Botanik“. Nicht minder Aufsehen erregend, aber ebenfalls bald widerlegt, wurde Schleiden’s Lehre von den sexuellen Vorgängen bei den Phanerogamen, die er in seiner ersten entwicklungsgeschichtlichen Arbeit 1837 veröffentlichte. Darnach sollte der Embryo der neuen Pflanze im unteren angeschwollenen Ende des in den Embryosack der Samenknospe eingedrungenen [420] Pollenschlauchs selbst entstehen, nicht in der Samenknospe, welcher letzteren mithin nur die Rolle einer geeigneten Brutstätte der neuen Pflanze, nicht die eines erzeugenden mütterlichen Organes zufiele. In dem heftigen Kampfe der Meinungen, den jene Lehre in den vierziger Jahren entfachte, an dem die berufensten Botaniker, wie Amici, Mohl, Hofmeister, Tulasne u. a. als Gegner, Schacht (s. A. D. B. XXX, 482) als Mitkämpfer Schleiden’s sich betheiligten, blieb letzterer, nicht selten unter den derbsten persönlichen Ausfällen, ein hartnäckiger Streiter, bis auch über seine Theorie, durch die überzeugende Macht der Thatsachen gedrängt, die Wissenschaft zur Tagesordnung überging. An dem in die gleiche Zeit fallenden Umschwung in der Lehre von der Physiologie der Gewächse, welche durch J. v. Liebig’s epochemachendes Werk: „Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie“ (1840) eingeleitet wurde, nahm S. ebenfalls hervorragenden Antheil. Zunächst war es auch hier wieder eine polemische Schrift: „Herr Dr. J. Liebig in Gießen und die Pflanzenphysiologie“ 1842, durch welche S. die gegen die Pflanzenphysiologen damaliger Zeit gerichteten Vorwürfe des berühmten Chemikers zu entkräften suchte; später aber erschien eine eigne Darstellung seiner physiologischen Ansichten in der Schrift: „Die Physiologie der Pflanzen und Thiere und Theorie der Pflanzencultur“ (1851), als dritter Band der von S. und Schmid herausgegebenen Encyklopädie der Naturwissenschaften. In dieselbe Kategorie gehört ein aus der zweiten Auflage seiner „Grundzüge“ veranstalteter besonderer Abdruck: „Ueber Ernährung der Pflanzen und Saftbewegung in denselben“ (1846), worin die bezüglichen Fragen den Landwirthen und gebildeten Laien zugänglich gemacht werden sollten. Eine Reihe populärer Schriften hat Schleiden’s Namen auch in weitere Kreise getragen. Am bekanntesten unter diesen ist das Buch: „Die Pflanze und ihr Leben“, von welchem sechs Auflagen in deutscher Sprache, die erste 1847, die letzte 1864, außerdem zwei englische, eine französische und eine holländische erschienen sind. Den Inhalt bildet eine Sammlung von, zuletzt 14, Vorträgen, welche sich auf botanische, aber auch auf nur lose mit der Pflanzenwelt zusammenhängende Fragen beziehen und in geistreicher Darstellungsform, ausgestattet mit sauberen Kupfertafeln und Holzschnitten, dem Laien eine genußreiche Lectüre bereiten, den Fachbotaniker freilich nöthigen, über manche Unrichtigkeiten hinwegzusehen. Eine andere Sammlung populärer Vorträge, auch mit Abbildungen versehen, erschien 1855 und in zweiter Auflage 1857 unter dem Titel „Studien“. Seine wissenschaftlichen Einzelarbeiten aus Wiegmann’s und Müller’s Archiv, Poggendorff’s Annalen, aus der Flora, Linnaea und Allg. Gartenzeitung gab S. gesammelt, in unverändertem Abdruck und nur von gelegentlichen Anmerkungen begleitet, als „Beiträge zur Botanik“ in einem Bande mit neun Tafeln 1844 heraus, auch verfaßte er zum Gebrauch für seine Vorlesungen einen „Grundriß der Botanik“ 1846, neu aufgelegt 1850, in welchem seine Theorien der Zellbildung und Fortpflanzung mit Hartnäckigkeit festgehalten sind. Eine englische Uebersetzung des Buches erschien 1849. Endlich widmete sich S. auch praktischen Fragen aus der Pharmakognosie in einem Aufsatze über die Sassaparille, aus dem Archiv für Pharmazie (Bd. 52, Heft 1) 1847 besonders abgedruckt, und schrieb ein „Handbuch der medizinisch-pharmazeutischen Botanik“, dessen zwei Theile 1852 und 1857 herauskamen. Mit Karl Nägeli zusammen hatte S. in den Jahren des wissenschaftlichen Aufschwungs her Botanik eine „Zeitschrift für wissenschaftliche Botanik“ gegründet, welche die drei Jahrgänge 1844–46, fast ganz mit Nägeli’s Arbeiten gefüllt, erlebte. S. nutzte seine lange Muße nach Aufgabe seiner Lehrthätigkeit zu allerlei Studien theils naturwissenschaftlicher, theils philosophischer und culturhistorischer Richtung aus und hinterlegte deren Resultate in zahlreichen Publicationen, in [421] denen er sich als den geistreichen und vielseitig gebildeten Mann erwies, den Alle, welche ihm näher gestanden, stets in ihm geschätzt hatten. Auch eine Gedichtsammlung veröffentlichte er 1853 unter dem Namen Ernst.

de Bary, Nachruf in Bot. Ztg. 1881. – Sachs, Geschichte der Botanik. – Pritzel, Thes. lit. bot. – Hamb. Schriftstellerlexicon VI, 555 ff.