ADB:Vigier, Wilhelm
Martin Disteli (s. A. D. B. V, 256), der ihm Unterricht im Zeichnen gab, ein Fach, für [696] welches er ein bedeutendes Talent bekundete, wie er denn während seines ganzen Lebens ein eifriger Kunstfreund blieb. Von Solothurn begab sich V. im Frühling 1844 nach Genf, wo er, um seine allgemeine Bildung zu vervollständigen, Vorlesungen über Litteratur, Geschichte und Philosophie hörte; dann widmete er sich an den Universitäten Zürich, Bonn, Berlin und Heidelberg dem Studium der Rechtswissenschaft. In die Zeit seines Berliner Aufenthaltes fiel die Märzrevolution des Jahres 1848, an der er mit seinem Freunde Gaudenz v. Salis-Seewis lebhaften Antheil nahm und über die er kurze Zeit vor seinem Tode seine Erinnerungen niedergeschrieben hat. Nachdem V. im J. 1849 in die Heimath zurückgekehrt war und die Prüfung als Rechtsanwalt bestanden hatte, gründete er in Verbindung mit seinem Freunde Wilhelm Munzinger, dem Sohne von Bundespräsident Munzinger (s. A. D. B. XXIII, 46), ein Advocaturbureau, wandte sich aber bald der activen Politik zu, indem er sich in Opposition zu der damaligen Regierung stellte und mit seinen gleichgesinnten Freunden Simon Kaiser, Kaspar Affolter u. A. vom Jahre 1853 an die Zeitung „Solothurner Landbote“ herausgab. Wenn auch seit 1830 die liberale Richtung im Kanton Solothurn stets siegreich das Feld behauptet und alle Reactionsversuche zurückgeschlagen hatte, war doch, besonders seitdem die Partei ihrer beiden in der ganzen Schweiz hoch angesehenen Führer beraubt worden war – Munzinger war im J. 1848 als Bundesrath nach Bern übergesiedelt, Reinert 1853 gestorben – im Schooße der Regierung eine gewisse Schlaffheit und Unthätigkeit eingetreten, welche der weitern fortschrittlichen Entwicklung und dem Eingehen auf die demokratischen Forderungen und die veränderten Bedürfnisse der Zeit hindernd in den Weg traten. So gelang es V. und seinen Freunden bald, einen großen Anhang zu gewinnen, auch unter der conservativen Bevölkerung, die sich noch nicht mit den durch die Erhebung von 1830 geschaffenen Verhältnissen versöhnt hatte und, freilich mit Unrecht, von den neuen Männern einen Umschwung in ihrem Sinne erwartete. Nachdem V., der im November 1854 vom Wahlkreis Kriegstetten in den Kantonsrath gewählt wurde, und seine Freunde während mehreren Jahren im „Landboten“ den Boden für ihre Bestrebungen vorbereitet hatten, veröffentlichten sie im December 1855 eine Broschüre: „Sind im Kanton Solothurn keine Verbesserungen nothwendig?“, das sogen. „rothe Büchlein“, in welchem sie ihre Vorschläge für eine Verfassungsrevision formulirten und dem Volke zur Ueberlegung darboten. Sie verlangten die Wahl eines Verfassungsrathes durch das Volk, für das sie auch Erweiterung seiner Rechte in der Wahl der Gemeinde- und Bezirksbeamten beanspruchten; sie drangen auf consequentere Durchführung der Trennung der Gewalten und brachten Vorschläge zu materiellen Verbesserungen, wie Gründung einer Bank, Abschaffung oder doch Beschränkung der drückenden Sporteln, Aenderungen im Staatshaushalt und Finanzwesen, Hebung der öffentlichen Bildungsanstalten u. s. w. Wenn es auch den Anhängern der Regierung nicht schwer fiel, in einer Gegenschrift: „Ein Wort an das Solothurnische Volk über die im Kanton Solothurn angeregte Verfassungsrevision“, dem sogen. „grauen Büchlein“, die theilweise Ungerechtigkeit und große Uebertreibung der gegen sie erhobenen Vorwürfe nachzuweisen, waren sie doch, obwol sie Männer von hoher Intelligenz und unbestreitbarem Verdienste in ihren Reihen zählten, nicht stark, vielleicht auch nicht thätig genug, um der mit außerordentlicher Rührigkeit und Energie in Scene gesetzten und durchgeführten Bewegung siegreich entgegenzutreten, und am 30. März 1856 beschloß das Volk des Kantons Solothurn, mit allerdings nicht sehr großer Mehrheit (6823 gegen 6119 Stimmen), Revision der Verfassung und Wahl eines Verfassungsrathes, die am 13. April vorgenommen wurde. Auf die Annahme der neuen Verfassung am 1. Juni folgte am 8. Juni die Wahl [697] des neuen Kantonsrathes, der in seiner Mehrheit aus Anhängern von V. bestand und diesen am 23. Juni zum Mitglied der Regierung wählte, deren von seinen Parteigenossen unbestrittenes Haupt er nun bis zu seinem Tode, also während beinahe 30 Jahren, blieb, sehr oft mit der Würde des Präsidenten derselben, des „Landammanns“, bekleidet. Zwischen der siegreichen und der unterlegenen Partei aber, den „Rothen“ und den „Grauen“, wie sie nach der Farbe des Umschlags der beiden erwähnten Streitschriften fortan hießen, blieb auf lange Zeit eine tiefe Spaltung bestehen, die indessen nicht verhinderte, daß Landammann V. als der populärste Mann des Kantons gelten durfte. Es ist nicht zu bestreiten, daß er und seine Mitarbeiter auf den verschiedensten Gebieten des Staatswesens eine fruchtbare schöpferische Thätigkeit entfaltet haben. Das Creditwesen wurde gehoben durch Gründung einer Bank und durch eine neue Katastervermessung; im Bau- und Straßenwesen wurde viel geleistet und den volkswirthschaftlichen Fragen wurde eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet. V. gebührt das Verdienst, die Einführung einer Reihe von industriellen Etablissementen im Kanton und die Ausdehnung des Eisenbahnnetzes ohne Belastung des Staatsvermögens gefördert zu haben. Die schon unter der alten Regierung beschlossene Errichtung der Irrenanstalt Rosegg bei Solothurn wurde energisch an die Hand genommen und durchgeführt; auch die Gründung des Kantonsspitals in Olten ist zum großen Theil der Anregung von V. zu verdanken. Ganz besonders thätig aber war er auf dem Gebiete des Erziehungswesens, das er (mit einer siebenjährigen Unterbrechung von 1877–1884) von 1856 bis zu seinem Tode leitete. Er besuchte selbst fleißig die Schulen, um sich durch eigene Anschauung von dem Stande derselben und den zu ihrer Hebung nothwendigen Maßregeln zu überzeugen. Auf seine Anregung wurde das Lehrerseminar erweitert und von Oberdorf nach der Hauptstadt des Kantons verlegt. Seiner Initiative verdanken die Gesetze über die Primarschulen (1873), die Bezirksschulen (1875) und die Kantonsschule (1874) ihre Entstehung. Die Zahl der Bezirksschulen wurde bedeutend vermehrt, und die Kantonsschule wurde durch den Ausbau der gewerblichen oder technischen Abtheilung gehoben. So ist es kein Wunder, daß V. in der Lehrerschaft stets eifrige Anhänger gezählt hat.
Vigier: Wilhelm V., schweizerischer Staatsmann, geboren am 27. August 1823 in Solothurn, † ebendaselbst am 18. März 1886. Er entstammte der Patricierfamilie v. Vigier, die ihren Ursprung in Südfrankreich hat und deren Stammbaum sich mit Sicherheit bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen läßt. Einer seiner Vorfahren, der als Secrétaire-interprète des französischen Gesandten nach der Schweiz gekommen war, wurde 1611 Bürger der Stadt Solothurn und Begründer der dortigen angesehenen Familie, die später durch Substitution (infolge der Vermählung eines v. V. mit der Tochter des letzten aus dem Geschlechte derer v. Steinbrugg) ihrem Namen denjenigen v. Steinbrugg beilegte und deren Glieder sowol im solothurnischen Staatswesen wie im französischen Militärdienst sich auszeichneten. Trotz dieser vornehmen Abstammung huldigte V. von seiner Jugend an freisinnigen und demokratischen Anschauungen, die er von seinem Vater, Urs Vigier v. Steinbrugg, der längere Jahre und bis zu seinem Tode (1845) Mitglied der liberalen solothurnischen Regierung war, ererbt hatte. Seine erste Bildung erhielt V. an den Primarschulen und der höhern Lehranstalt (Gymnasium) von Solothurn, die er mit Auszeichnung absolvirte. Zu seinem Lehrer hatte er auch den bekannten MalerAuch an der eidgenössischen Politik betheiligte er sich in hervorragender Weise. Seit dem 25. Juni 1856 gehörte er ohne Unterbrechung als Vertreter seines Kantons dem schweizerischen Ständerath an, in dem er zu großem Einfluß gelangte und mit dessen Präsidium er zwei Mal, 1862 und 1882, betraut wurde. Im J. 1858 wählte ihn die Bundesversammlung zum Mitgliede des schweizerischen Bundesgerichtes, in welchem er bis zu dessen Reorganisation im J. 1874 blieb und ebenfalls zwei Mal, 1864 und 1873, den Vorsitz führte. Als einer der hervorragendsten Führer der radical-demokratischen Gruppe huldigte er der centralisirenden Richtung und war einer der Hauptförderer der Bewegung für die Bundesrevision, welche, nachdem der erste Entwurf am 12. Mai 1872 verworfen worden war, zwei Jahre später durch die Abstimmung vom 19. April 1874 zur Annahme der neuen Bundesverfassung führte. Der Widerstand, den das Revisionswerk gefunden, hatte im Kanton Solothurn die Einigung und Versöhnung der seit 1856 sich bekämpfenden liberalen Parteien durch die Zusammenkunft von Langenthal (19. Mai 1872) bewirkt, anderseits war er die Veranlassung zum schweizerischen Volkstag in Solothurn vom 15. Juni 1873, an welchem unter großartiger Theilnahme von Vertretern aus sämmtlichen Kantonen beschlossen wurde, den Kampf nicht aufzugeben, sondern mit verdoppelter Energie das Ziel der Umgestaltung der Bundesverfassung in centralistischem und fortschrittlichem Sinne weiter zu verfolgen, ein Beschluß, zu dem [698] die begeisterten und hinreißenden Worte von V. ohne Zweifel viel beitrugen. Jene Vereinigung der liberalen Parteien im Kanton Solothurn, von der nur wenige Gegner von V. sich fernhielten, hatte zur Folge, daß der Kampf gegen die sich mehr und mehr geltend machende Reaction grundsätzlich und mit größerer Wucht geführt werden konnte. Während längere Zeit ein freundliches Verhältniß zwischen Staat und Kirche bestanden hatte, war bald nach der im J. 1863 erfolgten Wahl von Eugenius Lachat zum Bischof von Basel eine Entfremdung zwischen der bischöflichen Curie und den Diöcesanständen eingetreten, die sich noch steigerte, als durch das Vaticanische Concil das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit ausgesprochen worden war. Schon im April 1870 hatte infolge der Einführung der Lehrbücher der Moral von Gury und Kenrick im Priesterseminar zu Solothurn die Diöcesanconferenz beschlossen, dieser Anstalt die staatlichen Subsidien zu entziehen. Die Excommunication der Pfarrer Egli von Luzern und Gschwind von Starrkirch (Kt. Solothurn), die sich geweigert hatten, die Vaticanischen Decrete anzuerkennen, führte schließlich, am 29. Januar 1873, zur Absetzung des Bischofs durch die Diöcesanstände Bern, Solothurn, Aargau, Thurgau und Baselland, während bloß Luzern und Zug ihn ferner anerkannten. Im Kanton Solothurn war schon am 28. December 1872 trotz heftigen Widerstandes mit großer Mehrheit ein Gesetz über die Wiederwahl der Geistlichen angenommen worden, und im October 1874 erfolgte die Säcularisation des Benedictinerklosters Mariastein und der Chorherrenstifte St. Urs und Victor in Solothurn und St. Leodegar in Schönenwerd, deren Vermögen, nach Aussteuerung der noch lebenden Geistlichen und der betreffenden Gemeinden, dem allgemeinen Schulfonds des Kantons einverleibt wurde. Auch an der altkatholischen Bewegung nahm V. mit Professor Walther Munzinger in Bern (s. A. D. B. XXIII, 49), Landammann Augustin Keller in Aarau u. A. lebhaften Antheil und half mit zur Begründung der christkatholischen Nationalkirche der Schweiz, zu deren Bischof im J. 1876 Dr. Eduard Herzog aus dem Kanton Luzern gewählt wurde. Hatte so V. im sog. Culturkampfe, durch den der katholischen Kirche in der Schweiz empfindliche Wunden geschlagen wurden, in den ersten Reihen gestanden, wirkte er doch auch wieder mit, als es sich um Beilegung der langjährigen Streitigkeiten und um die Reconstruction des Bisthums Basel handelte. Schon im J. 1879 wurden die ersten Schritte hiezu gethan, die schließlich, dank der Vermittlung des schweizerischen Bundesrathes, zu der für alle Betheiligten annehmbaren Uebereinkunft vom 1. September 1884 und zur Erhebung des mit V. in früheren Jahren befreundeten gelehrten und milden Dompropstes Friedrich Fiala auf den bischöflichen Stuhl von Basel führten.
So sehr die Versöhnung der früher sich leidenschaftlich bekämpfenden liberalen Parteien im Kanton Solothurn zu begrüßen gewesen war, hatte sie doch den Nachtheil, daß fortan, bei dem Mangel einer kräftigen und auf einen großen Theil des Volkes sich stützenden Opposition, die Controlle im Staatshaushalte, auf welche die Verfasser des „rothen Büchleins“ im J. 1856 besonders energisch gedrungen hatten, mangelhaft gehandhabt wurde und damit gewisse Nachlässigkeiten, ja selbst Veruntreuungen in den staatlichen Bankinstituten stattfinden konnten, welche die Finanzen des Kantons schwer schädigten. Mit Unrecht hat man V., dessen Redlichkeit und uneigennützige Gesinnung nicht angezweifelt werden können, nach seinem Tode dafür verantwortlich machen wollen. Wol aber ist der Vorwurf vielleicht nicht ungerechtfertigt, daß der Parteimann sich einer allzugroßen Vertrauensseligkeit unwürdigen Parteigenossen gegenüber hingegeben habe.
Noch im kräftigsten Mannesalter stehend und sich scheinbar der besten Gesundheit erfreuend, wurde V. im Frühling 1886 von einem Zungenktebs ergriffen, [699] dem er trotz glücklich durchgeführter Operation am Abend des 18. März erlag. Im Kanton wie in der ganzen Eidgenossenschaft war die Trauer groß um den Mann, der eine so bedeutende Rolle in seiner engern wie in der weitern Heimath gespielt und, wenn er sich auch öfters auf einen einseitigen Parteistandpunkt stellte, sich doch unleugbar große Verdienste um die fortschrittliche Gestaltung und die geistige wie materielle Entwicklung seines Vaterlandes erworben hatte. Seine große Popularität verdankte V. nicht nur seinem gewinnenden Wesen, seiner Uneigennützigkeit, seiner Gabe, sich mit den Leuten aus dem Volke in ihrer Weise zu unterhalten, auf ihre Anschauungen und Bedürfnisse einzugehen, sondern vor allem auch seiner hinreißenden volksthümlichen Beredsamkeit, von der er oft und in den wichtigsten Augenblicken einen glücklichen Gebrauch zu machen wußte. In aller Zuhörer Erinnerung blieben seine Reden bei der Einweihung des Schlöth’schen Winkelrieddenkmals in Stans am 3. September 1865, am Volkstag in Solothurn am 15. Juni 1873 u. s. w. Um seinen Ideen zum Siege zu verhelfen, bediente sich V. mit Erfolg auch der Presse und schrieb eine große Zahl von volksthümlich gehaltenen Broschüren über die wichtigsten kantonalen und eidgenössischen Fragen. Zum Gebrauch für die schweizerischen Fortbildungsschulen verfaßte er eine Anleitung zur Vaterlandskunde, „Der Schweizerjüngling“ betitelt; im J. 1884 veröffentlichte er ein Volksschauspiel „Der Fall der alten Eidgenossenschaft“, und wenige Wochen vor seinem Tode schrieb er seine Berliner „Erinnerungen an die Märztage des Jahres 1848“ nieder, alles Schriften, welche, ohne auf litterarische Bedeutung Anspruch zu machen, von seiner für Freiheit und Fortschritt glühenden Gesinnung sprechendes Zeugniß geben.