ADB:Schönemann, Lilli
Goethe’s Lilli, ward am 23. Juni 1758 zu Frankfurt a. M. dem Bankier Johann Wolfgang Schönemann von seiner Gattin, Susanna Elisabet d’Orville geboren. Nach dem frühen Tode des Vaters (1763) leitete diese die Geschäfte wie die ausgesucht sorgfältige Erziehung ihrer Kinder. Als 1772 ihr ältester Sohn in die umgestaltete Firma eintrat, wußte sie dem Bankgeschäft größere Ausdehnung zu erwerben, und ein im Hause [3] entfalteter, für das damalige Frankfurt ungewöhnlicher Luxus sollte dies geschäftliche Gedeihen auch gesellschaftlich bemerkbar machen. Im Genusse aller geselligen Vortheile und Weltvergnügungen wuchs Lise unter vier Brüdern, ein Bruder und eine Schwester waren früh gestorben, als einzige Tochter des Hauses heran. Im Winter 1774 auf 75 wurde Goethe durch einen musikalischen Freund (Johann André ?) in die Geselligkeit des Schönemann’schen Hauses („zum Liebeneck, Kornmarkt Nr. 15) gezogen und fühlte sich sofort von der sechzehnjährigen Haustochter, für die erst er den Namen „Lili“ aufbrachte, gefesselt (s. A. D. B. IX, 442). Im vierten Theile von „Dichtung und Wahrheit“, 16.–18. Buch, der aus zarter Rücksicht auf Frau v. Türckheim bis nach seinem Tode zurückgehalten wurde, hat Goethe aus der Erinnerung die Schürzung und schmerzhafte Lösung des Verhältnisses dargestellt. Wir vermögen nun aus seinen gleichzeitigen Briefen (Hirzel’s „junger Goethe“ 3. Bd.), besonders denen an Gustchen v. Stolberg und Johanna Fahlmer die Stimmung und Erregungen jener Tage unmittelbarer und lebhafter nachzuempfinden, kleine Irrthümer der Schilderung zu berichtigen. Mag man auch mit Eckermann („Goethe’s Gespräche“ VII, 234) dem alten Dichter glauben, daß Lilli in der That die erste war, die er tief und wahrhaft liebte, unmöglich können wir gegenüber den Zeugnissen der Briefe an Frau v. Stein (s. A. D. B. XXXV, 602) bestätigen, daß alles was in der Folge seines Lebens ihn berührte, mit der Leidenschaft für Lilli verglichen nur als „kleine Neigungen“ erscheine. Welche Anziehungskraft Lilli’s widerspruchsvolles Wesen auch auf den Dichter von „Werther’s Leiden“ ausübte, er selbst war noch zu keinem entscheidenden Schritte entschlossen, als im April 1775 eine gemeinsame Freundin beider Familien, Demoiselle H. d. Delph aus Heidelberg in ihrer barsch verständigen Weise die Liebenden überraschte, indem sie ihnen die Einwilligung der Eltern mittheilte. Zwar nicht zaudernd aber langsam legte Lilli ihre in die dargereichte Goethe’s. Bei spätem Rückblicke pries Goethe das seltsame Geschick, im Verlaufe seines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren zu haben, wie es einem Bräutigam zu Muthe sei. Zur öffentlichen, bindenden Verlobung ist es jedoch überhaupt nicht gekommen, denn die den Eltern abgerungene stillschweigende Gewährung war nur widerwillig zugestanden worden. Die durchaus praktische Frau Schönemann hegte die Ueberzeugung, daß Goethe ungeachtet seines hohen Geistes und seiner glanzvollen Eigenschaften nicht der Mann sei, der das Glück ihrer Tochter begründen könnte; sie hatte von lange her ihr einen Bräutigam, einen Vetter J. Manskopf, bestimmt, den sie der Widerstrebenden freilich auch nicht aufzuzwingen vermochte. Und wie die Mutter, waren auch Lilli’s Brüder dem Dichter durchaus abgeneigt, so daß dieser noch von Weimar seinen tiefsten Haß gegen dies Volk aussprach und das unter so einer Race geborne arme Geschöpf bedauerte. Das Bankhaus wollte die Hand der Tochter verwerthen, um sich einen reichen Geschäftsmann zu verbinden, wie denn ein älterer Bruder nach dem Zusammenbruch der eigenen Firma auch in das Geschäft seines Schwagers T. eingetreten ist. Andererseits war Goethe’s schlichtbürgerlichen Eltern eine „Staatsdame“ wie die verwöhnte Bankierstochter als Schwiegertochter in ihrem Hause durchaus unerwünscht. Fühlte doch der Liebende selbst, wie es die Verse „an Belinden“ aussprechen, sich höchst unbehaglich in dem Kreise der Geldaristokratie, die sich im Schönemann’schen Hause bewegte, während er von Jugend auf in den Patricierkreisen Frankfurts durch die Familie seiner Mutter eingewöhnt war. Der sociale Gegensatz der Familie ward noch verschärft durch den confessionellen. Wol bildeten die Reformirten, denen Schönemann-d’Orville’s angehörten, eine ausgezeichnete Classe, aber erst 1787 ward ihnen der Gottesdienst in der altlutherischen Reichsstadt selbst erlaubt. Wenn einzelne Verwandte Lilli’s, wie der bejahrte [4] Onkel Nikolas Bernard in Offenbach, der gutmüthig helfende Bernardo in „Erwin und Elmire“, auch Goethe gewogen waren und den Liebenden in Offenbach frohe Frühlingstage bereiteten, so setzte Goethe’s Schwester Cornelie Schlosser von Anfang an ihren ganzen Einfluß ein, die ihr unsympathische Verbindung zu lösen. Ein Freund, ob in Auftrag oder aus eigenem eifersüchtigen Triebe suchte im geheimen Lilli wie Goethe die Schwierigkeiten der Verbindung auszumalen, so daß bei beiden im Stillen Zweifel entstanden (Lesarten der Weimarischen Ausgabe XXIX, 212–217); ohne daß die Leidenschaft gemildert ward, kam etwas Unwahres ins Verhältniß. Andre mehr oder weniger versteckte Verhältnisse, die nach Goethe’s eigenem Geständniß ohne Scheu sich einschlangen, konnten von Böswilligen anders gedeutet werden. Nennt doch Goethe selbst das liebe Mädchen seiner Bekanntschaft in Offenbach, bei dem er die Stolberg’s einführte, „ein seltsames Geschöpf“. Dem an Freiheit und Herrschen über Mädchenherzen Gewöhnten mochte Lilli’s Eitelkeit, öffentlich den Geliebten beherrschen zu wollen, trotz der zu Grunde liegenden reinen Neigung lästig fallen. Und höchst unerwartet entzog er sich dem schwankenden Zustande durch die am 15. Mai mit den Grafen Stolberg angetretene Reise in die Schweiz. Freilich war es dann wieder die Liebe zu Lilli, die ihn am Gotthard zur Umkehr bestimmte und auf dem Züricher See als „goldne Träume“ sein Auge niedersinken ließ. Lilli’s Geburtstag kann er in Offenbach nicht mit dem Lustspiel „Sie kommt nicht“ (eine Novelle von K. A. Heigel „Er kommt nicht“ 1873) gefeiert haben, denn erst am 24. Juli kam er nach Frankfurt zurück. Obgleich seit dem Besuche bei seiner Schwester in Emmendingen von der Nothwendigkeit des Verzichtes überzeugt, schmiegte er sich nach der „unseligen Rückkehr“ nun wieder in Lilli’s Fesseln. War ihm doch ihre Aeußerung bekannt geworden, sie würde seiner Neigung alles opfern und mit ihm nach Amerika gehen. In Goethe’s Wesen ist es aber niemals gelegen, zu solchen äußersten Mitteln sich zu entschließen. War ihm die schöne, anmuthige und anziehende Geliebte als Verlobte auch würdig und bedeutend erschienen, in Besitze aller jener Vorzüge, mit denen der Dichter seine „Klaudine von Villa Bella“ ausstattete (K. Kippenberg „über Goethe’s Claudine von Villa Bella“, Bremen 1891; im Neuen Reich 1878, I, 481,): ihre Gabe, anzuziehen und fahren zu lassen, mußte den einmal mißtrauisch gewordenen, von Hause aus ehescheuen Dichter als bedenkliche Schwäche ängstigen. Nicht nur in „Lilli’s Park“ erinnert er die Fee, daß der gezähmte Bär noch die Kraft habe, das dumpfe Zauberwerk zu enden, auch „Erwin und Elmire“ stellt warnend die Reue des übermüthig den Geliebten kränkenden Mädchens vor Augen (Goethejahrbuch II, 146; E. Soffé „die erlebten und litterarischen Grundlagen zu Goethe’s dramatischen Jugendwerken“ 1. Heft. Brünn 1888). Es war „kein Gipfel des Glücks, kein Abgrund des Wehs“ in der zweiten Hälfte dieser Liebe, den die Dichtung nicht begleitet hätte; selbst „auf das Sauer-Süße von Stella hatte dieser Zustand nicht wenig Einfluß“. Die Herbstmesse führte in der zweiten Septemberhälfte den Bruch herbei, als die Tochter des Bankhauses den Geschäftsfreunden eine Zuthulichkeit zeigen mußte, welche die Gefühle des Liebenden verletzte. Aber noch an einem der letzten Abende, ehe er Frankfurt verließ, schlich er sich vermummt nochmals an Lilli’s Fenster, den Umriß ihres lieblichen Wesens zu erhaschen. Ihr Angedenken begleitete ihn nach Weimar, von wo aus er ihr am 11. Februar 1776 die Widmungsverse zu Stella („Im holden Thal“) sandte. Noch war sie „all’ sein Sang“ und schwebte als süßes Bild dem die Welt durchstreifenden Menschen vor (Jägers Abendlied). Selbst als die Liebe zu Frau v. Stein ihn schon mächtig ergriffen hatte, sollte die Giovanna im „Falken“ viel von Lilli und nur einige Tropfen von Charlottens Wesen erhalten (8. August 1776). Damit endet aber auch, von „Dichtung [5] und Wahrheit“ abgesehen, ihr Einfluß auf Goethe’s Dichtung; Frau v. T. und ihre Erlebnisse als die Urbilder zu „Hermann und Dorothea“ nachweisen zu wollen (Preußische Jahrbücher LX, 335), ist eine ganz haltlose Vermuthung.
Türckheim: Anna Elisabet v. T.,Erst aus viel späterer Zeit besitzen wir Aeußerungen von Lilli selbst, die für ihr Verhalten im J. 1775 uns nichts lehren können. Da (1795) soll sie Goethe als den Schöpfer ihrer moralischen Existenz, den unvergeßlichen Freund, dem sie ihre geistige Ausbildung verdanke, gepriesen haben (Grenzboten 1869, Nr. 32). Daß ihre beiden Briefe an Goethe aus den Jahren 1801 und 1807 die Vergangenheit nicht berühren, kann natürlich nichts gegen die Richtigkeit der Mittheilungen Henriette v. Egloffstein’s beweisen. Goethe’s Antworten (Goethejahrbuch XIII, 30) sind sehr warm gehalten, während er im Juli 1776 bei der Nachricht, daß Lilli Braut sei, und im September 1779, als er die junge Mutter in Straßburg besuchte, sehr kühl von dem schönen Grasaffen sprach.
Nach Goethe’s Entfernung beeilte sich Frau Schönemann ihrer Tochter einen Mann zu finden und verlobte sie mit einem für reich geltenden Verwandten Bernard aus Straßburg. Als der Bräutigam aber einen Ueberblick über seine Vermögensverhältnisse gewinnen wollte, zeigten sich diese so zerrüttet, daß er nach Amerika ging und auf Jamaica starb. Dieser neuen Gemüthserschütterung erlag Lilli’s Gesundheit; es bedurfte längerer Zeit bis sie sich wieder erholte. Erst im August 1778 verlobte sie sich mit Bernhard Friedrich v. Türckheim, dem Sohn eines der angesehensten Bankiers in Straßburg. Türckheim hatte als Volontär im Schönemannschen Geschäft die Tochter des Hauses schon vor ihrer Bekanntschaft mit Goethe geliebt, war aber als jüngerer Bruder erst später selbständig geworden. Am 25. August fand die Vermählung statt, am 9. August 1779 ward das erste Kind, Lilli, geboren, dem bis 1785 noch vier Brüder nachfolgten. 1792 wurde Türckheim zum Maire von Straßburg ernannt, aber schon nach wenigen Monaten abgesetzt und aus der Stadt verwiesen. Als er auf seinem kleinen Gute Posdorf in Lothringen am 6. Juli 1794 verhaftet werden sollte, gelang es ihm zu entfliehen und von Saarbrücken aus auch seine Frau zur Flucht aufzufordern. Als Bäuerin verkleidet kam denn auch Frau v. T. mit ihren Kindern glücklich durch die galant zudringlichen französischen Vorposten und traf in Mannheim mit ihrem Mann zusammen. Aus glänzenden Verhältnissen war die emigrirte Familie nun plötzlich in sehr beschränkte versetzt. Allein eben in dieser Lage bewährte Lilli die Tüchtigkeit ihres Wesens. Sie schämte sich keiner Arbeit in der Haushaltung und ließ sich von den Sorgen nicht niederdrücken. Die Familie hielt sich zuerst in Heidelberg, dann im Erlangen auf. Schon im Juni 1795 konnte Türckheim, der nicht auf die Emigrantenliste gesetzt worden war, nach Straßburg zurückkehren, und Ende September traf auch Lilli über Stuttgart und Basel reisend mit den Kindern wieder dort ein. Die Vermögensverhältnisse Türckheim’s erholten sich rasch wieder und sein gemeinnütziges Wirken fand auch unter den wechselnden Regierungen stets gleiche Anerkennung. Er, der in den Ueberlieferungen der Necker’schen Schule aufgewachsen war, wurde sogar als Finanzminister nach Baden berufen, trat aber bald wieder von diesem Posten zurück. Dagegen ließ er nach der Restauration sich dreimal in die Kammer wählen. Lilli widmete sich ganz der Erziehung ihrer Kinder. Da ihr Sohn Wilhelm als Husarenlieutenant Napoleon’s Feldzüge in Deutschland, Spanien und Rußland mitkämpfte, mangelte es ihr nicht an Sorgen. Ein Irrthum ist die Annahme, daß Wilhelm v. Türckheim der Husarenlieutenant war, den Goethe’s Tagebuch unterm 17. October 1806 erwähnt. Lilli starb am 6. Mai 1817 auf ihrem Lieblingsgute zu Krautergersheim i. E. Welch geachtete Stellung sie auch in ihrem Familien- und Freundeskreise eingenommen hat, welche Theilnahme auch ihre Flucht in der Schreckenszeit erregen [6] mag, das dauernde Interesse für sie ist doch nur durch ihr Verhältniß zu Goethe bestimmt. Von ihren durch Jügel und Graf Dürckheim veröffentlichten zwei Bildern, verdient das erstere (vgl. Scherer, kleine Schriften II, 245) entschieden den Vorzug. Ihr Bruder hat ihre schöne interessante Gestalt geschildert: „der Ausdruck eines lebhaften Geistes und talentvoller Befähigung leuchtete aus ihren sprechenden Augen, mischte sich mit den weichen Zügen einer edel geformten Gesichtsbildung und schuf eine Harmonie darin, die schon beim ersten Anblick auf ein gutes, Allen wohlwollendes Herz schließen ließ“.
Unkritisch und vom Standpunkte des verehrenden Verwandten aus geschrieben ist das Buch des Grafen Ferd. Eckbrecht v. Dürckheim „Lilli’s Bild geschichtlich entworfen. Mit einer Auslese aus Lilli’s Briefwechsel“ (Nördlingen 1879), 2., vermehrte Aufl. von A. Bielschowsky. München 1894. – Reicheres Briefmaterial und Benutzung der Familienpapiere und Tradition bieten Karl Jügel’s Zusammenstellungen: „Das Puppenhaus, ein Erbstück der Gontardschen Familie“, Frankfurt 1857 S. 299–383. – Die gründlichste und umfangreichste Arbeit bietet Düntzer in den „Frauenbildern aus Goethe’s Jugendzeit“. Stuttgart 1852. S. 262–405 u. Bl. f. litt. Unterh. 1849 S. 947 f., und nach ihm v. Loeper im 23. Theile der Hempelschen Goetheausgabe. – A. Clemens, Morgenbl. 1857 Nr. 30. – Euler, Mittheilungen d. Vereins f. Gesch. u. Alterthum zu Frankfurt V, 544. – Bielschowsky, Westermann’s Monatshefte August 1887.