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ADB:Stier, Ewald Rudolf

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Artikel „Stier, Ewald Rudolf“ von Gustav Frank in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 203–207, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stier,_Ewald_Rudolf&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 18:12 Uhr UTC)
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Stier: Ewald Rudolf St. ist am 17. März 1800 zu Fraustadt in Posen geboren als Sohn des königl. Stadtinspectors daselbst. Nachdem sein Vater 1810 Provinzialinspector in Stolpe geworden, besuchte er das dortige Lyceum, drei Jahre später das Gymnasium in Neu-Stettin. Philologisch mangelhaft vorgebildet, bezog er Michaelis 1815 die Universität Berlin zum Studium der Jurisprudenz, das er nach Jahresfrist mit dem der Theologie vertauschte. Für Turnerei und Burschenschaft begeistert und den Sieg des blutgoldenen Morgenrothes über die Finsterniß verkündend, ist er doch bald von diesen Idealen ab, und zum Glauben geführt worden. Als er durch den Tod eines geliebten Wesens am Grabe seines Glückes stand, brach der Tag einer ungeheuern Wiedergeburt für ihn an. Bereits als Hallischer Student (1818) redet er von dem teuflischen Geist, womit Gesenius die Kirchengeschichte behandelt, und Wegscheider wünschte er nie gesehen zu haben, „weil man ihn wegen seines Unglaubens fliehen muß wie das Feuer“. In Berlin, wohin er 1819 zurückkehrte, festigten ihn Kottwitz (s. A. D. B. XVI, 765) und Jänicke (XIII, 699), Tholuck und H. Olshausen (XXIV, 323) traten ihm näher, im Blute des Lammes ward ihm die neue Unschuld und der himmlische Friede. Sich wahrhaft von der Welt frei zu machen, übergab er nicht bloß seine gedruckten Gedichte und Aufsätze den Flammen, sondern auch seinen Schiller, Shakespeare und Jean Paul. Nach zweijährigem Aufenthalt am Predigerseminar zu Wittenberg, wo er seinen Freundschaftsbund mit R. Rothe und Emil Krummacher[WS 1], damals Pastor substitutus in Coswig, schloß, ist St. 1823 Lehrer am Seminar zu Karalene im Regierungsbezirk Gumbinnen, ein Jahr darauf an der Missionsschule in Basel geworden, wo ihm sein (erst 1833 gedrucktes) „Lehrgebäude der hebräischen Sprache“ entstand. Im J. 1829 trat er in das geistliche Amt ein, zuerst als Pfarrer in Frankleben bei Merseburg, dann (1838–46) als Sander’s (s. A. D. B. XXX, 351) Nachfolger zu Wichlinghausen im Wupperthal. Nach einem dreijährigen otium literarium in Wittenberg ward er als Superintendent und Oberpfarrer nach Schkeuditz, 1859 in dieselben Aemter nach Eisleben berufen, wo er am 16. December 1862 gestorben ist. Seit seiner Erweckung erkannte St. als seine Lebensaufgabe die Erforschung der Schrift und Entwicklung einer in die jetzige Zeit gehörenden Auslegung derselben im Sinne Olshausen’s und v. Meyer’s (s. A. D. B. XXI, 597), dessen Schriften ihm zur Kerze wurden, an welcher seine theologische Erkenntniß sich entzündete. Er hat sein gläubiges Schriftverständniß, die Fülle von Licht und Leben in der Propheten und des Herrn Worten in homilienartiger Sprache, mit Seitenblicken auf die „Sprachgebrauchsphilologie“, die vieles Tiefbedeutsame zu Nichts macht, niedergelegt in [204] seiner Auslegung 70 ausgewählter Psalmen (1834), der Reden des Herrn Jesu (1846, 8. Aufl. 1865), des Briefes an die Epheser (1848), des Briefes Judä ( 1850). Den Wesenswahrheiten nachforschend und den Verheißungsklängen lauschend, findet er, daß der heilige Geist, der die Schrift eingab, die damaligen Leute nur als Vorbilder und Vorspiele künftiger Personen ansah. Die heiligen Autoren des alten Testamentes schauen aus der langen Nacht hinaus in den Morgen der Gnade. So ist in Melchisedek vorgebildet die ewige göttliche Natur des Verheißenen, im ägyptischen Joseph seine Erniedrigung und Erhöhung, in David und Salomo, den Fürsten des Kampfes und Sieges, sein Leiden und seine Verherrlichung. Die innersten Tiefen der heiligen Schrift erschließen nur dem sich, der sie anschaut im Lichte der in Christo geschehenen Offenbarung, Seinem Auge erscheint das Volk Gottes als Typus der ganzen Menschheit, der Zug desselben durch die Wüste als Typus des eitlen Menschenlebens, in welchem so Viele das Ziel der Ruhe Gottes nicht erreichen, der Heptalogus des Herrn als prophetischer Typus auf sieben bestimmte Perioden der Kirchengeschichte. So besteht neben dem nächsten und buchstäblichen Sinn, die dem Farbenspiel eines Diamanten vergleichbare Vielsinnigkeit, neben dem Obersinn ein Unter- oder Vollsinn, jener der Vorhof, dieser das ἄδυτον. Es hat demgemäß die grammatisch-historische Auslegung in eine pneumatisch-symbolische, und diese wieder in eine mystisch-typische überzugehen (vgl. Stier’s Abhandlung „Die Stufen und das Ziel der Bibelauslegung“ in Tholuck’s Litterar. Anzeiger, 1836, Nr. 57–60). Alles, was diese gläubige Erforschung des unendlichen Inhaltes der heiligen Schrift zu beeinträchtigen schien, hat St. abgewiesen, wie Calvin’s Accommodationstheorie, so die Aeußerungen Tholuck’s und Olshausen’s, daß Christus alttestamentliche Aussprüche über deren ursprüngliche Meinung hinaus erweitere. „Es ist eine Undenkbarkeit, daß der Sohn Gottes im Fleisch irgend etwas von dem Worte, dessen Kern er selbst ist, nicht recht verstanden habe.“ Ein conservativer Kritiker, hat er die Echtheit des 2. Petribriefes, den Hebräerbrief als wenigstens mittelbar paulinisch behauptet, und einen wunderbaren Zusammenhang des ganzen Jesaja entdeckt, der alle neuere Kritik und Zerstückelung beschämt („Jesaias, nicht Pseudojesaias“. 1850). Seine Interpretationsweise schien ihm die Quelle der echten, von Steudel u. A. verkannten Gnosis. Steudel seinerseits zweifelte, ob Gott dem kindlichen Sinne das konnte offenbaren wollen, was Stier’s, ihm als Erleuchtung von oben erscheinende, Weisheit zu entdecken glaubt. Tholuck nannte ihn wegen seiner Ausschau nach dem bisher verkannten Tiefsinn der Massorethen, einen obscurantisch-mystisch-kabbalistischen Interpreten. Nitzsch hielt ihm vor, daß er so vieles zuerst wissen und als ein Gewisses sagen wolle, was kein helles Schriftwort für sich hat. De Wette redete von einer alles verchristelnden Exegese. Während der Rationalismus in Stier’s Exegese einen verderblichen Geist wahrnahm, nämlich den das Heil der Kirche untergrabenden Ungeist der Evangelischen Kirchenzeitung, die Orthodoxie aber ihren unkirchlichen Charakter tadelte, hat sich schließlich das Urtheil dahin abgeklärt, daß St. ein exegetisches Talent war, von eminenter Schrifterfahrenheit, wenn auch mit einer Neigung zur Theosophie und Allegorie, in Tiefsinn mächtiger als an Scharfsinn. – Dem Worte der Offenbarung immer fleißiger, völliger und unmittelbarer Bahn zu bereiten, hat er im Verein mit K. G. W. Theile die vielgebrauchte „Polyglottenbibel“ (1846, 4. Aufl. 1875, 5. Aufl. des 3. Bds. 1890), die erste wieder in Deutschland seit Reineccius’ (s. A. D. B. XXVIII, 15) Biblia sacra quadrilingua (1747), herausgegeben. Die Frage: „Darf Luther’s deutsche Bibel unberichtigt bleiben?“ (1836) hat er nicht nur verneint, vielmehr seine Schrift „Der deutschen Bibel Berichtigung“ (1861) mit dem Ceterum censeo geschlossen: versionem b. Lutheri funditus [205] esse emendandam, und eine mit Umsicht und Bescheidenheit vollzogene Verbesserung des Luthertextes bei dem immer noch verkannten v. Meyer (bei dessen Bibelberichtigung St. seit 1842 Mitarbeiter war) gefunden. Wenn er nun ob seiner „schulmeisterhaften“ Kritik Luther’s, und daß er v. Meyer mehr gelten lasse, als Luther, getadelt wurde, und Hengstenberg von einer Berichtigung der Lutherbibel rationalistische Unternehmungen zur Verdrängung des Kleinods unserer Kirche besorgte, so hat er dagegen, im Einklang mit Hengstenberg, energisch für den althergebrachten Anschluß der Apokryphen an die Bibel, als zum Bibelplane Gottes gehörig, gestimmt („Die Apokryphen“, 1853). Als er das Zeugnißablegen wider die Apokryphen auf Verblendung, Fanatismus und pedantischen Unverstand zurückführen zu müssen glaubte, da kam es zu spitzigen Gegenreden (in Ph. F. Keerl’s Schriften: Das Wort Gottes und die Apokryphen des A. T., 1853 und Die Apokryphenfrage mit Rücksicht der darauf bezüglichen Schriften Stier’s und Hengstenberg’s, 1855), als ob St. über seinem Bücherschreiben die Pflege der eignen Seele versäumt habe. – Auch auf dem Gebiete der praktischen Theologie, auf welchem St. eine reiche schriftstellerische Thätigkeit entfaltete, tritt uns überall der Schrifttheologe entgegen. So setzt er in seiner „Keryktik“ (1830, 2. Aufl. 1844) als Bedingung zur Erwerbung der rechten Predigtkunst, die eigne Wiedergeburt durch die wiedergebärende Kraft des Bibelworts, und schärft nicht bloß für den Inhalt der Predigt die Pflicht strenger Schriftmäßigkeit ein, sondern fordert auch für die Sprache der Predigt Rückkehr von der heidnischen Rhetorik zur christlichen Laletik d. h. zu der (durch Adams Fall verlorenen) ursprünglichen Reinheit und Vollkommenheit der menschlichen Rede durch Anschluß an den himmlisch-majestätischen Thron- und Cabinetsstil der Bibel. An seiner vielgebrauchten „Privatagende“ (1852, 8. Aufl. revid. von G. Rietschel, 1886) wurde zwar von den Strengen die Festigkeit kirchlicher Voraussetzung und der gesalbte Lapidarstil vermißt, aber ihre biblische Seite rühmend hervorgehoben. Ebenso hat er in seinen Predigten („Zwanzig biblische Predigten“, 1832, „Evangelienpredigten“, 1853, 2. Aufl. 1862, „Epistelpredigten“, 1837, 2. Aufl. 1855), meist nach analytischer Methode und dem Wahlspruch „durch den Verstand zum Herzen“ gearbeitet, Schrift aus Schrift erklärend, biblische Objectivität erstrebt (s. die Geschichten der Predigt von Stiebritz S. 204 u. Nebe III, 176). Wie die strengen Lutheraner den gelegentlich in seinen Predigten vorkommenden Hinweis auf Uebersetzungsfehler Luther’s übel vermerkten, so noch mehr, daß er in seinen katechetischen Schriften („Luther’s Katechismus in zeitgemäßer Veränderung dargeboten“, 1846 und „Leitfaden zum Confirmandenunterricht“, 1851) etliches und einzelnes im kleinen Katechismus nach der Schrift zu berichtigen für Pflicht hielt. Statt sich so über Luther zu stellen, riethen sie ihm, von Löhe demüthiges Beugen zu lernen. Auch in seinen geistlichen Liedern („Gedichte, christliche und biblische“, 1845), von denen einzelne Eingang in die kirchlichen Gemeindegesangbücher gefunden haben (z. B. „Wir sind vereint, Herr Jesu Christ“), tritt wie der Reichthum an eignen Gedanken, so der heiligen Schrift zu Tage, es kommt auch vor, daß „der Exeget den Poeten übertönt“. Als Hymnolog hat er mit Freimuth die Gebrechen der modernen Gesangbücher aufgedeckt („Die Gesangbuchsnoth“, 1838), auch ein eigenes „Evangelisches Gesangbuch“ (1835 und 1853) herausgegeben. Daß er damit die confessionelle Brandfackel in das Heiligthum eines singenden Volkes getragen, ist eine vereinzelte Meinung geblieben (G. Ch. H. Stip, Das evangelische Kirchenlied und die confessionelle Brandfackel. Ablehnung an Herrn Dr. Stier. 1854). – St., der Schrifttheologe, hat es gleichwohl nicht mit dem tödtenden Buchstaben gehalten. Er hat die Inspiration nicht in alter Weise mechanisch gefaßt, als wenn der heilige Geist den Propheten ans Ohr geflogen kam, wie Muhammed’s Taube. Matthäus [206] verdient nach ihm den Vorzug, Lucas hat sich einmal vergriffen. Die Exegese will er nicht in symbolische Fesseln geschlagen wissen. Denn es ist eine Injurie gegen das Wort Gottes, zu behaupten, es sei der Abschluß seines Verständnisses schon in irgend einer Vergangenheit vollständig gegeben. „Geist und Gaben des Herrn, das thut’s und kein altes Holz oder Papier an sich, keine Confession voriger Tage.“ Vilmar’s Benennung der lutherischen Kirche als Kirche des schriftmäßigen Bekenntnisses, hat er als ein Hirngespinst hochmüthiger Menschengedanken bezeichnet. Was die Schrift prophetisch vorbildlich vom rechten Jerusalem, Zion, sagt, sofort für eine Specialkirche in Anspruch zu nehmen, ist ein ungeheuerer Frevel menschlicher Anmaßung. Durch und durch Unionsmann, hat er, die Kirchenspaltung als die böse Frucht aus der Saat des Fleisches achtend, an jede Kirche sich anschließen wollen, die ihm seinen Glauben nicht beherrschte. Denn die Kirche soll eine Stätte freiester und lebendigster Glaubensgemeinschaft sein. Er konnte sich denken, daß auch ein einstweilen abgesetzter Wislicenus noch mit einem ihm und uns verborgenen Faden an dem lebendigen Christus hängt. Es ist nicht verwunderlich, daß St. sich auch nicht an das Schema der Kirchenlehre gebunden achtete. Er hat allerlei singuläre Meinungen aufgestellt, z. B. daß das allerheiligste Blut des Herrn vom ersten Tropfen Blutschweiß in Gethsemane bis zum letzten Strom aus seiner Seite, gesondert und gesammelt noch im Himmel vorhanden sei; daß die Jünger das Sacrament wahrhaft noch nicht in jener Nacht empfingen, da er verrathen ward, sondern erst nach der Himmelfahrt; daß die Hölle im Innern der Erde, das Höllenfeuer, übrig vom ewigen Fall Satans, des ersten Erdbewohners, zugleich die Kraft sei, welche den Umschwung und Umtrieb des sich drehenden Erdballs hervorbringt. Weniger Gnade noch fanden in den Augen der Erzlutheraner andere, mit der Kirchenlehre wirklich collidirende Aufstellungen. So, wenn er es ein falsches Uebergreifen nannte, daß das Athanasianum die Seligkeit abhängig mache von dem Annehmen der trinitarischen Geheimnisse; wenn er nicht die Gerechtigkeit, sondern die Liebe Gottes zum obersten Grund des Versöhnungswerkes machte („ein von Satan vorgespiegelter Zorn Gottes ließ den Herrn rufen: mein Gott, warum hast du mich verlassen“); wenn er wohl das Seligwerden als Gottes Gabe ansah, nicht aber auch den Glauben, welcher für das Seligwerden verlangt wird; wenn er die Ungläubigen vom Empfange des Leibes und Blutes Christi ausschließt; wenn er die Ubiquität des Leibes Christi als wunderlich und das Specifische des Sacramentes wiederaufhebend bestreitet; wenn er auch die in Verstockung Dahingestorbenen darum nicht ewig verloren sein läßt. Es ist begreiflich, daß Stier’s Beiträge zur Evangelischen Kirchenzeitung der Censur Hengstenberg’s verfielen, daß in Wichlinghausen nicht bloß Weltkinder, sondern auch die Gläubigen an seinen (Lutherthum und Kirchenruhm präterirenden) Predigten sich ärgerten, und daß ihm, weil er nicht lutherische Kartoffeln bauen wollte, synkretistischer Unionismus und ein immer steigender Widerwille gegen alles, was kirchlich heißt, schuld gegeben wurde. So ist es gekommen, daß St., der in der Jugend die Rationalisten bekämpft und einen Mittelweg zwischen Orthodoxie und Neologie negirt hatte, späterhin, gleich seinen Freunden Tholuck und E. Krummacher, seine Polemik (besonders in seinen „Unlutherischen Thesen“, 1854) gegen solche richtete, die das Heil der Kirche in immer schrofferem Geltendmachen der Bekenntnisse als kirchlicher Gesetze erblickten. „Ein Tropfen Christusblut in den Adern ist mehr werth, als alles orthodoxe Wissen.“ Halbwegs ehrliche und redlich suchende Rationalisten, denen nur der Dogmenpopanz bisher Christum zu finden gewehret hat, sind ihm lieber in jetziger Kirche, als wieder die Orthodoxen alter böser Zeiten, die durchaus Lust behalten, zu zanken in der Gemeinde Gottes.

[207] G. und F. Stier, E. R. Stier. 2 Thle. Wittenberg 1867 u. 71. – Außerdem: K. J. Nitzsch, R. Stier als Theologe. Barmen u. Elberfeld 1865. – Tholuck in Herzog’s Realencyklopädie. 2. Aufl. XIV, 706.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe in der Wikipedia: Emil Wilhelm Krummacher (* 7. Mai 1798 in Moers; † 14. Januar 1886 in Bonn), reformierter Theologe.