ADB:Stolle, Gottlieb
Martin Hancke und Christian Gryphius sich so ausgebildet, daß er gründlich vorbereitet 1693 die Leipziger Universität beziehen konnte, wo er gegen den Willen seines Vaters Jura studirte. Nach einem wechselvollen Leben, das zwischen praktischer Ausübung seines Berufes, der Laufbahn eines Hofmeisters und Reisen sich bewegte, wurde er 1709 zum Magister promovirt. Im J. 1713 wurde er Adjunct der philosophischen Facultät in Jena, 1714 Director und erster Professor des neugegründeten Gymnasiums zu Hildburghausen, von wo er aber schon nach drei Jahren als Professor der Politik an die Universität Jena zurückberufen wurde. Bis zu seinem am 4. März 1744 erfolgten Tode blieb er nun der thüringischen Hochschule treu, an der er als Lehrer – 1743 wurde ihm noch der Lehrauftrag für Moral übertragen – Bibliothekar und Leiter der „Deutschen Gesellschaft“, eine vielseitige Thätigkeit entfaltete. –
Stolle: Gottlieb St., deutscher Gelehrter und Dichter, ist am 3. Febr. 1673 zu Liegnitz als das zwölfte Kind des Bürger- und Rathsvorstehers Johann St. und seiner Frau Anna Maria geborenen Dompig geboren. Der schwächliche Knabe, der früh auch künstlerische Begabung zeigte, fügte sich mit seiner raschen Auffassungsgabe schwer in den systematischen, langsam vorschreitenden Schulunterricht, hatte aber doch auf den Schulen in Liegnitz, dann in Breslau unter der anregenden Förderung vonWenn man die Fülle seiner litterarischen Production und die Vielseitigkeit der von ihm behandelten Materien überblickt, so muß man St., trotz aller polyhistorischen Oberflächlichkeit seiner Werke, als einen Schriftsteller von ausgedehntem Wissen und reicher Begabung für wissenschaftliche Systematik erkennen. St. hat sich übrigens in diesem Zeitalter der gelehrten Vielschreiberei und des oberflächlichen Vielwissens oft und energisch dagegen verwahrt zu den Polyhistoren gezählt zu werden, oder ein „Pansophus“ zu sein. Wo seine durch eifriges Studium und ausgedehnte Lectüre erworbenen Kenntnisse nicht ausreichen, verbindet er sich mit Kundigeren. So hat er 1709 Litterärgeschichte nach eigenem Grundriß, später aber nach Heumann’s Anleitung gelesen, und in seiner „Anleitung zur Historie der medicinischen Gelahrtheit“ (Jena 1731 in 2 Theilen) hat er bis auf die allgemeine Einleitung und die Capitel von der Therapie und Diätetik alles von C. W. Kestner bearbeiten lassen. Die praktische Anordnung seiner Schriften zur Gelehrtengeschichte, deren er eine große Reihe veröffentlichte, machte diese Arbeiten besonders bei Studenten beliebt und seine „Anleitung zur [409] Historie der Gelahrtheit, denen so den freyen Künsten und der Philosophie obliegen, zu Nutze angefertiget“ hat vier Auflagen erlebt. Auch die nach seinem Tode 1745 von Buder herausgegebene „Anleitung zur Historie der juristischen Gelahrtheit“ hat reiche Anerkennung gefunden. Ob St. nun über die „Historie der heidnischen Moral“, den „Ursprung der Poesie“ oder über die Frage, ob die Erde still stehe, handelt, ob er zu einer französischen Grammatik, oder einer topographischen Arbeit eines Postmeisters Vorreden schreibt, stets weiß er selbst einer erbettelten Gelehrsamkeit einiges von seiner Individualität beizumischen, wodurch er sich wesentlich von der ganz unpersönlichen Schreibart vieler zeitgenössischer Bücherverfertiger wohlthuend unterscheidet. – Der Einfluß der freien Geistesrichtung eines Thomasius, zu dem St. in Halle in Beziehung getreten war, verleugnet sich in seiner ganzen wissenschaftlichen Production nicht, und vielleicht würde vertiefteres Studium seiner heute kaum genießbaren Schriften Elemente finden lassen, die für die Vorgeschichte der Aufklärungsperiode des 18. Jahrhunderts nicht ganz bedeutungslos wären.
Geringere historische Beachtung beansprucht St. als Dichter. Hier läßt er gerade das, was ihn als Gelehrten vor den Mitstrebenden auszeichnete, Eigenart, ganz vermissen. Die Gedichte, die er unter dem Decknamen „Leander aus Schlesien“ im 6. Bande der bekannten Sammlung „Des Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesene Gedichte“ veröffentlicht, erheben sich weder in der Form noch den behandelten Stoffen nach, von den Durchschnittsleistungen der galanten Lyriker jener Zeit, und die in andern Anthologien, z. B. bei Menantes, Uhsen, Bernander abgedruckten sind öde Gelegenheitsdichtungen, in denen auch nicht die geringste Spur einer inneren Theilnahme des Dichters oder eines dichterischen Erlebnisses zu bemerken ist. In den „netten Leichengedichten“, wo angeblich sein „Kiel in keiner Ordnung geht und hin und wieder irrt“, ist er von einer Temperamentlosigkeit, die selbst die trockensten Hofdichter des beginnenden 18. Jahrhunderts nicht erreichen, und der Schimmer von Grazie, den er unter dem Einflusse der französischen Lyrik, besonders von Le Pays seiner weltlichen Lyrik zu geben wußte, ist hier steifster Förmlichkeit gewichen. Am frischesten erscheint St. noch in seinen Gedichten, die er im „Schlesischen Helikon“ veröffentlichte. Hier hat eine, den Franzosen abgelauschte freiere Lebensauffassung, ein lebhafteres Empfinden und Formgewandtheit seine Dichtung genießbarer gemacht. Er hält in seinem Stil eine ganz glücklich gewählte Mitte zwischen dem Marinismus der zweiten schlesischen Dichterschule und der volksthümlichen Manier Christian Weise’s ein, aber von individueller Färbung ist er hier eben so weit entfernt wie in seinen gesammelten „Deutschen Gedichten“ die in Jena ohne Jahresangabe erschienen waren. Das Schwergewicht in Stolle’s Persönlichkeit lag in seiner wissenschaftlichen Beanlagung, die allerdings bei dem damaligen Betriebe der Geisteswissenschaften es zu keinen dauernden Ergebnissen brachte. Als Dichter war er nur einer von den vielen Reimern, die wie Planeten von der Sonne Hoffmannswaldau’s und Weise’s das Licht empfingen.
- Gottlieb Stolle’s Anleitung zur Historie der juristischen Gelahrheit. Jena 1745. Leben des Verfassers S. 1–94.