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ADB:Stirner, Max

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Artikel „Stirner, Max“ von Otto Liebmann (Philologe) in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 258–259, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stirner,_Max&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 12:01 Uhr UTC)
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Stirner: Max St. (Pseudonym), mit seinem wahren Namen Johann Caspar Schmidt, wurde am 25. October 1806 als Sohn eines Instrumentenmachers in Baireuth geboren, besuchte 1818–1825 das Gymnasium seiner Vaterstadt und widmete sich, nach gut bestandenem Abiturientenexamen, an den Universitäten in Berlin, Erlangen und Königsberg dem Studium der Theologie und Philologie. Er übernahm sodann in Berlin, nachdem er kurze Zeit Gymnasiallehrer gewesen war, eine Lehrerstelle an einer höheren Töchterschule, gab jedoch diese Stellung bald wieder auf, um als Privatgelehrter und Journalist wissenschaftliche und schriftstellerische Arbeiten zu betreiben. Nach einem sehr still und im Kampfe mit der Noth geführten Leben starb er in Berlin am 26. Juni 1856. – Sein litterarisches Hauptwerk ist die extreme Schrift „Der Einzige und sein Eigenthum“ (Leipzig 1845), die in der aufgeregten vormärzlichen Zeit ein meteorartiges Aufsehen gemacht und vorübergehend lebhafte Polemik hervorgerufen hat. Dazu kommen von größeren Publicationen die Uebersetzungen von Say’s[WS 1] Lehrbuch der praktischen politischen Oekonomie (4 Bde., Leipzig 1845–46) und von Smith’s[WS 2] Untersuchungen über den Nationalreichthum (2 Bde., Leipzig 1846); ferner eine „Geschichte der Reaction“ (2 Bde., Berlin 1852).

Was das einst vielbesprochene Buch „Der Einzige und sein Eigenthum“ betrifft, so hat es, bei seinem gewaltsam paradoxen, die Moralgesetze im Interesse eines unbeschränkten Egoismus aufhebenden Standpunkt, begreiflicherweise sehr verschiedene Beurtheilungen erfahren. Während es von einigen als muthwillige Persiflage und Parodie der Religionsphilosophie Ludw. Feuerbach’s aufgefaßt wurde, erschien es anderen als durchaus ernsthaft gemeinte Ausgeburt einer krankhaft gesteigerten und zugleich sophistischen Oppositionssucht. In sehr lebendigem, farbenreichen und leidenschaftlichen Stil geschrieben, theilt es mit Ludw. Feuerbach die entschiedene Verwerfung aller Theologie, geht aber hierüber noch weit hinaus, bis zu der mit cynischer Offenheit gepredigten Lehre, daß Recht, Sittlichkeit, Gesellschaft und Staat, überhaupt alle angeblich höheren Interessen und über den Häuptern der Individuen schwebenden Mächte, sich dem Willen der concreten Einzelperson zu fügen hätten. Pflichten, Gesetze, moralische und rechtliche Gebote, sofern sie von außen als höhere Autorität an das individuelle Ich herantreten und Unterwerfung verlangen, sind für diese auf rücksichtslose Emancipation des Individuums abzielende Theorie des Egoismus, nichts weiter als fixe Ideen und unmotivirte, nur dem Schwächling zwingend erscheinende Einschränkungen der angeborenen individuellen Freiheit. „Findet man“, sagt St., „das Haupterforderniß des Menschen in der Frömmigkeit, so entsteht das religiöse Pfaffenthum; sieht man es in der Sittlichkeit, so erhebt das sittliche Pfaffenthum sein Haupt. Mensch und Gerechtigkeit sind Ideen, Gespenster. Eine freie Grisette [259] gegen tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern!“ Das (objective) Recht ist „ein Sparren“; die von Ludw. Feuerbach an Stelle des transcendenten Gottesbegriffs auf den Thron erhobene Gattungsidee des Menschen ist, wie überhaupt alles, was sich über den individuellen Egoismus des souveränen Ich erheben will, ein Hirngespinnst und „Spuk“. „Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser „menschlichen Gesellschaft“ nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, verwandle Ich sie vielmehr in mein Eigenthum und mein Geschöpf, d. h. Ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten.“

Diese, an den Sophisten Kallikles bei Plato[WS 3] erinnernden Paradoxieen, entwickelt St. mit jener zugleich tumultuarischen und spielenden Dialektik, die, in junghegelianischen Kreisen allgemein üblich, zum damaligen Modeton gehörte. Sein höchst willkürliches Umspringen mit psychologischen und ethischen Begriffen, sowie mit culturgeschichtlichen Thatsachen und Zuständen artet vielfach in buntschillernde Wortspielerei aus. Begreiflich wird das sonderbare Buch aus dem energischen Bedürfniß nach Abwehr des auf freidenkenden Geistern jener Zeit schwer lastenden polizeilichen und politischen Druckes; einem Abwehrbedürfniß, welches sich bei St. bis zu dem Grade gesteigert hatte, daß er auch die von communistischen Starkgeistern, wie Proudhon,[WS 4] für „Socialpflicht“ erklärte und geforderte Unterordnung des Einzelnen unter das Gemeinwohl, als unerträglichen Zwang empfand. Daß das Buch jedenfalls den relativen Werth eines Zeichens der Zeit besitzt, wird sich kaum bestreiten lassen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jean-Baptiste Say (1767–1832), französischer Nationalökonom.
  2. Adam Smith (1723–1790), schottischer Nationalökonom.
  3. Plato, Γοργίας (Gorgias).
  4. Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), französischer Nationalökonom.