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ADB:Vilmar, August

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Artikel „Vilmar, August“ von Karl Wippermann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 715–722, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vilmar,_August&oldid=- (Version vom 1. Dezember 2024, 17:42 Uhr UTC)
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Vilmar: August Friedrich Christian V., Schulmann, Theologe, Politiker und Litterarhistoriker, wurde am 21. November 1800 geboren im Dörfchen Solz bei Bebra und Rotenburg in Niederhessen. Der Vater Johann George V. war seit 1796 hier, später in Oberaula Pfarrer; die Mutter Susanne Elisabeth war die Tochter des Pfarreres Giesler in Nordshausen bei Kassel. Es war eine echte Pastorenfamilie, die in ihren nächstvorhergehenden Generationen aus Witzenhausen a. d. Werra stammte, während entferntere Vorfahren meist Rathsverwandte im Diemelstädtchen Immenhausen des niederhessischen Kreises Hofgeismar waren. Näheres über die Vorfahren bis 1520 enthält die „Geneal.-Biogr. Uebers. d. Fam. V. in Hessen“ vom Pfarrer G. Ph. Vilmar in Breitenbach (1886). Der Knabe wuchs in den höchst einfachen Verhältnissen einer ganz besonders ärmlichen Landpfarre auf. Der Vater war ein Mann von spartanischer Genügsamkeit, dazu von äußerst festem, völlig unbeugsamem Willen in allen Dingen, die mit seinen Erlebnissen und Erfahrungen verwachsen waren, und übte durch seine ganze Art und Weise den größten Einfluß auf den Knaben, der von ihm in dem tiefen, stillen Frieden des Elternhauses mit zwei Genossen den ersten Unterricht erhielt. Der Vater bewahrte die Traditionen mit der größten Pietät, die Wunder der heiligen Schrift blieben ihm völlig unangetastet; er hatte die Gabe, sehr gut, namentlich heilige Dinge zu erzählen und war von nicht unbedeutendem Rednertalent, das durch ein treffliches Organ unterstützt wurde, sodaß seine erste Erzählung vom Leiden und Kreuzestode Christi, wie V. in einer Art von Selbstbiographie sagt, ihn für einen ganzen Abend in völlig unstillbare Thränen stürzte. Vom Beginn des 5. Lebensjahres besuchte er sonntäglich zwei Mal den Gottesdienst; wenn er den Vater auf das Filial begleiten durfte, gar drei Mal. Vom 9. Jahre an schrieb er unverlangt, wie selbstverständlich, die Disposition der Predigten auf; mächtiger aber als die väterlichen Predigten wirkte auf ihn das Altar- und Kanzelgebet, die Vorrede vor dem Abendmahl, die Absolution und das Apostolicum. Mit dem Schluß des 12. Lebensjahres begann er den Confirmationsunterricht zu besuchen, den er drei Mal durchmachte ohne daß es ihm langweilig wurde, weil das frische Leben und der treue Ernst des Vaters auch das längstbekannte lebendig und neu erscheinen ließ. Nächst diesen Eindrücken war, nach Vilmar’s Darstellung seiner Jugendzeit, vom größten Einfluß auf sein Leben der Zusammensturz der althessischen Verhältnisse im J. 1806 und die ganze Zeit der Fremdherrschaft. Die großen Ereignisse rückten ihm insofern nahe, als Versprengte aus der Schlacht von Jena durch das Dorf kamen und dann alle Bewohner mit Heugabeln und Sensen zur Theilnahme am Aufstand auszogen; in gleicher Weise regte ihn der Dörnberg’sche Aufstand gewaltig auf. So stand er denn bei der socialen Trennung, die von [716] 1809–1814 in Hessen bestand, mit Eifer auf Seiten der „Treuen“, der Patrioten und Deutschgesinnten. Dies alles zusammen bezeichnet V. selbst als den Boden, aus dem er hervorwuchs und aus dem allerdings manches spätere zu erklären ist. 1816–18 besuchte er das Gymnasium in Hersfeld, 1818–20 studirte er in Marburg Theologie, daneben Philologie, und war ein hervorragendes Mitglied der dortigen Burschenschaft. Die Theologie zog ihn in der Gestalt des supernaturalen Rationalismus mächtig an, aber in den seiner Universitätszeit folgenden 9 Jahren trat allmählich eine völlige Umwandlung ein, sodaß er dieser Richtung völlig entsagte. Von 1820–23 war V. Hauslehrer bei einem Herrn v. Baumbach zu Kirchheim in Niederhessen und zugleich Assistent seines Vaters, zu welchem Zweck die Ordination am 18. Mai 1821 erfolgte. Aus diesen 3 Jahren stammt seine erste theologische Abhandlung, ein Sendschreiben an Sartorius in Zimmermann’s Monatsschrift über Predigtwissenschaften. Im December 1824 wurde er zum Rector der Stadtschule in Rotenburg, im März 1827 zum Lehrer am Gymnasium in Hersfeld ernannt. Hier gelangte seine religiöse Entwicklung zum Frieden und zu der Grundrichtung, der er von da an sich gleich blieb. Er suchte, sagt er, nach Gewißheit, nach einem festen Boden, auf dem er in der Welt stehen könne; er fand sie nicht in der Dogmatik, aber aus dem nichts, das er hier gefunden, habe er erkennen lernen, daß es noch eine andere Gewißheit, die des lebendigen, persönlichen, gegenwärtigen Gottes gebe. Zum Durchbruch sei dies gekommen als er in den Ferien seinem heimathlichen Dorfe sich genähert und in dessen Anblicke auf einem Grenzsteine sitzend sich Betrachtungen hingegeben habe. In Hersfeld schrieb er Aufsätze in mehrere Zeitschriften, namentlich in die Allgem. Schul-Ztg., die Allg. Kirchen-Ztg. und Rossel’s Allgem. Monatshefte. 1826 vermählte er sich hier mit Karoline Wittekindt. Nachdem die alte hessische Landesverfassung durch freien Vertrag zwischen Fürst und Volk in die den Forderungen der Zeit entsprechendere und die früheren Willkürlichkeiten des Fürsten möglichst ausschließende Form umgewandelt war, in der sie als Verfassung vom 5. Jan. 1831 weltbekannt geworden ist, wurde V. von der Stadt Hersfeld zu ihrem Vertreter in die erste auf Grund dieser Verfassung berufene Ständeversammlung gewählt, in der er als anerkannter Freund dieser Neuerungen zu den Liberalen gerechnet wurde. Aber in Verbindung mit der Wandlung, die sich in religiöser Beziehung in ihm vollzogen hatte, trat eine solche nun auch in politischer Beziehung bei ihm ein. Es fiel sehr auf, daß der Abgeordnete des liberalen Hersfeld die Berufung einer Generalsynode der evangel. Kirche aus dem Grunde anregte, weil das kirchliche und religiöse Leben der rechte Boden sei, auf dem das Staatsleben emporzuwachsen habe. Und um so mehr fiel dies auf, als diese kurz zuvor in einer Schrift des Marburger Prof. Bickell (s. A. D. B. II, 614) aufgestellte Idee durch eine Schrift des liberalen Justi (s. A. D. B. XIV, 753[WS 1]) mit dem Hinweis zurückgewiesen war, daß hierbei Religion mit Kirche verwechselt werde. Die Sache fand im Landtage keinen Anklang, hatte aber zur Folge, daß V. mit Gleichgesinnten regierungsseitig aufgefordert wurde, Vorschläge zur Belebung der protest. Kirche mittelst einer Synodalverfassung zu machen. Es hat sich jedoch kein Erfolg hieran geknüpft. Noch auffälliger erschien es, daß V. im Landtage den Wunsch des Bischofs von Fulda unterstützte, die katholischen Studirenden der Theologie dem durch das Studiengesetz auferlegten Zwange zu einem kurzen Besuche der Landesuniversität zu entziehen und die Bildung derselben ausschließlich dem Priesterseminar vorzubehalten. Er ging eben überhaupt davon aus, daß die seit 150 Jahren im Zunehmen begriffene Verweltlichung der Kirche und des geistlichen Standes, der immer mehr der einer Behörde geworden, ein wesentlicher Grund der eingerissenen Uebel sei, und die Gebrechen der theologischen wie kirchlichen Ausbildung zeigten [717] sich ihm darin, daß man die Theologie als bloße Wissenschaft angesehen und behandelt, das innere, mit dem Glauben sie verbindende Band aber mit unchristlicher Hand zerrissen habe. Er wollte nicht zugeben, daß der theologische Unterricht lediglich Sache der Wissenschaft, statt einzig Sache des Glaubens sei. Darum wollte er die Facultät als integrirenden Theil der Kirche angesehen und der Kirchengewalt unterworfen wissen. Ueber seine Wandlung in politischer Beziehung hat sich V. zweimal in Aufzeichnungen ausgesprochen, die mit Unrecht die Firma von Selbstbiographien tragen. In Gerland’s Forts. von Strieder-Justi’s Hess. Gelehrtengesch. (1863) sagte er, er habe ursprünglich theilgenommen an der Unzufriedenheit, die entstanden sei, als man nach den Freiheitskriegen gemeint habe, es müsse noch fortwährend großes in der politischen Welt geschehen; er habe „mit allen Besseren“ aus der damaligen Abhängigkeit der gebildeten Welt von den Zeitungen und aus dem Banne einer despotisch verfahrenden, unverständigen Bureaukratie herauszukommen gesucht, unbegreiflich aber erscheine es ihm nachträglich, daß er diese Befreiung und die Rückkehr zu den älteren, besseren Zuständen von den Bewegungen des Jahres 1830 erwartet habe, da diese gerade erst recht auf die Fixirung der neueren Zustände ausgegangen wären; einige Wochen mitten in den Weltverbessererkreisen von 1817–20 hätten ihn geheilt und der Aufenthalt der ersten sechs Wochen im Landtage habe hingereicht, ihn „auf das vollkommenste und für sein ganzes Leben zu verständigen“. Der andere Ausspruch findet sich in hinterlassenen feuilletonistischen Aufzeichnungen (s. Hess. Morg. Z. 1879 v. 27. Septbr. bis 12. Novbr.), wo er sich geringschätzend über jenen Landtag sowie über obige Commission ausspricht, deren Mitglieder nicht gewußt hätten, was sie wollten. Im zweiten Landtag erschien V. nicht wieder; die Landesverfassung schien ihm jetzt nach französischem Muster verfaßt und dem Kurfürsten aufgezwungen; die Neuerungen von 1830 waren ihm nur eine Fortsetzung der verhaßten Franzosenzeit. Im näheren hat er dies 1864 in einem Aufsatze „Rückblick, Umblick, Vorblick“ ausgeführt (s. „Hess. Bl.“ v. 5. Juni 1889). Hiernach war ihm sogar die Trennung der Justiz von der Verwaltung und die Aufhebung des befreiten Gerichtsstandes eine Folge der Verwirrung der Köpfe durch die Franzosen. Da V. im übrigen sich im Landtage durch 14 Ausschußberichte als sehr thätigen und kenntnißreichen Schulmann erwiesen hatte, so wurde er im December 1831 zum Mitglied der „oberen Unterrichts-“, auch der „oberen Kirchencommission“ in Kassel ernannt, in der er den O. App. G. R. Hassenpflug als kirchlich Gleichgesinnten fand, sodaß zwischen Beiden eine Freundschaft fürs Leben entstand. Hierdurch kam er auch in Verkehr mit den Gebr. Grimm (s. A. D. B. IX, 678) und v. Radowitz (XXVII, 141). Nach Hassenpflug’s Ernennung zum Minister des Innern im October 1832 war eine seiner ersten Maßnahmen, daß er V. in die einflußreiche Stellung eines Hülfsreferenten berief. Darin blieb V. bis er Ende 1833 den Auftrag ausgeführt hatte, die hinter den Fortschritten der Zeit zurückgebliebenen höheren Schulen zu organisiren. In Anerkennung dieser Thätigkeit ertheilte ihm die philos. Facultät in Marburg das Ehrendoctordiplom. Bisher nominell Lehrer am Gymnasium in Hanau ohne diese Stellung je angetreten zu haben, wurde er am 16. April 1833 zum Director des Gymnasiums in Marburg ernannt. Als Dr. theol. wäre er hier gern Docent geworden, glaubte aber damals nicht die geringste Aussicht dazu zu haben und so ist er, dem äußeren Berufe nach, die längste Zeit über Schulmann geblieben, wobei er es jedoch stets ungern bemerkte, wenn man ihn nicht auch als Theologen ansah. In Marburg nahm er seine theologischen Studien wieder auf, in denen er zu erkennen glaubte, daß er nicht bloß den Glauben der Kirche durch den Unterricht fortzupflanzen habe, sondern daß es Christus selbst sei, den er den Schülern bringen müsse, [718] wenn er nicht wieder, wie die von ihm „bis in den Abgrund verachteten Rationalisten“, nur auf einem anderen Standpunkte, Worte und Stimmungen fortpflanzen wolle: „Die Realität der Kirche ging mir auf, die der Leib Christi ist.“ Und so bildete er sich in Marburg immer mehr als Vertreter einer streng autoritativen Richtung auf kirchlichem wie politischem Gebiete sowie namentlich als Vertreter der katholischen Auffassung von der Würde des Predigtamts aus. Zahlreiche Dorfpfarrer, namentlich Oberhessens, wurden Anhänger seiner Richtung und blickten mit Ehrfurcht zu dem Manne auf, der jene Ansichten mit der ihm eigenen großen Festigkeit, Begeisterung und Schroffheit, ja man kann sagen, mit einem gewissen Fanatismus vertrat. Es war ein stürmischer, thatendurstiger, zugleich aber finsterer, fast unheimlicher Geist, dieser Schulmann, der sich als Autorität neben die Universitätsprofessoren stellte. In der „Hora“, die er zum Schluß der Schulwoche zu halten pflegte, redete er sich, den Schülern fast unverständlich, in religiöse Dinge mit einer Begeisterung hinein, in der er fast regelmäßig zum Weinen kam bis die fast unhörbar gewordene Stimme sich allmählich zum Donnern erhob. Dabei gedachte er mit Vorliebe des früheren Prof. Arnoldi als dessen, der ihm zuerst Zweifel am Rationalismus beigebracht habe. Seit 1836 amtlich nur als Mitglied der Schulcommission für Gymnasialangelegenheiten in weiteren Kreisen von Einfluß, war er zugleich vermöge seiner ganzen Richtung einer der eifrigsten Anhänger und Säulen des Regierungssystems der Nachfolger Hassenpflug’s, die durch ihre Unlust, die Verfassung nach ihrem Sinn und Geiste auszuführen, fortwährend Zwistigkeiten mit dem Landtage herbeiführten. Vilmar’s Wirksamkeit als Gymnasialdirector war von großem Erfolg; er hatte starken Einfluß über die Geister der Schüler und sein Unterricht in den alten Sprachen, in Kirchen- und Litteraturgeschichte war vorzüglich. Es war dies überhaupt die Zeit seiner größten und glänzendsten Thätigkeit. In sie fallen die 24 „Schulreden über Fragen der Zeit“, in denen er sich, auf Grund eigener Erlebnisse, über das Verhältniß der Gymnasialstudien zum christlichen Glauben sowie über die Behandlung der einzelnen Schulfächer in einer für Pädagogen werthvollen Weise ausließ. Ferner gab er 1838 ein „Kleines evangel. Gesangbuch“ mit zum Theil außer Gebrauch gekommenen Kirchenliedern heraus. Für die weitesten Kreise aber machte er sich verdient durch Vorlesungen, die er im Winter 1843–44 vor einem gebildeten Publicum in Marburg über die Geschichte der deutschen Nationallitteratur hielt (s. u.). Beim Ausbruch der Bewegung von 1848 gehörte V. zu den wenigen Persönlichkeiten in Hessen, gegen die sich der Unwille der Menge richtete. Aber während die Minister des gestürzten Systems aus Kassel und der Polizeidirector als Inquirent Sylv. Jordan’s (s. A. D. B. XIV, 513) aus Marburg flohen, blieb V. ruhig zu Haus und bewies sich bei den Stürmen, die eine aufgeregte Volksmenge mehrmals abendlich gegen seine Wohnung richtete, unter Beihülfe seines Verlegers Elwert, sehr muthig. In dem von ihm am 22. März 1848 gegründeten „Hessischen Volksfreund“ sprach er sich für die deutsche Sache aus und erkannte er an, daß das seit 1838 in Hessen herrschend gewesene System allerdings „die geistigen Bande des Staatsorganismus tief erschüttert und einen lähmungsartigen Zustand herbeigeführt hatte“, auch glaubte er nicht, „daß in Hessen Männer sich finden würden, die wieder rückwärts wollten, denn das wäre geradezu der Gesetzlosigkeit in die Hände gearbeitet“. Das war wiederum eine Wandlung. Aber die geschickte Art, mit der V. in diesem Blatte anfangs die Tagesereignisse behandelte, wich mit fortschreitender Zeit wieder einer den Liberalen feindseligeren Behandlung. Als im Februar 1850 Hassenpflug wieder an die Spitze berufen wurde, um Hessen aus der Union mit Preußen zu befreien, war, wie früher, sein erstes, daß er am 28. Februar den Freund B. sich zugesellte, diesmal als Vortragenden [719] Rath im Ministerium des Innern. In dieser Eigenschaft ist V. im vollsten Maße mit verantwortlich für die ganze Art und Weise, wie Hassenpflug den Streit mit den Ständen und die loyale Opposition der mit dem ganzen Volke am Recht und am Verfassungseide festhaltenden Civil- und Militärbeamten herbeiführte. Die Vertheidigung der Septemberverordnungen und die dazu nöthigen Auslegungen besorgte Vilmar’s nunmehr zum amtlichen Blatte erhobener „Hess. Volksfreund“ in einer selbst die kühnsten Hassenpflug’schen Verfassungsinterpretationen der 1830er Jahre weit übertreffenden Weise. Die Zeit der sog. Strafbayern und der Kriegsgerichte seit 1851 brachte für V. eine ungeahnt günstige Gelegenheit zur Geltendmachung seiner Grundansichten. Er verkannte durchaus nicht, daß der Verfassungseid jede Theilnahme am Niederbeugen des Rechts ausschloß, er stellte daher in seinem Blatte die Lehre auf, die Unterthanen hätten sich hierüber hinwegzusetzen, weil der Kurfürst deren Eid auf seiner Seele trage. Er verkannte auch das Recht des Landes nicht, stellte aber ein „göttliches Recht“ darüber, das den Unterthanen, „weil sie es als Recht nicht wollten, nicht anders entgegen treten kann als in der Form der Gewalt“. Nichts wollte er von Frieden und Verständigung wissen; die dazu riethen, waren ihm „faule Lotterbuben“, die man zertreten müsse; jede Nachgiebigkeit des Kurfürsten stellte er als „unauslöschlichen Makel an seiner Fürstenkrone“ dar. Und selbst als längst der Widerstand des Landes gebrochen war, auch in ganz Deutschland die Reaction in vollster Blüthe stand, rieth V. fortgesetzt zur Verfolgung derer, in welchen er die Träger der „Revolution“ sah. Diese habe man nicht wirklich begriffen, solange man sich fürchte, wohlerworbene Rechte zu verletzen; die Pflicht gebiete, „revolutionäre Staats- und Kirchenbeamte schonungslos aus den Aemtern zu entfernen“; das „leider noch herrschende fleischliche Mitleid“ würde sich bitter rächen. Vor allem war diese Rachsuchtspolitik auf die Richter gemünzt. Nachdem diese sich auch durch Verlust der Stellen und durch Gefängniß nicht hatten bewegen lassen, vom Rechte abzulassen, warf V. ihnen gar vor, daß sie „mit klarem Bewußtsein“ darauf ausgingen, das Recht zu brechen. Sogar die Ankündigung des jährlichen Bußtags vom 1. November 1851, die er als Vertreter des betagten Generalsuperintendenten Ernst vorzunehmen hatte, benutzte er in diesem Sinne mit den Worten: „Laß den Geist der Kraft auf dem Kurfürsten ruhen, damit er nach Deiner Vollmacht die Frevler strafe.“ Eine ganze Blüthenlese aus dem „Hess. Volksfreund“ hat der orthodoxe Pfarrer Meurer in Rinteln 1863 in Gelzer’s „Prot. Monatsheften“ zu einem stark duftenden Strauße zusammengestellt. Daß schon zu Beginn dieser Hassenpflug’schen Episode V. und Gen. das Gewissen geschlagen hat, geht hervor aus seinen eigenen, von Anhängern veröffentlichten Aufzeichnungen über die Flucht vom 13. September 1850, zu der sie den Kurfürsten bestimmten, um wenigstens hierdurch den loyalen Widerstand als Revolution erscheinen zu lassen. Hiernach tauschten V. und v. Haynau (s. A. D. B. XI, 158), die vorauszufliehen hatten, unterwegs mehrfach ihre Besorgniß aus, daß der Kurfürst am Ende wieder wankend werde und sich an die Verfassungstreuen halte. Nachdem der Kurfürst sie eingeholt, zeigte er sich allerdings wankend, zog V. bei Seite und fragte, was er von der Sache halte, worauf dieser ihn zu fortgesetzt größter Energie anspornte. Als man auf dem Umwege nach Wilhelmsruhe bei Hanau in Hannover ankam, zeigten der Kurfürst und v. Haynau Neigung, das gewagte Spiel fahren zu lassen und geraden Wegs nach Berlin zu fahren. Da war es wiederum V., der die Wankenden hiervon abbrachte, und so nahm das Unheil seinen Lauf. Man findet diesen Bericht abgedr. in Oetker’s „Lebenserinnerungen“ II, 150–170 (s. A. D. B. XXIV, 541). In den Aphorismen, die V. seine Selbstbiographie nannte, ist die Zeit seit 1850 gar nicht berührt, ebensowenig in der Schrift, in welcher der Reallehrer [720] Leimbach in Marburg „Vilmar’s Leben und Wirken“ höchst einseitig geschildert hat (Hann. 1875). Als Vertreter des Generalsuperintendenten wies V. die Pfarrer auf einige mit Staub überzogene alte Kirchenordnungen hin und erstrebte, wie aus „Hess. Volksfr.“ 1851, Nr. 45 näher zu ersehen, zum Theil unter Zustimmung der Jesberger kirchl. Conferenzen, die Zurückgabe des Kirchenregiments in seinem ganzen Umfange aus den Händen des Landesherrn und des Staats an das geistliche Amt. Hierzu diente ihm seine Lehre, daß die reformirte niederhessische Kirche eigentlich lutherisch sei. Näheres hierüber enthält seine spätere Schrift „Gesch. d. Confessionsstandes der ev. Kirche in Hessen“ (Marb. 1860). In Verbindung mit dieser Lehre erstrebte er den endgiltigen Besitz jener obersten kirchl. Stelle. Allein hier trat der Wendepunkt ein. Der Kurfürst war keineswegs geneigt, sich etwas nehmen zu lassen und ersuchte den Prof. Richter in Berlin um ein Gutachten in der Bekenntnißfrage. In der Ahnung von dessen ungünstigem Ausfall drängte Hassenpflug, unter Stellung der Cabinetsfrage, auf rasche Entscheidung. Wie die Sache nun weiter verlief, ist von Prof. Kamphausen in einer in der „Prot. Kirchenztg.“ veröffentlichten „Erinnerung“ an Prof. d. Theol. Mangold in Bonn nach dessen Zeugniß berichtet (Hess. M. Z. 194 v. 20. April 1890). Hiernach ist Mangold, früherer Erzieher kurfürstlicher Söhne, auf der Straße in Kassel vom Kurfürsten, der sich auf dem Wege zur entscheidenden Sitzung befand, um seine Meinung gefragt. Darauf hat Mangold ein Gutachten der Marb. theol. Facultät in nahe Aussicht gestellt und von Vilmar’s Bestätigung dringend abgerathen, da derselbe den Bekenntnißstand der niederhess. Kirche auf den Kopf stellen werde; eine reformirt bekennende Kirche könne keinen Generalsuperintendenten haben, der lutherisch lehre. Das schlug durch, der Kurfürst wartete bis zur Ankunft der beiden Gutachten, versagte V. die Bestätigung, schickte ihn im October 1855 als Prof. d. Theologie nach Marburg und brach mit Hassenpflug, der seinem Freunde dorthin nachzog (A. Allg. Z. 1855, Nr. 292, 300, 308, 317; Grenzboten 1859, II). Diese Versetzung enthielt eine Demüthigung für V., der zu seinen Collegen in der Facultät nicht paßte; er veröffentlichte 1856 in der Berl. „Ev. Kirchenztg.“ „Bedenken“ gegen deren obiges Gutachten und verbreitete Ende 1857 unter den oberhessischen Geistlichen ein anonymes Flugblatt, in dem er seiner Facultät Verrath der lutherischen Kirche und Schmähung ihrer Abendmahllehre vorwarf. Dies zog ihm im August 1859 eine Verurtheilung wegen Beleidigung zu. Jener kirchl. Frage dient übrigens auch Vilmar’s „Theologie der Thatsachen wider die Theologie der Rhetorik“. Unermüdlich thätig, gab er 1861–66 „Pastoral-theologische Blätter“ heraus, ferner eine Schrift „Zur neusten Culturgeschichte Deutschlands“ (Frankf. 1858–67) und durch die am 4. März 1862 gegründete „Hessenzeitung“ suchte er die Regierung des Kurfürsten im Kampfe gegen die Bestrebungen nach Herstellung der Verfassung von 1831 zu unterstützen. Dies geschah wiederum durch Artikel, die eigens auf den Kurfürsten berechnet waren. In gleicher Weise durchkreuzte er die Bestrebungen der Minister nach Verständigung mit den Landtagen über Neuordnung der Verhältnisse von 1863–66. Insofern trägt er Schuld an der Regierungsstagnation, die dem Untergange des Kurstaats voranging. Nach 1866 wurde er, wie selbstverständlich, eine Art Mittelpunkt für die politisch Unzufriedenen. V. starb am 30. Juli 1868 in Marburg. Er war in 2. Ehe verheirathet mit Th. Frederking. – Sonstige Schriften: „Vorrede z. hess. Kirchenbuch“ (Kassel 1842); „Neues Wetterbüchlein“ (Marb. 1855); „Das luther. Bekenntniß in Oberhessen“ (Marb. 1858); „Gesch. d. Confessionsstands d. ev. Kirche in Hessen“ (Marb. 1860); außerdem eine Reihe von Predigten, Reden, Gymnas.-Progr. und Aufs. in Zeitschr., wie bes. Wagener’s Staatslex. Aus d. Nachlaß: „Theol. Moral“ (Gütersloh 1871); „Lehrb. d. Pastoraltheologie“ [721] (Güt. 1872); „Dogmatik“ (Güt. 1874–75); „Colleg. biblicum“. Recens. posthum. Werke in „Hess. Bl.“ 597 von 1880; s. auch: „Vilmar’s und seiner Anhänger Stellung z. d. wichtigsten Zeitfragen, zunächst in Bez. auf Kurhessen“ (Frkf. 1865) und „Vilmar’s polit. und kirchl. Tätigkeit“ in A. Allg. Z. 32 von 1863; „Ein Wort für V.“ in A. Allg. Z. 98 von 1856; „Ewald und V.“ in Grenzb. von 1856. – Herzog’s Realencyclopädie XVI, 477–498. – Briefwechsel m. J. Grimm bei Stengel, private und amtl. Beziehungen der Brüder Grimm in Hessen I, 297–314; II, 294–302.

In weitern Kreisen und weniger angefochten scheint V. als deutscher Philologe und Litterarhistoriker fortleben zu sollen. Er ist ein selbstgemachter Mann wie als Theologe so als Germanist. Die Universität hatte ihm hier wie dort blutwenig zu bieten vermocht. Aber die Schriften seines großen Landsmannes Jac. Grimm, deren Erscheinen in die Epoche seiner selbständigen Entwicklung fiel, haben ihn dem Studium der deutschen Sprache und Litteratur, des deutschen Volksthums und Alterthums gewonnen, und als er dann vom Lernen zur Mitarbeit überging, hat er sich in Lachmann den besten Lehrmeister erkoren. In seinen tüchtigsten Monographien tritt dies Vorbild deutlich zu Tage, Lachmann’s Forschungen über Sage und Epos, über Kunst- und Volkspoesie erschienen ihm als der feste Halt aller litterarhistorischen Betrachtung, und als wenige Jahre nach des Meisters Tode der Nibelungenstreit ausbrach, erblickte er in dem bequemen Erfolg der Holtzmann’schen Partei ein drohendes Zeichen des Rückgangs, ja des Untergangs wahrer Wissenschaft.

Mit streng philologischen Arbeiten hat V. als Germanist begonnen. Schmeller’s Ausgabe des Heliand regte ihn zu der Programmarbeit „De genitivi casus syntaxi quam praebeat Harmonia Evangeliorum saxonica dialecto seculo IX conscripta commentatio“ (Marb. 1834) an, im nächsten Jahre brachte das Marburger Gymnasialprogramm die Ausgabe eines spätmhd. Lehrgedichtes „Von der stete ampten und von der fursten ratgeben“ (1835), in dem man erst nachher ein Werk des Eisenacher Stadtschreibers Joh. Rothe erkannt hat. Zum ersten Band der Zeitschrift des neugegründeten Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde steuerte er (1837) einen Aufsatz „Die Ortsnamen in Kurhessen“ bei, der sich als „ein grammatisches Fragment“ einführte. Das Jahr 1839 brachte die umfangreiche Abhandlung „Die zwei Recensionen und die Handschriftenfamilien der Weltchronik Rudolf’s von Ems“, die in der sichern Bewältigung eines schwer übersehbaren Materials, nach Aufgabestellung, Methode und Ergebnissen eine der ausgezeichnetsten Specialarbeiten unserer ältern wissenschaftlichen Litteratur darstellt. Wie diese so sind noch zwei weitere wichtige Arbeiten Vilmar’s zuerst als Programme des Marburger Gymnasiums erschienen: 1845 „Deutsche Alterthümer im Heliand als Erklärung der evangelischen Geschichte“ (2. Ausg. Marb. 1862), 1846 „Zur Litteratur Johann Fischart’s“ (2. Ausg. 1865). Die spätern Neubearbeitungen dieser beiden zeigen, daß es sich um Lieblingsgegenstände seiner Arbeit handelt, denen er nie ganz untreu geworden ist. Die Jahre des Marburger Directorats sind die reichste und glücklichste Zeit für Vilmar’s deutsche Studien und ihre Erfolge gewesen: sie fanden ihre Krönung in den „Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Litteratur“, die er im Winter 1843/44 vor einem größeren Publicum gebildeter Männer und Frauen hielt und 1845 fast unverändert im Druck herausgab. Er selbst hat noch die 12. Auflage dieses Buches erlebt, das von der dritten ab den anspruchsvolleren Titel „Geschichte der deutschen National-Litteratur“ führte. Im Grunde ist es keine Geschichte, sondern eine beschreibende Darstellung der deutschen Litteratur in historischer Folge: das hat V. in der [722] Vorrede zur ersten Auflage, die später fortgeblieben ist, mit aller Offenheit zugestanden, und er hat nachträglich nichts gethan, um das Werk einer wirklichen historischen Leistung näher zu bringen. Er wußte recht gut, daß sein Erfolg gerade auf seinem ursprünglichen Charakter beruhte.

Die meisten Arbeiten Vilmar’s sind im ersten Wurf und als erster Wurf vortrefflich gelungen, aber selten hat er es über sich gebracht, noch einmal zur säubernden und ergänzenden Nacharbeit an dem gleichen Gegenstand zurückzukehren, obwol ihm der rasche Erfolg und das fast kanonische Ansehen, das sich z. B. in weiten Kreisen sein „Deutsches Namenbüchlein“ (zuerst 1855 „Die Entstehung und Bedeutung der deutschen Familiennamen“, aus dem „Hessischen Volksfreund“) erwarb, entschieden die Pflicht einer gründlichen Revision auferlegt hätten. Die Litteraturgeschichte ist stets auf dem Standpunkt von 1844 geblieben und hat auch in der Form nur ganz geringfügige Aenderungen erfahren. Der bis heute andauernde Erfolg des Buches hat mit seinem wissenschaftlichen Werth oder Unwerth wenig zu thun. Eine enthusiastische und eindringliche Persönlichkeit, deren Einseitigkeit offenbar nur wenigen lästig wird, breitet den Stoff in geschickter Auswahl aus und weiß in wohlüberlegter Abwechselung zwischen schlichtem Berichtstil und maßvoll bewegter Rhetorik bei allen Lesern ohne tiefere historische Bildung, vor allem aber bei der Jugend Stimmung zu erwecken.

Die ernste und concentrirte Arbeit Vilmar’s auf dem Gebiete der deutschen Philologie hat mit seinem Eintritt in die politischen und kirchlichen Kämpfe ihren Abschluß gefunden. Fortan ist er zu diesen Studien nur noch in Pausen der Erholung zurückgekehrt, und ich kann nicht finden, daß die Erzeugnisse dieser letzten 20 Jahre das Bild seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit heben oder wesentlich bereichern. Vielleicht wäre das anders geworden, wenn man ihm im J. 1855 statt einer theologischen eine Professur der deutschen Sprache und Litteratur an der Marburger Universität übertragen hätte. Das Rüstzeug dafür hätte er noch mitgebracht. Was er als Grammatiker und Metriker geleistet hat, zeigt zwar wenig Originalität, aber eine entschiedene Begabung auch für den Vortrag dieser Disciplinen.

Am Eingang seiner deutschen Studien stand das Interesse für den Wortschatz seiner hessischen Heimath: seit 1827 hat er dafür gesammelt, planmäßig seit 1835; verschiedene kleinere Publicationen gaben davon Kunde, für das Grimm’sche Wörterbuch, zu dessen geschätztesten Mithelfern er gehörte, hat er vor allem seinen Landsmann Burkard Waldis ausgezogen. Das „Idiotikon von Kurhessen“ aber, das der verbitterte Greis ein Jahr vor seinem Tode (1867) herausgab, ist keine ausgereifte und geklärte Arbeit. Es enthält eine Anzahl gelehrter und feinsinniger Artikel, die Schmeller’s Vorbild Ehre machen, ist aber als Ganzes unvollständig und ungleichmäßig, obendrein durch den politischen Eigensinn des Verfassers gleich in der Anlage entstellt: ein Idiotikon des Kurstaats mit sammt seinen Enclaven an der Mittelweser und am Thüringerwalde!

Dem „Handbüchlein für Freunde des deutschen Volkslieds“ (1867) und den Vorträgen „Ueber Goethe’s Tasso“ (1869) kann man gleichfalls nur einzelne schöne und treffende Beobachtungen und Ausführungen, keine energische Förderung der wissenschaftlichen Aufgaben nachrühmen. Von anderm zu schweigen, was die Ueberschätzung der Freunde aus dem Nachlaß hervorgeholt hat. Das Buch über das Volkslied beweist geradezu, daß der Mann, der einst als ein strammer Philologe einsetzte, der Philologie zuletzt gründlich abgeschworen hatte! Der Theologe hat, was in V. von Anlagen zum historischen Forscher lag, mehr und mehr erstickt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Falsche Seitenzahl: 723