Zum Inhalt springen

ADB:Stichaner, Joseph von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Stichaner, Joseph Philipp Karl Edler von“ von Johann Josef Hermann Schmitt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 513–519, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stichaner,_Joseph_von&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 06:59 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 54 (1908), S. 513–519 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Joseph Philipp von Stichaner in der Wikipedia
Joseph Philipp von Stichaner in Wikidata
GND-Nummer 137698291
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|54|513|519|Stichaner, Joseph Philipp Karl Edler von|Johann Josef Hermann Schmitt|ADB:Stichaner, Joseph von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=137698291}}    

Stichaner: Joseph Philipp Karl Edler von St., hervorragender Verwaltungsbeamter, zuerst Kreisdirector in Weißenburg i. E., dann Bezirkspräsident des Unter-Elsasses in Straßburg, Enkel des Vorigen und Sohn des kgl. bairischen Regierungsrathes Joseph August v. St. in Speier (1799–1861), aus dessen zweiter Ehe mit der aus einer angesehenen Speierer Familie stammenden Henriette Charlotte Lichtenberger, war geboren in Speier am 1. Juli 1838. Sein Vater war katholisch, seine Mutter evangelisch, er selbst wurde in der Religion des Vaters erzogen. Diese confessionelle Mischung der Familie bewirkte, daß St. sein Leben lang tolerant und von Vorurtheilen gegen Andersdenkende und Andersgläubige frei war, die Sinnesart der Angehörigen beider Confessionen genau kannte und ihnen gerecht wurde, was ihm später in dem confessionell-gemischten Kreise Weißenburg i. E., wo er den wichtigsten Theil seines Lebens verbrachte, sehr zu statten kam. Seinen Vater, der von keiner festen Gesundheit war, verlor er schon früh, als er kaum die Universitätsstudien vollendet hatte, und fast gleichzeitig seinen einzigen, um vier Jahre jüngeren Bruder. Um so inniger schloß sich der gemüthvolle Jüngling an seine treffliche und unermüdlich besorgte Mutter an, von der er sich nicht trennen wollte und konnte, und solange diese lebte, blieb er unvermählt.

Seine Jugendjahre verlebte er größtentheils in Speier, wo sein Vater von 1839–1844 Regierungsassessor war; zwei Jahre war dieser hierauf Regierungsrath in Ansbach, wo sein Vater Regierungspräsident gewesen war, 1846 wurde er auf Ansuchen wieder nach Speier versetzt, wo er bis zu seinem Lebensende wirkte. St. besuchte mit gutem Erfolg die Lateinschule und das Gymnasium in Speier, wo er mit den lebhaften Pfälzer Jungen aufwuchs und manchen Streich mit ihnen vollführte, und dieser Pfälzer Geist ist ihm sein Leben lang eigen geblieben und hat ihm später im Verkehr mit den schwerer beweglichen Elsässern eine gewisse Ueberlegenheit verliehen. Schon im Alter von 18 Jahren absolvirte er das Gymnasium zu Speier und besuchte hierauf ein Jahr das Lyceum (philosophische Facultät einer Universität) daselbst. 1857 bezog er die Universität Würzburg, um Rechtswissenschaft zu studiren, und trat in das Corps Rhenania ein, das sich durch ein vornehmes Auftreten auszeichnete. 1858/60 studirte er in dem Speier nahen Heidelberg, [514] wo er zu seinen Eltern stets schnell heimgelangen konnte. Dort studirte er neben der Rechtswissenschaft gern Geschichte und hörte den berühmten Historiker Ludwig Häusser, der durch seinen warmen vaterländischen Sinn und seine hinreißende Beredsamkeit die Gemüther der Jugend mächtig ergriff und sie mit Liebe zum großen deutschen Vaterland zu erfüllen verstand; die damals gewonnenen Eindrücke sind ihm geblieben für sein ganzes Leben. Er trat auch Häusser persönlich näher, und als St. später Kreisdirector von Weißenburg i. E. wurde, sorgte er dafür, daß das Geburtshaus Häusser’s (1818–1867) in Kleeburg bei Weißenburg an dessen 60. Geburtstag mit einer schönen Gedenktafel geschmückt wurde. 1860 kehrte er nach Würzburg zurück, um sich dem Universitätsschlußexamen zu unterziehen, das er mit gutem Erfolge bestand. Er prakticirte hierauf in Speier, und während dieser Praktikantenzeit starb sein Vater (6. Juli 1861) im Bade Reichenhall, sowie sein einziger, kaum 20jähriger Bruder. 1863 bestand er die juristische Staatsprüfung mit Auszeichnung und war dann bis 1869 als Accessist bei der kgl. Regierung der Pfalz thätig.

1864 unternahm St. mit einem Jugendfreund eine längere Reise nach Paris, Südfrankreich, Algier und Italien, und was er da von französischem Wesen sah und kennen lernte, sollte ihm später als Kreisdirector von Weißenburg, das durch die mehr als 200jährige Fremdherrschaft (1648–1870) mit französischem Geiste erfüllt war, sehr nützlich werden.

Seit 1. Mai 1867 stand an der Spitze der Regierung der Pfalz der Präsident Siegmund v. Pfeuffer (1871–1881 Minister des Innern in München), ein hochbegabter und energischer Mann, der unserm St. sehr gewogen war und großen Einfluß auf ihn ausübte. Endlich am 17. März 1869 erhielt St. seine erste Anstellung als Bezirksamtsassessor in Germersheim, wo auch sein Vater 1831–1839 in gleicher Diensteseigenschaft (damals Landcommissariatsactuar genannt) thätig war. Dieser Bezirk grenzt an das Elsaß, und als einst St. in Weißenburg bei dem Unterpräfecten Hepp wegen einer Grenzangelegenheit weilte, erhielt dieser die amtliche Nachricht von der französischen Kriegserklärung, worauf St. so schnell als möglich über die Grenze zu gelangen suchte. In diese Unterpräfectur sollte St. zwei Jahre später als Kreisdirector seinen Einzug halten.

Der Krieg von 1870/71 eröffnete auch für St. ein weites und fruchtbares Feld der Thätigkeit, indem er dem zur Verwaltung des Maasdepartements (Sitz Bar-le-Duc) von der bairischen Regierung entsandten Grafen v. Tauffkirchen als Adlatus von August 1870 bis April 1871 beigegeben wurde, wo er wegen öfterer Abwesenheit des Grafen Monate lang die Geschäfte des Departements selbständig zu leiten hatte. Für seine erfolgreiche Thätigkeit wurde er von Kaiser Wilhelm I. durch Verleihung des eisernen Kreuzes 2. Classe ausgezeichnet, zugleich war man auf seine treffliche Arbeitskraft aufmerksam geworden; so gelangte bald die Aufforderung an ihn, in den Dienst der neugewonnenen Reichslande zu treten. Er folgte diesem Rufe gern, folgte er doch damit den Fußtapfen seines herrlichen, von ihm hochverehrten Großvaters, der einst auch berufen war, ein den Franzosen abgenommenes altes deutsches Land wieder mit deutschem Geist zu erfüllen und innerlich für unser Volk zurückzugewinnen. So siedelte er im Juni 1871 nach Straßburg über, wo er dem Civilcommissariat für das Elsaß zugetheilt wurde. Hier hatte er zugleich Gelegenheit, mit den maßgebenden Persönlichkeiten, besonders mit dem ausgezeichneten Oberpräsidenten v. Möller (1871–1879), näher bekannt zu werden und zugleich Einblick in die Lage des Landes und die leitenden Regierungsgrundsätze zu gewinnen. Möller schätzte die Eigenschaften Stichaner’s [515] so hoch, daß auf seinen Antrag der Kaiser 1872 den erst 33 Jahre alten Mann zum Kreisdirector von Weißenburg ernannte. Am 1. Februar 1872 trat St. sein neues Amt an, das nicht nur für ihn selbst, sondern noch mehr für die Kreisangehörigen von der größten Bedeutung werden sollte. Der Kreisdirector hat wie in Preußen der Landrath und in Bayern der Bezirksamtmann nach den Anweisungen der Regierung den äußeren Verkehr mit den Gemeinden zu pflegen und die Regierungsentschließungen im Kreise zur Durchführung zu bringen. Die Kreisdirectionen im Elsaß sind aber zwei Mal so groß wie die Bezirksämter in Baiern (der Bezirk Unter-Elsaß hat 7 Kreisdirectionen, während die fast gleichgroße Pfalz in 16 Bezirksämter eingetheilt ist. Der Rang und Gehalt eines kaiserl. Kreisdirectors ist deshalb höher als der eines bairischen Bezirksamtmannes). Bedenkt man, daß die Bevölkerung, besonders die höheren Stände, zu denen viele eingewanderte Franzosen gehörten, infolge der mehr als 200jährigen Fremdherrschaft französisch gesinnt war und sich nur ungern von Frankreich getrennt hatte, dem sie allerdings auch viel zu verdanken hatte, so begreift man die gewaltige Arbeit, die St. bei der nothwendig gewordenen Neuordnung aller Verhältnisse, wozu auch die Entfestigung der Stadt Weißenburg gehörte, zu übernehmen hatte. Und St. gelang es, das Vertrauen und sogar die Liebe seiner Kreiseingesessenen zu gewinnen, so daß diese ihm schon 1878 das Reichstagsmandat für Hagenau-Weißenburg antrugen. St. wollte ablehnen, allein schließlich nahm er doch an, und das Unglaubliche geschah, daß die Wähler des Kreises Weißenburg, die zur Hälfte katholisch waren, obwohl die katholische Geistlichkeit entschieden gegen St. Partei nahm, mit großer Mehrheit ihn wählten; freilich die Entscheidung gab bei der Stichwahl der überwiegend katholische Kreis Hagenau, in dem der katholische Clerus für den französisch gesinnten Protestler mit seinem ganzen Ansehen eintrat. St. wurde durch dieses Verhalten der katholischen Geistlichkeit bitter enttäuscht; denn er hatte, da er selbst Katholik war, sich bestrebt, das beste Verhältniß mit dem Clerus zu unterhalten und hatte den religiösen Interessen jede mögliche Förderung zu Theil werden lassen. Doch hatten wenigstens die einsichtigen und vom Clerus unabhängigen Männer seiner 83 Gemeinden treu zu ihrem Kreisdirector gestanden. Er war aber auch für das Wohl seiner braven Elsässer unermüdlich thätig. Sein Kreis war ein fast durchaus landwirthschaftlicher; da der Getreidebau nicht mehr lohnte, so bestimmte er die Bauern, sich mehr auf Viehzucht und Viehmästung zu verlegen; er suchte die schlechte einheimische Viehrasse ganz durch Simmenthaler Vieh aus der Schweiz zu ersetzen, und er führte den Versuch, indem er sogar mit seinen Privatmitteln eingriff, mit zäher Ausdauer durch, so daß selbst heute noch der Kreis Weißenburg in dieser Beziehung allen elsässischen Kreisen voransteht und die Nachbarn ihr Zuchtvieh vorzugsweise auf den von St. in Weißenburg eingerichteten Zuchtviehmärkten kaufen. Durch Vorträge suchte er die landwirthschaftlichen Kenntnisse seiner Bauern zu heben, der Wanderlehrer Herberg war ihm hierbei besonders behülflich. Die Obstbaumzucht hob er mit allen Mitteln, er legte Obstbaumschulen an und verschenkte massenhaft junge Obstbäume, und so steht auch auf diesem Gebiete der Kreis Weißenburg allen anderen voran. Die Verwendung des Buchweizens als Nachfrucht fand durch ihn allgemeinen Eingang. Feuchte Wiesen ließ er entwässern und die Aecker drainiren. Die einzige Industrie von Bedeutung in seinem Kreise, die Steinguttöpferei in Oberletschdorf, welche ihre Absatzgebiete nach Frankreich verloren hatte, hat er vor dem Untergange gerettet und zu neuer Blüthe gebracht. Den kirchlichen Interessen und der sittlichen Hebung des Volkes wandte er seine besondere [516] Fürsorge zu. Hierfür fand der katholische Kreisdirector bei der protestantischen Geistlichkeit mehr Dank und Anerkennung als bei der katholischen, die noch ganz in französischem Fahrwasser segelte. Viele alte Kunstdenkmäler, besonders Kirchen, ließ er erhalten und wiederherstellen. Die berühmte Stiftskirche von Weißenburg, an der einst der bekannte Mönch Otfried gewirkt hatte, ließ er sammt Kreuzgang restauriren und schenkte ihr einen prachtvollen Kronleuchter, eine kunstvolle Nachbildung des 1793 durch die französischen Revolutionäre zertrümmerten. Von den vier großen Fenstern mit Glasmalerei ist das in der Mitte hinter dem Altar von St. gestiftet. Im Kreuzgange der Kirche gründete er ein archäologisches Museum zur Aufbewahrung der Kunstalterthümer. Die Burgruinen seines Kreises ließ er erhalten, von dem herrenlosen, an der pfälzischen Grenze gelegenen Fleckenstein nahm er 1874 für sich Besitz und ließ ihn wiederherstellen (die Burg gehört heute noch seiner in Straßburg lebenden Frau). Daß des pfälzischen Geschichtsschreiberes Joh. Gg. Lehmann († 1876) inhaltreiches Werk „Dreizehn Burgen des Unter-Elsasses und Bad Niederbronn“ endlich 1878 erscheinen konnte, dazu hat St. sein Theil beigetragen. Die während der Schlacht von Wörth 1870 durch Feuer zerstörte Kirche von Fröschweiler ließ er als „Friedenskirche“ wiederaufbauen, zugleich als ein Denkmal an jene große Zeit. Den zahlreichen Grabstätten und Denkmälern seines Kreises wandte er seine unausgesetzte Fürsorge zu und ließ die Gräber der Gefallenen schmücken. 1876 wurde das schöne Armeedenkmal auf dem Schlachtfelde von Wörth durch seine Mitwirkung fertiggestellt, wofür ihm der Kronprinz des deutschen Reiches durch ein Schreiben dankte und sein Bild übersandte. Die Hebung der Volksschulen ließ er sich angelegen sein, soweit ihm seine Amtsgewalt dies gestattete. Das Vertrauen der Volksschullehrer, die zugleich Gemeindeschreiber sind, genoß er in seltenem Maaße. Von seinem feinen Verständniß der Volksseele zeugt, daß er die schöne Volkstracht in seinem Kreise zu erhalten sich bestrebte, „da mit ihrer Verdrängung zugleich die werthvollen inneren Eigenschaften des Bauernstandes abhanden zu kommen drohten“. Das Schleithaler Pferderennen, ein eigenartiges, aus alter Zeit erhaltenes Volksfest, nahm unter St. einen früher nicht gekannten Aufschwung, selbst der Statthalter von Elsaß-Lothringen nahm auf seine Einladung hin regelmäßig theil. Zum Pflanzen von Linden inmitten der Dörfer regte er unablässig an, um diese uralte deutsche Sitte zu erhalten. Einzelnstehende schöne alte Bäume ließ er erhalten und kaufte sie sogar an, um sie zu retten. Auf der Höhe des Geisberges, wo das Treffen von Weißenburg 1870 am heftigsten wüthete, standen drei prächtige Pappeln, welche der französisch gesinnte Besitzer aus Bosheit 1873 hatte fällen lassen. Nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Schutz der Kriegergräber ließ St. 1873 drei neue Pappeln auf angekauftem Grund und Boden pflanzen, die heute noch stehen und weithin die Stätte der Schlacht kenntlich machen. Da St. über reiche Privatmittel verfügte und als ein wahrer Edelmann für gemeinnützige Zwecke eine freigebige Hand hatte, so konnte er vieles durchführen, was Anderen versagt blieb.

Seine Dienstwohnung hatte er in dem alten Schlosse der früher reichsfreien Aebte von Weißenburg. Dort war es auch, wo Kaiser Wilhelm I. abstieg, als er 1876 (25.–27. September) zum ersten Mal das Elsaß besuchte. Weißenburg war die erste Stadt der Reichslande, die der ehrwürdige Kaiser nach dem großen Kriege betrat. St. hatte das Volk durch sein wahrhaft väterliches Regiment bereits derart für die neue Ordnung der Dinge gewonnen, daß dem Kaiser der glänzendste Empfang bereitet wurde; viel wirkte auch mit der Enthusiasmus der Pfälzer, die in hellen Haufen aus der Nachbarschaft [517] trotz des abscheulichsten Wetters herbeigeströmt waren und stundenlang auf den Straßen ausharrten. Der Kaiser nahm damals einen mehrtägigen, St. hoch ehrenden Aufenthalt in der Kreisdirection. Der erste Besuch der Reichslande war dank der Vorarbeit Stichaner’s glänzend verlaufen.

Als St. nach Weißenburg versetzt wurde, zog seine hochbetagte Mutter zu ihm und führte ihm den Haushalt, doch verlor er sie 1878 durch den Tod, und nun war es wieder einsam um ihn. Durch Ueberarbeitung im Dienste hatte er sich 1882 eine ernste Krankheit zugezogen; da er keinen aus seinem Bezirke, der ihn zu sprechen wünschte, abwies, sondern selbst die weitschweifigsten Darlegungen anhörte, so reichte ihm der Tag nicht zur Bewältigung der vielen Berufsarbeiten hin und er mußte die Nacht dazunehmen, wodurch seine Nerven angegriffen wurden. Er nahm deshalb im Winter 1882/83 einen längeren Urlaub; die völlige Ruhe und die stärkende Luft am Genfer See halfen ihm zur Wiederherstellung seiner Gesundheit. Bald darauf gelang es ihm endlich auch seine Jugendgeliebte, Fräulein Seraphine Jordan, die Tochter des Reichstagsabgeordneten Ludwig Andreas Jordan in Deidesheim und der Seraphine geborene Buhl am 2. Auqust 1883 als seine Gattin zu gewinnen, wodurch die Weißenburger Kreisdirection den unter seiner edlen Mutter erlangten Ruf der Gastlichkeit zurückeroberte; viele politische Gegner trafen sich dort und traten einander näher, was dem großen Zwecke der Wiedergewinnung der Elsässer für das deutsche Vaterland zu gute kam. Dabei übte sein Haus eine schrankenlose Wohlthätigkeit, was ihm den Vorwurf eines „unpraktischen Idealismus“ eintrug. Eines Tages versammelte er die alten Dienstboten aus dem ganzen Kreise, die schon lange auf derselben Stelle ausgehalten hatten, im Directionsgebäude, vertheilte Prämien unter sie, setzte ihnen eine gute Mahlzeit vor und bediente sie mit seiner Gemahlin persönlich, weil sie ihren Herrschaften so viele Jahre treu gedient hätten. Als man aber unter der Statthalterschaft Manteuffel’s (1879–1885) schnelle Erfolge zeitigen wollte, viele deutsche Beamten maßregelte, welche die localen Größen in den gesetzlichen Schranken gehalten hatten, und gegen verbissene Protestler eine falsche Nachgiebigkeit zeigte, erschien die von Herzen kommende Freundlichkeit Stichaner’s gegen das Volk in falschem Lichte und wurde von den Gegnern Deutschlands discreditirt, bis endlich des Fürsten Hohenlohe [WS 1] einsichtiges und thatkräftiges Regiment die richtige Mitte wiederherstellte; aber die Reichstagswahlen des Jahres 1887 fielen im Elsaß so schlecht aus wie nur je. St. indessen, der ja schon jahrelang die Elsässer so behandelt hatte, wie es der Statthalter Manteuffel wollte, hatte unter dem neuen Regiment nicht zu leiden, aber sein Wirken wurde jetzt von den Gegnern als ein von oben herab befohlenes hingestellt und dadurch sein Einfluß geschädigt. Da St. mit dem Volke stete Fühlung unterhielt, kannte er dessen Wünsche und Bedürfnisse besser als das Regierungsbureau in Straßburg und war nicht für jede Maßregel des „grünen Tisches“ eingenommen, weshalb er in Straßburg als „ein häufig höchst unbequemer Untergebener“ galt. Das wurde anders mit dem Tode Manteuffel’s und dem Regierungsantritte des Fürsten Hohenlohe, der volles Verständniß für das erfolgreiche Wirken Stichaner’s hatte. Als daher die Stelle eines Bezirkspräsidenten (so viel wie Regierungspräsident in Preußen und Baiern und Präfect eines Departements in Frankreich) des Unter-Elsasses in Straßburg sich erledigte, wurde er auf Vorschlag des Fürsten auf diesen wichtigen Posten berufen, am 15. November 1886. Nur ungern schieden St. und seine Kreisbewohner nach fast 15jähriger gemeinsamer Thätigkeit von einander, aber St. hielt sich für verpflichtet, dem Rufe des Kaisers zu folgen, da er in Straßburg ein weiteres Feld der Thätigkeit gewann und auch gar manches für seine [518] treuen Weißenburger thun konnte. Doch bald stellten sich die Folgen der jahrelangen Ueberarbeitung ein und St. konnte nicht mehr so erfolgreich wie in Weißenburg wirken. Es kamen die aufregenden französischen Kriegsrüstungen, die schlechten reichsländischen Reichstagswahlen des Jahres 1887, strenge Regierungsmaßregeln wurden ergriffen, insbesondere scharfe Paßvorschriften erlassen, denen St. persönlich abgeneigt war. Besonders bereitete ihm der Landesverrath eines Unterbeamten Aufregungen peinlichster Art; da traf ihn am 3. December 1888 der erste Schlaganfall, der theilweise körperliche Lähmung, später auch allmählich zunehmende geistige Trübung zur Folge hatte. Am 14. April 1889 wurde er durch den Tod von seinen Leiden erlöst im Alter von noch nicht ganz 53 Jahren.

Am Grabe rühmte der altelsässische Abgeordnete und Staatsrath Julius Klein die seltenen Eigenschaften des Verblichenen und hob besonders das Vertrauen des Volkes hervor, das St. in so hohem Maße genossen hatte. Sein Wirken war ein vorbildliches für alle Beamten der Reichslande. Erschienen waren zum Abschiede für immer die sämmtlichen Bürgermeister des Kreises Weißenburg bis auf einen, der durch Krankheit verhindert war, und sie erhoben laute Klage über den unersetzlichen Verlust, den sie und ihr Elsaß erlitten.

St. war wie sein Großvater von hoher stattlicher Gestalt und dabei von kräftigem Körperbau und hätte ein hohes Alter erreichen können, wenn er nicht seine Kräfte im Dienste des Vaterlandes vor der Zeit verbraucht hätte. Kinder hat St. keine hinterlassen. Ein äußeres Denkmal hat seinem verdienten ersten Kreisdirector der dankbare Kreis Weißenburg mit einem Kostenaufwand von 5000 Mark 1893 in der Stadt Weißenburg gesetzt. Vor dem ehemaligen Hagenauer Thor an der Straße zum Bahnhof rechts erhebt sich eine 5 Meter hohe und 10 Tonnen schwere Säule, aus der Scherhohl bei Weißenburg gebrochen, mit schönem Medaillonbild des Verlebten und der einfachen Inschrift darunter: „Joseph von Stichaner 1871–1886“, umgeben von schönen Gartenanlagen.

Ein weiteres Denkmal hat St. sich selbst durch die Stichaner-Stiftung von 20 000 Mark gesetzt, deren Zinsen alljährlich am Todestage des Stifters würdigen Lehrjungen zur Fortsetzung ihrer Ausbildung oder jungen Handwerkern aus der Stadt oder dem Kreise Weißenburg zur Begründung ihrer Selbständigkeit durch die Stadtverwaltung Weißenburg zugewendet werden sollen.

Zur Beschäftigung mit der Wissenschaft, insbesondere der Geschichte, fand St. bei seinen aufreibenden Berufsarbeiten im Gegensatze zu seinem Großvater keine freie Zeit, obwohl es ihm an Lust und Liebe dazu nicht fehlte, wie dies aus Nachrichten über seine Accessistenzeit in Speier hervorgeht. Nach den Mittheilungen des Historischen Vereins der Pfalz I von 1870, S. 17 gehörte er zu den elf Männern, die im Januar 1869 einen öffentlichen Aufruf zur Neugründung eines Historischen Vereins der Pfalz erließen, der dann auch zu Stande kam und heute noch blüht und über 1200 Mitglieder zählt. Nach denselben Mittheilungen II, S. 133 ff. schenkte er als Bezirksamtsassessor in Germersheim der Stadt Speier eine schöne Sammlung verschiedener Anticaglien, Töpferwaren, Silber- und Kupfermünzen sowie ein Porträt des Papstes Clemens VI.; der Sammlung des Historischen Vereins der Pfalz überließ er eine Sammlung von Schwefelabgüssen, Gemmen, Medaillen (S. 134), der Bibliothek des Vereins einen Wappenbrief des Kaisers Karl V. auf Pergament mit Miniaturbild in der Mitte (S. 136).

Friedrich v. Oertzen, Joseph von Stichaner, ein Lebensbild aus dem Elsaß, Freiburg i. B. 1897. – J. C. Scheib, Weißenburg i. Elsaß, Führer [519] durch Stadt und Umgebung, Weißenburg i. E. 1895. – Mittheilungen des Bürgermeisters Dr. jur. Ludwig Bassermann-Jordan in Deidesheim nach dem im Besitze der Frau v. Stichaner in Straßburg in Elsaß befindlichen Original-Materiale sowie des kaiserl. Kreisdirectors Grafen v. Bissingen in Weißenburg von 1907.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 1819–1901