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ADB:Weierstraß, Karl

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Artikel „Weierstraß, Karl“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 11–13, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Weierstra%C3%9F,_Karl&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 19:09 Uhr UTC)
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Weierstraß: Karl W., Mathematiker, wurde als Sohn des Rendanten Wilhelm W. in Osterfeld in Westfalen am 31. October 1815 geboren und starb am 19. Februar 1897 in Berlin. W. gehörte der katholischen Confession an, zu welcher sein Vater übergetreten war. Vom Gymnasium zu Paderborn aus bezog er 1834 die Universität Bonn, um bis 1838 die Rechtsgelehrtheit zu studiren und mehr noch das studentische Corpsleben kennen zu lernen. Gegen Ende dieser Zeit erwachte bei W. erstmalig die Neigung zu mathematischen, insbesondere zu astronomischen Dingen, und er ging, um dieselbe zu befriedigen, nach Münster, wo er von 1838–1840 verweilte. Dort fand er Gudermann (s. A. D. B. X, 87), jenen tiefen Denker, der den Schüler schon gereiften, wenn auch mathematischer Schlußfolgerungen nicht gewohnten Geistes in privaten Unterrichtsstunden in die damals zu äußerst gelegenen Theile der Mathematik einführte. Im Sommer 1841 unterzog sich W. der Oberlehrerprüfung und wußte durch seine drei schriftlichen Arbeiten, insbesondere durch eine derselben, für welche er sich freie Wahl des Gegenstandes erbeten hatte, die Bewunderung der Prüfenden zu erregen. Das war kein zu prüfender Candidat mehr, das war ein erfindungsreicher Forscher im Besitze von neuen Hülfsmitteln, der neue Bahnen eröffnete. Ein Theil dieser Arbeit ist 1843 in ein Programm von Deutsch-Krone, dann 1855 in die im 51. Bande des Crelle’schen Journals abgedruckte Abhandlung über analytische Facultäten hineinverarbeitet worden. Nach einem Probejahr in Münster erhielt W. 1842 eine Lehrerstelle am Progymnasium in Deutsch-Krone in Westpreußen, wo er sechs Jahre lang allen möglichen Unterricht zu ertheilen hatte, sogar Schreib- und Turnunterricht. Daneben war ihm das Amt eines Censors des feuilletonistischen Theils der kleinen in Deutsch-Krone erscheinenden Tageszeitung übertragen worden, welches er allerdings eigenthümlich genug verwaltete. Während der eigentliche Censor dafür sorgte, daß der politische Theil der Zeitung keine aufregende Aufsätze enthielt, ließ W., den die Abneigung jenes Censors gegen Verse, welche er niemals las, kannte und benutzte, im Feuilleton Herwegh’s feurigste Freiheitslieder abdrucken. Im J. 1848 kam dann W. als Oberlehrer an das Gymnasium in Braunsberg, und von jetzt an konnte er wenigstens so weit seinen wissenschaftlichen Neigungen folgen, daß er nur mathematischen Unterricht ertheilte.

Das Braunsberger Gymnasialprogramm von 1849 brachte seine Abhandlung „Beiträge zur Theorie der Abel’schen Integrale“, welche 1854 im 47. Bande des Crelle’schen Journals wiederholt der Oeffentlichkeit übergeben wurde. Die gleiche Empfindung, einem überlegenen Geiste gegenüberzustehen, welche einst in Münster durch die Prüfungsarbeit erweckt worden war, bemächtigte sich jetzt der ganzen mathematischen Welt. Die Universität Königsberg ernannte 1854 auf Richelot’s Antrag W. zum Ehrendoctor. Nach einem [12] Aufenthalte des neuen Doctors in Königsberg, zu welchem ihm Urlaub ertheilt worden war, durfte W. Richelot’s Gegenbesuch in Braunsberg empfangen, und ebendahin begab sich Borchardt, um den neu auftauchenden Genius persönlich kennen zu lernen. Wie sehr der Director des Braunsberger Gymnasiums, ohne Mathematiker zu sein, in die allgemeine Bewunderung einstimmte, beweist eine kleine Geschichte aus jener Zeit. Die Knaben in Weierstraß’ Classe lärmten eines Morgens über die Gebühr, da ihr Lehrer ausgeblieben war. Der Director dadurch aufmerksam gemacht, eilt persönlich in Weierstraß’ Wohnung und findet ihn im durch geschlossene Läden verdunkelten Zimmer bei tief herabgebrannter Lampe am Schreibtische sitzend. W. hatte die Nacht durchgearbeitet und den Wechsel von Tag und Nacht nicht bemerkt. Auch der Eintritt des Directors vermochte ihn nicht zu stören. Er könne, erwiderte er nur, jetzt nicht Schule halten, er sei einer wichtigen Entdeckung auf der Spur und dürfe seine Arbeit nicht verlassen, worauf der Director ihn gewähren ließ.

Im J. 1856 erhielt W. unter Belassung seines Gehaltes einen Urlaub nach Berlin zum Zwecke weiterer Studien. Er sollte nicht wieder nach Braunsberg zurückkehren. Der Lehrstuhl der reinen Mathematik an dem damaligen Gewerbeinstitute in Berlin mußte besetzt werden, und unter den für diese Stelle in Aussicht genommenen Persönlichkeiten, lauter weithin in Deutschland bekannten Gelehrten, fiel die endgültige Wahl auf W. Am 16. Juni 1856 wurde er in feierlicher Versammlung dem Lehrkörper als neuer College vorgestellt. Nun folgte in kurzen Zwischenräumen die Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Universität neben der Stellung am Gewerbeinstitute und die Wahl zum Akademiker. Aber die mit diesen Auszeichnungen verbundenen Pflichten, 12 wöchentliche Stunden Vorlesungen an dem Gewerbeinstitute, dazu 2 Universitätsvorlesungen, eigene Arbeiten der feinsten und anstrengendsten Natur, stellten eine Ueberbürdung dar, welche das Nervensystem schwer schädigten. Schwindelanfälle stellten sich ein, welche zwar, wie die noch fast 40jährige Dauer seines Lebens nachträglich bewies, nicht so gefährlicher Natur waren, als man zuerst befürchtete, welche aber quälend und störend seine Thätigkeit in einer Hinsicht fortwährend hemmte. W. war niemals im Stande, an der Tafel zu lehren und die nöthigen Zeichnungen und Rechnungen während des Vortrags selbst auszuführen. Das hinderte allerdings weder das Vorrücken in immer vortheilhaftere Stellung, noch die Lehrerfolge.

Von 1862 an wurde W. von der Thätigkeit am Gewerbeinstitute entbunden und Aronhold mit seiner Vertretung betraut, während er selbst das Einkommen der Stelle so lange behielt, bis im Frühjahr 1864 die preußische Volksvertretung die Mittel zu einer neu zu schaffenden dritten ordentlichen Professur der Mathematik an der Universität für W. bewilligte. In seinen Universitätsvorlesungen bediente sich W. des bei Mathematikern sonst wohl nie angewandten Mittels, daß er die Tafelarbeit einem schon vorgeschrittenen Schüler übertrug, während er von einem Stuhle aus, der ihm die Uebersicht über das Angeschriebene gestattete, seinen Vortrag hielt, häufig und insbesondere bei schwierigen Stellen mit geschlossenen Augen. So in sich versunken, theilte er den von nah und fern ihm zuströmenden Zuhörern, von denen er mitunter über 80 in den Vorlesungen über die höchsten Capitel der Mathematik vereinigte, seine neuesten Entdeckungen mit. Er war in dieser Beziehung so sorglos, daß es ihm mitunter genügte, eine derartige mündliche Veröffentlichung vorgenommen zu haben, ohne eine Zeile dem Druck zu übergeben. Er konnte einestheils bei der großen Anzahl seiner Zuhörer gewiß sein, daß sein geistiges [13] Eigenthum nicht leicht anders als unter Nennung seines Namens verwerthet würde, und legte anderntheils so wenig Gewicht darauf, daß er, wie man gesagt hat, sich freute, wenn er seine eigenen Gedanken in Arbeiten von Schülern wiederfand, auch wo es unterlassen war, deren Ursprung zu bezeugen.

W. war aller Orten als einer der ersten, wenn nicht als der erste Mathematiker seiner Zeit anerkannt. Die gelehrten Gesellschaften aller Länder wetteiferten, ihn unter ihre Mitglieder aufzunehmen, und wo es verschiedene Grade der Mitgliedschaft gab, wurde er gewiß durch den höchsten ausgezeichnet, so gehörte er beispielsweise der Pariser Akademie der Wissenschaften als auswärtiges Mitglied an. Der hochberühmte und bewunderte wie gefeierte Gelehrte war im Familienkreise von bestrickender Liebenswürdigkeit. Er war nie verheirathet, aber zwei gleichfalls unverheirathet gebliebene Schwestern, deren eine ihm ein Jahr im Tode voraneilte, während die andere ihn überlebte, bereiteten ihm ein angenehmes Heim, das sich gern dem Fremden öffnete, welcher Eingang suchte. Der Tod ereilte W. infolge eines sich rasch entwickelnden Lungenleidens, welches vielleicht aus einer Influenza entstand.

Die große mathematische Bedeutung von W. ist in seinen Leistungen in der sogen. Functionentheorie begründet. Wenn Cauchy[WS 1], Abel[WS 2], Riemann, um nur drei verstorbene hervorragende Schriftsteller verschiedener Nationalität zu nennen, die Lehren dieses der Hauptsache nach dem 19. Jahrhunderte angehörenden Abschnittes der mathematischen Wissenschaften theils von der Integralrechnung ausgehend, theils auf geometrischer Grundlage behandelten, so hat W. mehr als irgend ein Anderer die heute sogen. Arithmetisirung der Mathematik in den Vordergrund treten lassen. Die Eigenschaft der Darstellbarkeit durch die Taylor’sche[WS 3] Reihe ist für ihn die Definition der analytischen Function, und Potenzreihen bilden dann weiter für ihn auch das Instrument zur Bewältigung dieser Functionen, sowie er mittels ihrer die Aufgabe der Fortsetzung von Functionen über ihren ursprünglichen Bereich behandelte. Der Riemann’schen Flächen hat W. sich niemals bedient, wenn er auch weit entfernt davon war, die Genialität ihrer Erfindung zu verkennen oder gering zu schätzen. In der allgemeinen Functionentheorie hat W. das erste Beispiel einer stetigen aber gleichwohl nicht differentirbaren Function aufgestellt und dadurch eine förmliche Umwälzung in den Grundbegriffen der Infinitesimalrechnung hervorgebracht. Die Lehre von den elliptischen Transcendenten brachte er durch Einführung zweier neuer Functionen, der p- und der σ-Function; in ganz neue Gestalt. Das Gebiet der Abel’schen Transcendenten mit den schwierigen in ihm enthaltenen Umkehrungsaufgaben beherrschte W. auf das vollständigste und stellte die Abel’schen Functionen als Quotienten zweier beständig convergirender Potenzreihen dar, welche ihn zu den Thetafunctionen beliebig vieler Veränderlichen weiterführten. Der Variationsrechnung verlieh W. die ihr bis dahin immer noch fehlende Strenge. In der Lehre von den Minimalflächen hat er den Anstoß zu den abschließenden Untersuchungen von H. A. Schwarz[WS 4] gegeben. Kurzum, es gibt kein Gebiet der höheren und höchsten Analysis, welches W. nicht in hervorragendem Grade bereichert hat, so daß man zuversichtlich die Behauptung aussprechen darf, sein Name werde als der Größten einer sich in der Geschichte der Mathematik erhalten.

Vgl. Nekrolog von E. Lampe in d. Jahresbericht d. Dtsch. Mathematiker-Vereinigung VI, 27–44 (Lpz. 1898). – Necrologue par M. D’Ocagne in der Revue des Questions scientifiques. Octobre 1897, p. 484–507.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Augustin-Louis Cauchy (1789–1857); war ein französischer Mathematiker
  2. Niels Henrik Abel (1802–1829); war ein norwegischer Mathematiker
  3. Brook Taylor (1685–1731); war ein britischer Mathematiker
  4. Hermann Amandus Schwarz (1843–1921); war ein deutscher Mathematiker