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ADB:Seidemann, Johann Karl

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Artikel „Seidemann, Johann Karl“ von Georg Müller in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 627–630, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Seidemann,_Johann_Karl&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 00:16 Uhr UTC)
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Band 33 (1891), S. 627–630 (Quelle).
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Seidemann: Johann Karl S., sächsischer Geistlicher und „Begründer der modernen Lutherforschung“, wurde zu Dresden am 10. April 1807 als Sohn eines Musquetiers geboren. Der Knabe genoß den ersten Unterricht in dem Privatinstitute des Candidaten Rothe, eines Freundes der Familie und wurde hier in die Anfangsgründe der lateinischen und griechischen Sprache eingeführt. Dankbar gedachte S. später dieses wohlwollenden Förderers, ebenso wie des Neustädter, später Hamburger Pfarrers Schmaltz, der auf den geweckten und gemüthvollen Knaben beim Confirmandenunterricht aufmerksam geworden war und ihn ermuthigte, die wissenschaftliche Laufbahn zu ergreifen. Er nahm sich des Schützlings besonders warm an, als dieser, eben erst in das Kreuzgymnasium eingetreten, im Juni 1821 seinen Vater verlor. Durch des Gönners Empfehlungen unterstützt, konnte S. auf der genannten Schule bleiben, die ihn fünf Jahre später mit dem Zeugnisse „omnio et prae ceteris dignus“ entließ. Nicht ganz drei Jahre widmete sich S. theologischen Studien auf der Universität Leipzig. Bereits am Schlusse des Jahres 1828 kehrte er in seine Vaterstadt zurück, wo er in verschiedenen Privatschulen Unterricht ertheilte, in den Jahren 1831 und 1832 auch Erzieher im Hause des Hofmarschalls Grafen Bose war. Bereits am 2. Februar 1834 wurde er von dem um die Förderung der Kunst in Sachsen hochverdienten Johann Gottlob von Quandt in das Pfarramt Eschdorf (Ephorie Radeberg) berufen, das er über 37 Jahre verwaltet hat. Nach seiner Emeritirung im Herbste des Jahres 1871 wandte er sich mit seiner Tochter nach Dresden, wo er nach kurzer Krankheit am 5. August 1879 starb.

Die treue Anhänglichkeit, welche die Gemeinde ihrem langjährigen Geistlichen auch nach seinem Uebertritt in den Ruhestand bewahrte und durch Besuche und Zeichen der Liebe auch äußerlich zum Ausdruck brachte, war der beste Beweis dafür, daß S. als Seelsorger in stiller, treuer Hingabe an sein Amt die Herzen zu gewinnen gewußt hatte. Von seiner schlichten Weise zu predigen legen einige Predigten und Casualreden Zeugniß ab, die zum Drucke gelangt sind. Erwähnt sei die Rede am Grabe seines Patrons von Quandt, die am Grabe seiner ihm nach 34jähriger Ehe durch den Tod entrissenen Gattin, Hanna Margarethe Eleonore geb. Malsch, und eine in der Kirche zu Radeberg gehaltene Circularpredigt: [628] „Es ist Gewinn für unser Leben, das Walten Gottes in dem Geschicke der Völker fromm zu betrachten.“ Hier tritt seine Neigung für die Geschichte deutlich hervor. Das kleine Pfarramt gewährte S. reichliche Muße zu ausgedehnten Studien, die sich zunächst der Erforschung der reformatorischen Bewegung innerhalb der sächsischen Gebiete zuwandten. Mit unermüdlicher Ausdauer und zielbewußter Methodik las er die Quellenschriften der Reformationszeit, namentlich soweit sie sich auf Luther’s Leben und die Reformation in Sachsen bezogen und sammelte die in ihnen verstreuten Angaben über die einzelnen Persönlichkeiten, litterarischen Erscheinungen und geschichtlichen Vorgänge. Außerdem ging er mit unendlicher Betriebsamkeit die zahlreichen Sammelwerke durch, in denen der Gelehrtenfleiß mehrerer Jahrhunderte gerade für die Geschichte der Reformationszeit überaus werthvolles Material niedergelegt hatte. Dadurch daß S. diese reichen Schätze früheren Sammeleifers in planvoller Weise und selbstloser Entsagung der Forschung nutzbar machte, liegt nicht zum geringsten die Bedeutung seiner schriftstellerischen Thätigkeit. Dazu beutete er mit außerordentlicher Thatkraft die ihm zugänglichen urkundlichen Quellen aus. Freilich mit großen Schwierigkeiten hatte er hierbei zu kämpfen. Sein Pfarrdorf war von Dresden drei Stunden entfernt. Er hat den Weg oft am Morgen zurückgelegt, um nach angestrengter Arbeit im königlichen Hauptstaatsarchive am Abend zurückzukehren. Ein auswärtiges Archiv hat er nicht aufsuchen können, wiewohl ihm gerade das zu Weimar für seine Studien reiche Ausbeute in Aussicht gestellt haben würde. Dafür hat er das Dresdener um so fleißiger ausgenutzt und Gelehrte, die in diesem nach S. Forschungen angestellt haben, bezeugen, wie sorgfältig und gründlich er hier gearbeitet hat, mag auch mancher einzelne Fund ihnen vorbehalten gewesen sein.

Diese Forschungen legte S. in zahlreichen Schriften nieder, die, nachdem einmal der Bann gebrochen war, außerordentlich schnell auf einander folgten. Den Anfang machte er 1840 mit der Geschichte seines Kirchspiels. Schon der Titel „Eschdorf und Dittersbach. Beiträge zur sächsischen Dörfer-, Adels-, Kirchen- und Sittengeschichte“ läßt errathen, daß der Verfasser nicht bloß sein Dorf im Auge hatte, sondern oft in losem Zusammenhange mit dem engen Rahmen seines Kirchspiels eine Fülle geschichtlichen Materials veröffentlichte. Mit der Localgeschichte beschäftigten sich noch die 1860 erschienenen „Ueberlieferungen zur Geschichte von Eschdorf, Dittersdorf und Umgegend“ und der erste Band der „Geschichte der Familie Gutbier“ (1867). Zeigten diese Arbeiten die Quellenkenntniß des Verfassers, so trat diese noch mehr in den folgenden Schriften zu Tage. 1842 erschien sein „Thomas Müntzer“, im Jahre darauf „die Leipziger Disputation im Jahre 1519“, wieder ein Jahr später „Karl von Miltitz“ und „Erläuterungen zur Reformationsgeschichte durch bisher unbekannte Urkunden.“ Den Schluß dieser in sich zusammenhängenden Reihe bildeten die „Beiträge zur Reformationsgeschichte“, von denen das 1. Heft 1846, das zweite 1848 erschien.

Noch hatte sich bisher seine Thätigkeit auf das sächsische Gebiet beschränkt. Da kam ihm eine ehrenvolle Aufforderung zu, die seiner Leistungsfähigkeit ein ehrenvolles Zeugniß ausstellte. Im Jahre 1849 war de Wette gestorben, ohne seinen Briefwechsel Luther’s vollendet zu haben. Bereits vor einer Reihe von Jahren hatte ihm S. Ergänzungen zu dem seit dem Jahre 1828 mit dem fünften Bande ins Stocken gerathenen Werke zugehen lassen. De Wette schrieb ihm damals, er sei noch mit seinem exegetischen Handbuche beschäftigt, aber in zwei Jahren wolle er an den Abschluß gehen. Dieser sollte ihm nicht vergönnt sein. Da richtete die Verlagshandlung von Reimer die Aufforderung an S., die Vollendung des Schlußbandes zu übernehmen und man muß staunen, mit welcher [629] Schnelligkeit er „in seiner Walddorfeinsamkeit“, in einer Zeit, in welcher der Verkehr noch unendlich schwierig war, den sechsten Band geliefert, mit einer Fülle wichtiger Ergänzungen versehen und mit den von ebenso peinlicher Genauigkeit, wie staunenswerther Sachkenntniß zeugenden zwei Adressaten- und Sachregistern ausgestattet hat, die die Handhabe zu bequemer Benutzung dieser wichtigsten Quelle für Luther’s äußeres Leben und innere Entwickelung boten. Diese Leistung machte des Herausgebers Namen mit einem Schlage auch in weiteren Kreisen bekannt. 1857 bot er in seinen „Lutherbriefen“ eine neue Ergänzung. Weiteres werthvolles Material stellte er C. A. H. Burkhardt zu dessen Briefwechsel Dr. Martin Luther’s zur Verfügung. Ueber ein Jahrzehnt hatte S. keine größere Arbeit veröffentlicht. Da überraschte er nach seiner Emeritirung die gelehrte Welt mit einer Reihe von Schriften, die für die Lösung zahlreicher kritischer Fragen und die quellenmäßige Kenntniß der Reformationszeit grundlegend werden sollten. „M. Anton Lauterbachs Tagebuch auf das Jahr 1538“ (Dresden 1872) gab zur Behandlung der wichtigen Frage der Lutherschen Tischreden einen neuen Anstoß. Wichtige Aufschlüsse über Luther’s theologische Entwickelung boten „Luthers erste und älteste Vorlesungen über die Psalmen in den Jahren 1513 bis 1516“ (Dresden 1876, 2 Bände), die der Freund des Herausgebers, Dr. Schnorr von Carolsfeld, bei den Vorbereitungen zur Herausgabe des Handschriftenkatalogs der Dresdener Kgl. öffentl. Bibliothek in derselben wieder aufgefunden hatte. Gleichzeitig erschien „Jacob Schenk, der vermeintliche Antinomer, Freibergs Reformator“ (Leipzig 1875). Noch war der unermüdliche Arbeiter mit einer Sammlung der Lutherschen Tischreden beschäftigt. Aber der Tod nahm ihm die Feder aus der Hand; das Werk wird einen Theil der Weimarer Lutherausgabe bilden. Aus den vorstehenden Angaben geht hervor, wie werthvolle Dienste S. der Erforschung des Reformationszeitalters geleistet hat. Sie fanden auch insofern Anerkennung, als der anspruchslose Gelehrte 1846 von der theologischen Facultät der Universität Leipzig zum Licentiaten, 1876 von der der Universität Halle-Wittenberg zum Doctor der Theologie honoris causa ernannt wurde.

Neben seinen Fachstudien zeigte S. bis in sein hohes Alter hinein ein vielseitiges geistiges Interesse. Wie er einen feinen Sinn für die Natur und für edle Geselligkeit unter Freunden hatte, wobei dann Scherz, Humor und Satire nicht fehlten, so verfolgte er die neuere Philosophie mit lebhaftem Antheil. Auch hat er sich mit der spanischen Litteratur eingehend beschäftigt. Einige kleinere Abhandlungen über dieses Gebiet hat er in Zeitschriften veröffentlicht, gern verwendete er spanische Sprichwörter in seinen Vorreden, wie in der Unterhaltung. Von seiner nie rastenden Thätigkeit zeugen auch die Nachträge in den Handexemplaren seiner Schriften. Sie sind in die Kgl. öffentliche Bibliothek in Dresden übergegangen, wo sich auch eine Sammlung der zahlreichen in Zeitschriften veröffentlichten Aufsätze befindet.

Schnorr von Carolsfeld im Neuen Archiv für Sächsische Geschichte und Alterthumskunde, hgg. von Ermisch. Dresden 1880. I. 94–102, wo sich ein genaues Verzeichniß der Schriften befindet. – J. Köstlin in den Studien und Kritiken, hgg. von J. Köstlin und E. Riehm. Gotha 1880. 53. Jahrgang. 1. H., S. 337 ff. – C. Krafft in der Zeitschrift des bergischen Geschichtsvereins. Bonn 1881. XVI, 256 ff. – Th. Kolde in Herzog-Plitt-Hauck, Real-Encyklopädie der prot. Theologie und Kirche. Leipzig 1884. XIV², 38–40. – Holtzmann und Zöpffel, Lexikon für Theologie und Kirchenwesen. 2. Aufl. Braunschweig 1888. S. 964 f. – Haan, Sächsisches Schriftstellerlexikon. Leipzig 1875. S. 318. – A. H. Kreyßig, Album der evangelisch-lutherischen Geistlichen im Kgr. Sachsen. Dresden 1883. [630] S. 130. – Th. Kolde, die deutsche Augustiner-Congregation und Johann von Staupitz. Gotha 1879. S. IX. – G. Kawerau, Johann Agricola von Eisleben. Berlin 1881.– S. V. – J. Köstlin, Martin Luther. 2. Aufl. Elberfeld 1883. I S. III. – C. A. H. Burkhardt, Dr. Martin Luthers Briefwechsel. Leipzig 1866. S. VIII f.