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ADB:Thomasius, Gottfried

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Artikel „Thomasius, Gottfried“ von Paul Tschackert in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 102–104, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thomasius,_Gottfried&oldid=- (Version vom 21. Dezember 2024, 22:25 Uhr UTC)
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Thomasius: Gottfried Th., lutherischer Theologe, † 1875. Unter den Theologen, welche im neunzehnten Jahrhundert das lutherisch-confessionelle Bewußtsein innerhalb der evangelischen Theologie und Kirche wesentlich neu begründet und gestärkt haben, steht Th. obenan. Neben Höfling, Harleß, Hofmann [103] und Delitzsch hat er der Erlanger theologischen Facultät diejenige Richtung gegeben, welche ihr noch bis zur Gegenwart eine starke Anziehungskraft nicht bloß auf die bairische Landeskirche, sondern auch auf die lutherischen Landeskirchen Norddeutschlands verleiht. Th. stammt aus einem trefflichen bairischen Pfarrhause, dessen Frömmigkeit, Anspruchslosigkeit und Pflichttreue ihn durch sein ganzes Leben geleitet hat. Am 26. Juli 1802 erblickte er da zu Egenhausen im bairischen Franken das Licht der Welt. Von seinem Vater, der nicht bloß in der kirchlichen Wissenschaft, sondern auch in den Schriften der Alten wohlbewandert war, erhielt er bis zum 16. Jahre Unterricht, besuchte dann das Gymnasium zu Ansbach und studirte von 1821–1825 Theologie und Philosophie in Erlangen, Halle und Berlin. Schleiermacher und Neander auf der einen, Hegel und Marheineke auf der andern Seite, aber auch den jugendlichen Pietisten Tholuck ließ er auf sich wirken, gewann aber schon damals die Ueberzeugung, daß Conventikel, die gerade in den frommen Kreisen Berlins gepflegt wurden, der Kirche keinen Nutzen bringen; denn, so äußerte er sich, „wer sich dem allgemeinen entzieht, der kann nur schaden“. Von Schleiermacher lernte er in der wissenschaftlichen Darstellung der Glaubenslehre alles auf Christum beziehen oder, umgekehrt gesagt, von ihm ableiten; von Hegel nahm er den Sinn für das Allgemeine, wodurch er sich in der Dogmengeschichte über die Neander’sche Kirchengeschichtsbehandlung erheben sollte, und im Gegensatz zu allem, auch noch so gut gemeinten Pietismus lebte er sich in die geschichtlich erwachsene Kirche ein, in die lutherische Confessionskirche, aus deren Glaubensbewußtsein er lehren, predigen und schriftstellern wollte. Seinen Wunsch, in das akademisch-theologische Lehramt einzutreten, konnte er zunächst nicht erfüllt sehen, sondern war erst 17 Jahre im praktischen Kirchenamt thätig; wir finden ihn zunächst in einer Landgemeinde zwischen Erlangen und Nürnberg im Amte, sodann 1829 als dritten Pfarrer an der Kirche zum hl. Geist in Nürnberg und zwei Jahre später ebendaselbst bei St. Lorenz; dazu kam ein sehr fruchtbarer Religionsunterricht, den er auf besonderen Wunsch des hochangesehenen Schulmanns Karl Ludwig Roth am Nürnberger Gymnasium ertheilte. Studien auf dem Gebiete der Dogmengeschichte und Patristik, auf Grund deren seine vorzügliche Monographie „Origenes. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte des dritten Jahrhunderts“ (1837) entstand, lenkten (neben einem von ihm verfaßten sehr gern gebrauchten Religionslehrbuche für Gymnasien) die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise auf ihn; so kam es, daß er am 11. März 1842 zum ordentlichen Professor der Dogmatik in die theologische Facultät der Universität Erlangen berufen wurde. Als Professor und Universitätsprediger, auf dem Katheder und auf der Kanzel fand er jetzt die Stätten für eine volle ganze Lebensarbeit. Als Docent, der alles aus tiefster sittlicher Ueberzeugung vortrug, wurde er bald eifrig gehört, obgleich er über rednerisch hervorragende Mittel nicht verfügte, ja sogar nicht selten an kleinen Schwächen, wie Zerstreutheit oder momentaner Verwirrung, litt, die aber nicht bloß von den Studirenden gern ertragen, sondern alsbald zu den geradezu beliebt gewordenen Eigenthümlichkeiten des verehrten Lehrers gerechnet wurden. Als Prediger anspruchslos und ohne Phrase, sprach er stets ernst und wahrhaftig, im edelsten Sinne erbaulich. Von schriftstellerischen Arbeiten hat eine auf dem dogmatischen, eine andere auf dem dogmengeschichtlichen Gebiete geradezu grundlegend gewirkt. Jene ist seine Dogmatik, welche unter dem Titel „Christi Person und Werk, Darstellung der evangelisch-lutherischen Dogmatik vom Mittelpunkte der Christologie aus“, I. bis III. Theil. 1852–1861 (seitdem in 3. Auflage) erschien. War sie nach Schleiermacher’s Glaubenslehre überhaupt die erste vollständige und ausführliche Dogmatik der erneuerten protestantischen Theologie in Deutschland, [104] so war sie außerdem die erste der lutherisch-confessionellen Richtung, und noch wegen ihrer inneren Eigenthümlichkeiten ist sie selbst in der Geschichte der Dogmatik ein viel genanntes Buch geworden und geblieben, weil in ihr der Standpunkt der modernen „Kenotik“ zum ersten Male energisch geltend gemacht wird. Im Anschluß an Phil. 2, 5 ff., wo von der Selbstentäußerung (χενωσις) Christi die Rede ist, spricht man nämlich in der Dogmatik von der Kenosis der Person Christi, und zwar lehrte Th. eine wirkliche Selbstentäußerung des ewigen Logos in dem Vorgange der Menschwerdung: der Logos behalte zwar seine ihm immanenten Eigenschaften der absoluten Macht, Heiligkeit, Wahrheit und Liebe, begebe sich aber seiner relativen Eigenschaften, der Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit. Das zweitwichtigste Werk aus Thomasius’ Feder ist seine Dogmengeschichte, welche unter dem Titel „Die christliche Dogmengeschichte als Entwicklungsgeschichte des kirchlichen Lehrbegriffs“ 1874 ff. in 2 Bänden (in zweiter Auflage besorgt von Bonwetsch und Seeberg) erschien. Damals existirte auf dogmengeschichtlichem Gebiete innerhalb der erneuerten Theologie keine ausführliche Darstellung dieser Disciplin; schon deshalb wurde sie vielseitig mit Freude begrüßt, und der in ihr einheitlich durchgeführte Plan, den Nachweis zu liefern, wie die Christenheit als Kirche ihren Gemeinglauben zum Lehrbegriff ausgestaltet, verschaffte ihr viele und dankbare Leser. Die innere Nothwendigkeit, nach welcher sich in der Thomasius’schen Darstellung das Dogma entfaltet, ist freilich selbst wieder eine dogmatische Voraussetzung, welche der Verfasser aus seiner Dogmatik an die Dogmengeschichte herangebracht hat. – Nachdem Th. 1872 das Amt eines Universitätspredigers niedergelegt hatte und mit dem Charakter eines Geheimen Kirchenrathes ausgezeichnet worden war, hielt er noch regelmäßig und mit voller geistiger Frische Vorlesungen, bis er nach kurzer Krankheit am 24. Januar 1875 starb.

Als Schriften von Th. sind außer den drei genannten Hauptwerken noch zu nennen: „De controversia Hofmanniana“ (Erlangen 1844). „Dogmatis de oboedientia Christi activa historia“ (III particulae 1845/46). „Das Bekenntniß der ev.-luth. Kirche in der Consequenz seines Princips“ (1848). „Das Wiedererwachen des ev. Lebens in der luth. Kirche Baierns“ (1867). „Das Bekenntniß der luth. Kirche von der Versöhnung und die Versöhnungslehre D. Hofmann’s (1857). „Praktische Auslegung des Colosserbriefes, Zeugnisse von der Gnade Gottes in Christo“ (1847). „Predigten“, fünf Sammlungen (1852 bis 1860); gesammelt nach der Ordnung des Kirchenjahres 1861; neu aufgelegt 1876. Briefe von ihm in Zeitschr. f. Protestantismus u. Kirche 1875, I, 113 ff. und II, 113 ff.

Vgl. D. v. Stählin’s Artikel in Herzog’s Realencyklopädie XV (1885), 623–635. Dazu die dort citirte Gedächtnißrede Zezschwitz’ auf Th. und drei Nekrologe: in Allg. Ztg. 1875, Nr. 59; in Allg. ev.-luth. Kirchenzeitung 1875, Nr. 14 und in Zeitschr. für Prot. u. Kirche 1876, II, 23 ff.