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ADB:Stickel, Johann Gustav

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Artikel „Stickel, Johann Gustav“ von Carl Gustav Adolf Siegfried in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 519–522, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stickel,_Johann_Gustav&oldid=- (Version vom 12. Oktober 2024, 09:12 Uhr UTC)
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Stickel: Johann Gustav St. wurde am 18. Juli 1805 zu Eisenach geboren. In seinem vierten Lebensjahre zogen seine Eltern nach dem kleinen thüringischen Städtchen Buttelstedt. Zu seinen frühesten Erinnerungen aus dieser Zeit gehörte das Bild des inmitten seiner Heeresmassen auf der Etappenstraße, die durch diesen Ort ging, rastenden Napoleon, der den Feldzug gegen Rußland begann. Später 1813 erblickte er die Trümmer des nach der Schlacht bei Leipzig flüchtenden französischen Heeres. Stickel’s Eltern zogen darauf nach Weimar, von dessen Gymnasium er im Alter von 171/2 Jahren mit dem Zeugniß der Reife zur Universität entlassen wurde. Er studirte zu Jena Theologie und Philologie. Im J. 1827 habilitirte er sich als Privatdocent für alttestamentliche und semitische Philologie zu Jena mit einer Inauguraldissertation über das 3. Capitel des Propheten Habakuk, welche er nach damaliger Sitte dem leitenden Minister des Landes persönlich zu überreichen hatte. Dadurch kam St. in persönliche Berührung mit Goethe, welchen Besuch St. selbst in einem Aufsatz des 7. Bandes des Goethe-Jahrbuchs S. 231–233 beschrieben hat. Um seinen alttestamentlichen Studien eine gediegene sprachliche Grundlage zu geben, unternahm St. mit Unterstützung der Regierung bald darauf eine Reise nach Paris, wo das Haupt der damaligen Arabisten Silvestre de Sacy sein Lehrer wurde. Vor seiner Abreise erfolgte der ebenfalls im Goethe-Jahrbuch a. a. O. S. 233–237 beschriebene zweite Goethebesuch. Nach seiner Rückkehr im J. 1830 bekam St. von Goethe einen Ring zugesendet mit einem Siegelsteine, dessen orientalische Umschrift der Dichter entziffert wünschte. Das war, wie St. selbst in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 1883, S. 438 f. erzählt, die erste Veranlassung, die ihn seinem späteren Hauptfach der orientalischen Numismatik zuführte. Er brachte es bald heraus, daß hier der oft zu Siegelinschriften benutzte 90. Vers der 11. Sure des Koran vorliege. Bald darauf fand der dritte Goethebesuch Stickel’s statt am 22. März 1831, von dem a. a. O. des Goethe-Jahrbuchs S. 237–240 Bericht erstattet ist. Die äußere Veranlassung dieses Besuchs war die Abstattung des Dankes für die nach der Rückkehr von Paris ihm gewordene Ernennung zum außerordentlichen Professor. Den Gegenstand der Unterhaltung bildete der west-östliche Divan, insonderheit Goethe’s Uebersetzung der Hudseilitenballade in demselben. Im J. 1832 erwarb sich St. durch fünfstündige mündliche Vertheidigung seiner Dissertation über den Goël in Hiob 19, 25–27 rite die Würde eines Doctors der Theologie. 1834 veröffentlichte er ein orientalisches Specimen aus de Sacy’s Schule, indem er die Sentenzen des Ali ben Ali Taleb arabisch und persisch nach einer weimarischen Handschrift herausgab und mit philologischen Anmerkungen begleitete. – 1839 trat er zur Vertretung des Fachs der Orientalia als ordentlicher Professor in die philosophische Facultät über. In dieser Zeit wußte er auch am großherzoglichen Hofe das Interesse an orientalistischer Litteratur und deren Funden besonders auf dem Gebiete der Numismatik zu erregen und warm zu erhalten. Es gelang ihm, den damaligen Großherzog Karl Friedrich und dessen Gemahlin für die Begründung eines orientalischen Münzcabinets zu gewinnen, welches noch jetzt eine Zierde der Universität Jena bildet. 1845 gab St. das erste Heft eines [520] Handbuchs zur morgenländischen Münzkunde heraus, in welchem die Ommajaden- und Abbasidenmünzen der Jenaischen Sammlung beschrieben und deren Legenden erklärt wurden. Gleichzeitig war unter Mitwirkung Stickel’s im J. 1845 die Gründung der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft erfolgt (vgl. die D. M. G. 1845–1895: ein Ueberblick [Leipzig] S. 44, Nr. 44). In den ersten 20 Bänden dieser Zeitschrift von 1845–1866 erschienen Stickel’s Arbeiten über Abbasiden-Münzen, Beiträge zur muhammedanischen Numismatik verschiedener Art, eine Abhandlung über syrische Denare u. a. m. – Bald konnte St. auch dazu schreiten, den Katalog des durch die Munificenz des Großherzogs Karl Alexander, der Großherzogin Sophie sowie des Erbgroßherzogs Karl August durch Ankauf der Soret’schen Sammlung erheblich erweiterten orientalischen Münzcabinets fortzusetzen. Im J. 1870 erschien das 2. Heft des oben erwähnten Handbuchs der orientalischen Münzkunde, welches die ältesten muhammedanischen Münzen des Cabinets bis zur Münzreform Abdulmelik’s beschrieb. Es war dabei von St. zugleich eine Uebersicht über die Entwicklung des muhammedanischen Münzwesens gegeben, bei der die klare Anordnung des numismatischen Materials nach geographischen und chronologischen Gesichtspunkten das Eindringen in diesen verwickelten Gegenstand erleichterte. Auch weiterhin sammelte der Verfasser reichliches Material zur Vollendung dieses umfassenden numismatischen Werkes, zu dessen Abschluß er nicht mehr gelangen sollte. Doch boten die Bände 21–30 der Zeitschrift der D. M. G. noch neun verschiedene numismatische Abhandlungen dar, die in den Jahren 1867–1876 erschienen. Im J. 1883 erschien in der Zeitschr. der D. M. G. desselben Jahres S. 435–439 die Entzifferung und Erklärung einiger im Persischen Ta’lik geschriebenen Siegellegenden, im J. 1884 in der Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins S. 211–214 die Entzifferung einiger jüdischer Münzlegenden in hebräischer und griechischer Sprache, sowie in der Numismatischen Zeitschrift 1883 S. 1–6 eine ebensolche von einer armenischen Legende; in der Zeitschr. der D. M. G. 1885 S. 17–41 und ebenda 1886 S. 81–87 veröffentlichte St. Fehlerverbesserungen zur Entzifferung omajjadischer Münzen, in der Zeitschr. der D. M. G. Bd. 43 (1890) S. 682–703 erstattete er einen Bericht über den Katalog von H. Lavoix, die Münzen der Muselmanen betreffend, der in der Bibl. nationale von 1887 erschienen war und bei St. große Anerkennung fand. Ueber einen merkwürdigen Dinar berichtete St. in der Zeitschr. f. Numismatik Bd. 19 S. 103 bis 105. Eine Erklärung von Kufischen Bleisiegeln, die der Jenaer Münzsammlung angehörten, gab er in der Zeitschr. der D. M. G. Bd. 49 (1895) S. 63–70; vgl. dazu Theol. Jahresber. 1895 S. 23. – Die letzte paläographische Arbeit Stickel’s bestand in einer Erklärung der arabischen Felseninschriften von Tôr, welche der medicinische Reisende Dr. Verworn aus Jena in photographischen Abbildungen mitgebracht hatte (Zeitschr. der D. M. G. Bd. 50 S. 84–96; vgl. dazu S. Fränkel ebd. S. 288). Ueberhaupt siehe zu diesen Arbeiten den Theol. Jahresbericht von Pünjer etc. 1883 S. 9. 11, 1884 S. 13, 1885 S. 16. 18, 1890 S. 18. 19, 1892 S. 58. 62, 1893 S. 23, 1896 S. 24. Ueber den noch in Stickel’s letzten Lebensjahren von ihm gezogenen tüchtigen Schüler auf dem Gebiete der semitischen Paläographie H. Nützle und über die von diesem veröffentlichten Arbeiten s. a. a. O. 1892 S. 22, 1893 S. 23, 1894 S. 24; s. auch Stickel’s Besprechung der Arbeit über die Rasulidenmünzen in der Zeitschr. der D. M. G. Bd. 47, S. 707 bis 709. –

Von der Paläographie gehen wir zu den anderweiten orientalistischen und alttestamentlichen Forschungen Stickel’s über. Im J. 1858 bot er zu dem [521] dreihundertjährigen Jubiläum der Universität Jena das vielangefochtene Werk über „Das Etruskische … als semitische Sprache erwiesen“ dar. Man wird sich nicht verhehlen dürfen, daß das aufgestellte Princip der Spracherklärung ein unhaltbares ist. Eine Sprache kann Fremdworte, selbst in großer Zahl, in sich aufnehmen, Lehnworte aus anderen Sprachen assimiliren, aber sie kann nicht ihre Structur und Grammatik aufgeben. Das aramäische Etruskisch aber hätte sich nach Stickel’s Vorstellungen in eine italische Sprache umwandeln müssen. Außerdem hätte es, was bei den semitischen Sprachen bekanntlich sehr spät stattfindet, von Hause aus eine Bezeichnung von Vocalen angewendet, welche Zeichen aber auch häufig als Worttrenner fungiren, so daß man aus einer rettungslosen Verwirrung keinen Ausweg findet. St. selbst hat zwar seine Grundvorstellung vom Etruskischen als altsemitischer Sprache nicht wieder aufgegeben, auch bei seinem Aufenthalte in Italien 1860 mit Eifer etruskische Ueberbleibsel im Interesse seiner Hypothese studirt, ist aber doch davon abgestanden, an einen verbesserten Aufbau seines Buchs die Hand zu legen. – Aehnlich verunglückt war auch das Programm über die ephesiae litterae von 1860. Wir begnügen uns, die auf S. 9 desselben gegebene Uebersetzung mitzutheilen, welche lautet: „Bleiche Finsternisse sind meine Finsternisse; blicke vertrauensvoll in das Feuer; jener ist gläubig, der sein Leben es reinigend weiht“. Einen Sinn wird man darin nicht finden können.

Eine sehr sorgfältige und kunstvolle Arbeit lieferte St. in seinem Commentar zum Hiob. „Das Buch Hiob rhythmisch gegliedert und übersetzt mit exegetischen und kritischen Bemerkungen“, 1842. Er stellte sich darin eine sehr schwierige Aufgabe. Das ganze Gedicht ward von ihm nicht nur strophisch, sondern im engsten Anschluß an die spätere massorethische Accentuation angegliedert, indem er dabei bis ins Einzelnste hinein der feinen Articulation des poetischen Schaffens zu folgen suchte. Nur ward dabei übersehen, daß die Accentuation uns nicht die Auffassung des Dichters selbst, sondern die eines um Jahrhunderte späteren Verständnisses der Punktatoren des Dichters bietet. Immerhin wird man an der peinlichen Accuratesse, mit der St. der massorethischen Auffassung des Gedichts nachgegangen ist, sein Vergnügen haben. Die Erklärung des Gedichtes mit den feinen Parallelen aus der arabischen Poesie verdient noch jetzt beachtet zu werden. In der Ansicht von der Echtheit der Elihu-Reden hat St. noch bis auf die neueste Zeit (Budde, Cornill) Nachfolger gehabt.

Im J. 1850 erschien eine längere Abhandlung Stickel’s über „den Auszug der Israeliten aus Aegypten“ in den Theol. Studien und Kritiken, die auch besonders herausgegeben ist. Es handelt sich hier darum, den Weg zu bestimmen, den die Jsraeliten von ihren Wohnsitzen auf der arabischen Nilseite bis zum Schilfmeer genommen haben. Mit großem Fleiß ist vom Verfasser das damalige ägyptologische Material und die Specialtopographie des Deltas durchforscht worden, um zuletzt den Uebergang auf einer Furt sich vollziehen zu lassen, welche einen alten Canal zwischen Schilfmeer und Bitterseen überschreitbar macht. In des Verfassers Handexemplar findet sich die Notiz: „meine Ansicht ist nach 43 Jahren glänzend durch monumentale Entdeckungen bestätigt worden, wie Heinr. Brugsch darlegt.“ Indessen wie wenig auf die damaligen Aegyptologen Verlaß ist, zeigt die Schrift von Brugsch: „L’exode et les monuments égyptiens“, 1875, wo ein ganz andrer Weg vorgezeichnet ist. Die ältere Aegyptologie mit ihren Identificationen der Exodusgeschichte und -geographie bewegte sich auf einem ganz unsicheren und hypothesenreichen Boden, wobei sie von ihrer eigenen Wissenschaft wenig unterstützt ward.

[522] Die letzte Arbeit Stickel’s, in welche er seine ganze Seele hineinlegte, war „Das Hohelied in seiner Einheit und dramatischen Gliederung mit Uebersetzung und Beigaben“, 1888. Er glaubte die Lösung des Räthsels gefunden zu haben und fühlte sich in diesem vermeintlichen Resultate wirklich glücklich (s. darüber P. Holzhausen, Goethe und seine Uebersetzung des Hohenliedes, Deutsche Revue Jahrgang 21 S. 370–372, wonach St. sich besonders unzufrieden darüber äußert, daß Goethe die Gedichte des hohen Liedes „fragmentarisch durcheinander geworfen“ genannt habe). Nach Stickel’s Annahme war vor allen Dingen festzuhalten, daß „der Text des Hohenliedes uns durchaus richtig überliefert“ sei. Dem zuzustimmen, dürfte sich wohl kaum jemand entschließen, der die neueren Verhandlungen über die Textgeschichte des Alten Testaments mit seiner Theilnahme begleitet hat. – Ferner haben wir im Hohenlied „eine Einheit – ohne Lücken, ein Drama mit der vollen und strengen Geltung dieses Begriffs, mit Acten und Scenen“. Man vergleiche zu dieser sogen. dramatischen Hypothese des hier Unterzeichneten Erklärung des Hohenliedes in W. Nowack’s Hdkomm. z. A. T., II. Abth., 3. Bd. 2. Thl., S. 80–86. – Auch nennt St. das Hohelied „ein durchweg sittliches Buch“. Das ist eine moderne Anschauung, von der sich der alte Morgenländer überhaupt keine Vorstellung machen konnte. Sonst s. Theol. Jahresber. Bd. 8 S. 40 f., Th. Arndt, Zur Erklärung des A. T.s, Prot. Kirchenzeitung 1889 Nr. 8. 9, A. v. Hoonacker, Le système de Mr. Stickel rélativement au cantique des cantiques (Muséon VIII, 394–398. – In dem Aufsatz „Das Räthsel des Hohenliedes (Deutsche Revue 1893, Januar, S. 73–89) machte St. zugleich mit einem interessanten auslegungsgeschichtlichen Rückblick seinen Erklärungsversuch weiteren Kreisen zugänglich. – Noch im J. 1892 theilte St. an die Deutsche Revue desselben Jahres S. 223–232. 346–356 einen Vortrag mit, den er bereits im J. 1833 nach altweimarischem Brauch vor der Großherzogin und einigen Geladenen gehalten hatte, vgl. S. 223 A. 2. Derselbe handelte von der Natur und Bedeutung des Sprüchworts, wobei St. besonders auf die arabische Spruchdichtung einging und mehreres aus einer vorliegenden Handschrift von einem gewissen Ali, Sohn des Abu Taleb, mittheilte, vgl. besonders S. 350–356. – Das Werk eines langen und gesegneten Lebens ist zu Ende. Noch manche anziehende einzelne Züge aus demselben wären anzuführen. Doch sind uns hier bestimmte Grenzen gezogen. Wir verweisen auf den anziehenden Aufsatz von P. Holzhausen: Von Napoleon bis heute (Deutsche Revue 1895, August, S. 233–239); auch siehe Robert Fritzsche in der Allg. Zeitung 1896, Beilage, Nr. 28; Theol. Jahresbericht Bd. 15 S. 3; Protest. Kirchenzeitung 1896 Nr. 4 (H. Hilgenfeld), Nr. 7 (C. Siegfried). – Leidlos und ohne Klage schied St. dahin am 21. Januar 1896 als der Nestor der deutschen Professoren.