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ADB:Vattel, Emerich von

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Artikel „Vattel, Emerich v.“ von Johann August Ritter von Eisenhart in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 511–513, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vattel,_Emerich_von&oldid=- (Version vom 27. November 2024, 08:10 Uhr UTC)
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Vattel: Emerich v. V. (Emer de Vattel), sächsischer Diplomat und publicistischer Schriftsteller, geboren zu Couvet, im damaligen Fürstenthum Neuenburg (Neufchâtel), am 25. April 1714, † in Neuenburg am 28. Decbr. 1767. Emerich’s Vater, David V., war 1706–1715 erster Seelsorger in Couvet, dann in Saint-Aubin, wo er 1730 einem Schlaganfalle erlag. 1726 reiste er an der Spitze einer Deputation neuenburgischer Geistlicher nach Berlin zu dem Könige von Preußen, als damaligem Fürsten von Neufchâtel. V. wurde bei diesem Anlasse zum königlichen Hauscaplan ernannt, und mit Diplom vom 11. Januar 1727 in den erblichen Adelstand erhoben. Verheirathet mit Marie, Tochter des Staatsrathes und Generalschatzmeisters M. v. Montmollin gingen aus dieser Ehe drei Söhne hervor, von denen der älteste, Johann Friedrich, in französische, der zweite Karl in savoyardische Kriegsdienste trat, während der jüngste, Emerich, in die väterlichen Fußtapfen zu treten beabsichtigte, und daher in Basel humanistische und philosophische Vorlesungen besuchte. Nach glänzend abgelegtem Examen wandte er sich nach Genf, wo die philosophischen Studien – namentlich Moralphilosophie und Metaphysik – einen mächtigen Zauber auf ihn übten, und er sich mit seltener Gründlichkeit und Stoffbeherrschung in die Werke von Leibniz und Wolf vertiefte. – Seine „Defense du système Leibnitzien contre les objections et les imputations de Mr. de Crousaz etc.“, welche 1741 und 42 zu Leyden erschien, bildet einen sicheren Beweis seiner ernsten eingehenden Studien und seiner umfassenden Kenntniß der deutschen Philosophie, weshalb sich auch die Kritik über diese wissenschaftliche Leistung sehr anerkennend äußerte.

Als geborner Unterthan des Königs von Preußen wandte sich V. 1741 auf Einladung des Marquis de Valory, französischen Gesandten am preußischen Hofe, nach Berlin, um eine seinen Bedürfnissen zusagende Stellung zu finden. Nach vergeblichen Versuchen reiste er 1743 nach Dresden, wo er beim Grafen Brühl, dem ersten Minister August’s III., günstige Aufnahme fand, und als Gesandtschaftsrath und Minister König August’s nach der Republik Bern geschickt wurde, um die mannichfachen Angelegenheiten zwischen beiden Staaten zu erledigen. V. blieb jedoch ausreichende Muße, neben seinen Amtsgeschäften alljährlich die Seinigen zu besuchen und sich litterarischen Arbeiten zu widmen; so entstand damals neben kleinen Schriften sein in fließendem Französisch geschriebenes, berühmtes Hauptwerk: „Le Droit de Gens ou Principes de la Loi Naturelle appliqués à la conduite et aux affaires des nations et des souverains“, das sich durch Klarheit und Deutlichkeit der Darstellung auszeichnet. Das aus vier Büchern bestehende Werk erschien zuerst in Leyden 1758, eine 2. Auflage ebendort im nämlichen Jahre, ebenso ein Nachdruck in London. – Vattel’s Völkerrecht steht mit dem von Wolf in innigem Zusammenhange. Von der Absicht geleitet, das Werk des letzteren einem größeren Leserkreise zugänglich zu machen, glaubte er dasselbe auf einfache und leichte Weise volksthümlich gestalten zu können, fand aber bald, daß eine neue Bearbeitung des Stoffes unabweisbar sei, und so ist in der That Vattel’s Buch, wenn auch genau auf der nämlichen Grundlage wie das Wolf’s, von diesem wesentlich verschieden und macht V. mit Recht auf einen gewissen eigenthümlichen Charakter seines Werkes aufmerksam. Man hat nicht ohne Grund behauptet, das Buch sei „der ganze Vattel“, und kann man aus dem Schlusse der Vorrede wohl am verlässigsten den Geist ersehen, in dem das Werk geschrieben. In freimüthiger Weise bemerkt der Autor: „Seine unabhängige Feder vermöge nicht der Schmeichelei zu huldigen. Geboren in einem Lande, dessen Seele und Grundgesetz die Freiheit, sei er durch seine Geburt allen Völkern befreundet. Das Zusammentreffen dieser glücklichen Umstände hätte ihn ermuthigt, durch gegenwärtiges Werk sich den [512] Mitmenschen nützlich zu machen. Er fühle die Schwäche seines Talentes, die Schwierigkeit der übernommenen Aufgabe, trotzdem würde es ihm zur Genugthuung dienen, wenn der ehrenhafte Leser dieser Zeilen den biedern, freien Mann (honnête homme et citoyen) durchfühlen würde“. Vattel’s Völkerrecht ist zwar ohne tiefere wissenschaftliche Bedeutung; man stößt bisweilen auf Widersprüche, gewagte Behauptungen und auf Mängel, welche der Abstractionsphilosophie des 18. Jahrhunderts überhaupt ankleben. Trotzdem genoß es – weitverbreitet – in der internationalen Rechtspraxis eine geradezu eminente Bedeutung. Keine Bearbeitung des philosophischen Völkerrechts hat so allgemeine Billigung und Benutzung gefunden als Vattel’s „Droit des gens“. Es gilt (wie Rob. v. Mohl in seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften I, 387 ausführt) bei Diplomaten und namentlich Consuln selbst heute noch als eine Art Orakel, und bietet – nicht selten sogar in Staatsschriften eingeführt – das eigenthümliche Schauspiel eines fast zum positiven Gewohnheitsrecht gewordenen Lehrgebäudes. – Kaltenborn hat in seiner Kritik des Völkerrechtes (S. 81 bis 84) die mehrfachen Gründe dieser Erscheinung kurz zusammengestellt und hieran eine gediegene Beurtheilung des Werkes gereiht. 1758 wurde unser Publicist von Bern mit Titel und Rang eines geheimen Rathes nach Dresden zurückberufen. Hochgeehrt in den weitesten Kreisen hatte er den Gipfel seines Ruhmes erreicht; beglückt gab er in einem Briefe von 1763 an die Seinigen der Befriedigung Ausdruck über das Vertrauen und die Anerkennung, welche er sowol an den Höfen wie beim Publicum genieße. Allein er sollte sich dieser Erfolge nicht lange erfreuen; die angestrengte geistige Thätigkeit untergrub allmählich seine rüstigen Körperkräfte. Behufs Wiedergewinnung seiner Gesundheit begab er sich zu den Seinen nach Neufchâtel, von wo er gebessert nach Dresden zurückkehrte. Allein die Besserung war nur von kurzer Dauer; schon im Herbste 1767 sah er sich genöthigt, die Heimath aufs neue aufzusuchen, wo er am 28. December desselben Jahres an den Folgen der Brustwassersucht starb, tief betrauert von der Familie und dem großen Kreise der Freunde und Verehrer.

V. hat neben seinem Hauptwerke mehrere publicistische Arbeiten veröffentlicht, welche in Jeanneret, Biogr. neuchat. II, 414 aufgezählt sind; ebendort findet sich auch eine Liste der Ausgaben und Auflagen, welche vom Völkerrechte von 1758–1802 erschienen sind. Letzteres wurde außerdem von Mr. de Hofmanns (Paris 1835, I, II), dann von Comte d’Hauterive (Paris 1838/39, I, II) endlich von Pradier-Fodéré (Paris, I–III) mit verschiedenen Anhängen, Noten und Erweiterungen neu herausgegeben. Die weite Verbreitung und der große Einfluß des Werkes auf die Praxis veranlaßten zahlreiche Uebersetzungen in mehrere Sprachen. Eine deutsche von J. P. Schulin (Frankfurt und Leipzig 1763, 3 Bde.); eine italienische unter dem Titel „Il diritto delle genti, tradotto del francese“ (Milano 1805, 3 Vol.); eine englische von dem im Handelsrechte bekannten Juristen J. Chitty „The law of Nations“ (London 1834), dessen Bearbeitung namentlich in Amerika viel benutzt wurde und zu Philadelphia 1844 „in sixth American edition“ erschien. Ferner bestehen drei Uebertragungen ins Spanische, die eine vom Licentiaten D. Manuel Pascual Hermandez (Madrid 1820), eine zweite von Mig. Otarena (Madrid 1822, I, II und Paris 1824, 4 Vol.), eine dritte „con una introducion por Sir J. Makintosh“ (Paris 1806, I–IV). Endlich hat der portugiesische Staatsmann M. S. Peinhero-Ferreïra „Notes et table générale analytique“ zu Vattel’s Werk ausgearbeitet (Paris 1838).

V. verheirathete sich in vorgerückten Jahren am 27. Januar 1764 zu Dresden mit Marianne de Chesne, aus angesehener französischer Familie, in welcher Ehe ihm am 31. Januar 1765 ein Sohn – Charles Adolphe [513] Maurice V. – geboren wurde. Letzterer diente bis 1796 in der holländischen Schweizergarde, wurde 1816 vom König von Preußen als Fürsten von Neuenburg zum Staatsrath und Gefäll-Einnehmer (?) „receveur de parties casuelles“ ernannt, in welcher Eigenschaft er am 28. October 1827 starb. Charles Adolf besaß eine entschiedene poetische Begabung und veröffentlichte in französischer Sprache mehrere Dichtungen, unter diesen: „Guillaume Tell et la Suisse délivrée“ (Neuchatel 1798). Besonderen Beifall erntete er für die metrische Uebersetzung von Schiller’s Glocke und dem Liede an die Freude (La Cloche und l’Hymne au plaisir, Zürich und Paris 1808). Durch den frühzeitigen Tod seiner beiden Söhne erlosch die Familie Vattel im Mannesstamme.

(Emerich Vattel,) Jeanneret, Biogr. neuchat. II, 409–416 und die dortselbst S. 416 aufgezählte zahlreiche Litteratur nebst erschöpfendem Schriftenverzeichniß. – Mohl, Geschichte u. Litt. der Staatswissenschaften I, 386. – Bluntschli’s Staatswörterbuch X, 728. – Ompteda, Liter. d. Völkerr. § 99. – Kaltenborn, Kritik d. Völkerrechts, S. 78–85. – Pradier-Fodéré, Le Droit des gens etc. par Vattel (Paris 1863; Avant-Propos, pag. IX bis XIX. – Martens, Völkerrecht, 160–62. – (Charles Ad. V.,) Jeanneret a. a. O. – Biogr. univ. s. v. Vattel.Allamand, Statistique du Val-Traverse.Messager boiteux du Neuchatel 1828, 1840, 1851 etc.