Zum Inhalt springen

ADB:Welti, Emil

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Welti, Emil“ von Wilhelm Oechsli in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 376–384, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Welti,_Emil&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 20:21 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Welter, Michael
Band 55 (1910), S. 376–384 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Emil Welti in der Wikipedia
Emil Welti in Wikidata
GND-Nummer 118766767
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|55|376|384|Welti, Emil|Wilhelm Oechsli|ADB:Welti, Emil}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118766767}}    

Welti *): Friedrich Emil W., schweizerischer Staatsmann, geboren am 23. April 1825 in dem durch seine Messen bekannten Marktflecken Zurzach im Kt. Aargau, † am 24. Februar 1899 in Bern. Das älteste von acht Kindern des Gerichtspräsidenten und späteren Oberrichters Jakob Friedrich W., eines ernsten, strengen Mannes, empfing W. seine Vorbildung auf den Zurzacher Gemeindeschulen, dann seit Mai 1840 auf dem Gymnasium in Aarau, wo treffliche Lehrer, wie der Philologe Rauchenstein und der Germanist Rochholz, auf den begabten Knaben in nachhaltiger Weise einwirkten. Zeit seines Lebens blieb ihm die Freude an den griechischen Classikern eigen; noch als Bundesrath las er gerne den Homer in der Ursprache. Nach glänzend bestandenem Maturitätsexamen studirte W. in Jena, wo er am 9. Mai 1844 immatrikulirt wurde, drei Semester Jurisprudenz, ein fröhlicher Burschenschafter und doch ernster Arbeit inner- und außerhalb des Fachwissens hingegeben. Im August 1845 verließ er Jena, um nach einem Ferienaufenthalt in Mecklenburg und auf Rügen seine Studien in Berlin fortzusetzen, wo ihn namentlich Puchta und Schelling anzogen. Der erstere lernte in einem Pandektenpraktikum den jungen Schweizer von so vortheilhafter Seite kennen, daß er ihn zur [377] akademischen Laufbahn zu bestimmen suchte; allein Welti’s Vermögensverhältnisse schlossen eine Privatdocententhätigkeit aus, und als ihm durch Vermittlung eines hochgestellten Beamten in Dorpat, mit dessen Sohn er sich befreundet hatte, eine besoldete Lehrstelle für Römisches Recht an der dortigen Universität angeboten wurde, inhibirte der Vater, der nicht wollte, daß sein Sohn in den russischen Staatsdienst trete. Das Wintersemester 1846/47 verbrachte W. wieder in Jena, worauf er, reich beladen mit vielseitigen Eindrücken und Kenntnissen, in die Heimath zurückkehrte.

Im Sommer 1847 bestand er das aargauische Staatsexamen als Fürsprech. Im November des Jahres machte er den Sonderbundskrieg als Freiwilliger mit und fungirte nach Beendigung desselben eine Zeit lang als Secretär des eidgenössischen Untersuchungsrichters in Luzern. Nach einigen Jahren Anwaltspraxis wurde er im Mai 1852 zum Präsidenten des Bezirksgerichts Zurzach gewählt und verheirathete sich noch im gleichen Monat mit Karoline Groß aus Zurzach; die Hochzeitsreise des jungen Paares ging nach München.

Die Arbeitskraft, Beredsamkeit und vorzüglichen Charaktereigenschaften des Zurzacher Gerichtspräsidenten lenkten allmählich die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn, so daß W. Ende März 1856 in den Großen Rath und von diesem am 2. April sogleich in die Regierung des Kantons Aargau gewählt wurde. Damit betrat er die staatsmännische Laufbahn, für die er durch Neigung und Fähigkeiten prädestinirt war. Zunächst übernahm er die Leitung des Justizwesens und erwarb sich große Verdienste um den Bau einer der modernen Gefängnißkunde entsprechenden Strafanstalt, um die Ordnung des Hypothekar- und Vormundschaftswesens. Im J. 1862, in welchem W., wie schon 1858 und wieder 1866, die Würde eines Landammanns, d. i. Regierungspräsidenten, bekleidete, kam es bei Anlaß eines Gesetzes, das den in den aargauischen Gemeinden Endingen und Lengnau seit Jahrhunderten einheimischen Israeliten die bürgerliche Gleichberechtigung verschaffen sollte, zu einer wüsten Judenhetze und Agitation gegen die Behörden, die von den katholischen Landestheilen ausging, aber auch in die reformirten hinüberspielte. Die Folge war, daß am 18. Juni der Regierung ein von 10 060 Unterschriften begleitetes Volksbegehren um Abberufung des Großen Rathes und Aufhebung des Judengesetzes eingereicht wurde. Die Volksabstimmung vom 27. Juli entschied in der That mit 24 726 gegen 16  413 Stimmen für Abberufung des Großen Rathes, worauf auch der Regierungsrath, W. an der Spitze, einstimmig resignirte. Die Neuwahlen ergaben einen schroff nach confessionellen Parteien geschiedenen Großen Rath; dennoch war W., obwohl er energisch für die Judenemancipation eingetreten war, der erste, der wieder in die Regierung gewählt wurde. Schon vor der Abberufung hatte der Große Rath eine Berathung über eine theilweise Revision der Verfassung begonnen, die nun die neue Behörde zu Ende führte, und in die W. kräftig eingriff. In welchem Sinne, mag folgende Stelle aus einer seiner Reden zeigen, die für das gesammte Wirken des Staatsmannes Welti als typisch gelten darf: „Es kann sich übrigens nach meiner Meinung nicht darum handeln, sich durch Verfassungsbestimmungen populär zu machen. Volkswünsche sind für mich auch nur so lange maßgebend, als sie mit meiner Ueberzeugung übereinstimmen. Wäre es wahr, was man heutzutage zur Genüge wiederholen hört, daß der Volkswunsch das unverletzliche Gesetz der Volksrepräsentanten sei, dann wäre auch die repräsentative Demokratie die traurigste Staatsform in der Welt. Dem ist aber glücklicherweise nicht so; die Erfahrung und die bessere Einsicht, welche dem Volksvertreter das Vertrauen seiner Wähler erworben [378] haben, sollen ihn auch in seinem öffentlichen Leben allein leiten; er wird nur dann das Vertrauen erhalten, wenn er das Volk zu der Höhe seiner eigenen Ansichten emporhebt; er wird es aber auch ebenso rasch verlieren, wenn er feige von dieser Höhe seiner Ueberzeugung und Einsicht herabsteigt.“

Mit Neujahr 1863 fiel W. die Direction des Erziehungswesen zu, in dem er alsbald eine fruchtbringende Thätigkeit entfaltete. Er reorganisirte die Kantonsschule und schuf ein neues, vom 1. Juni 1865 datirtes Unterrichtsgesetz, das für das aargauische Schulwesen aller Stufen einen wesentlichen Fortschritt bedeutete. Seine kargen Mußestunden widmete er mit Vorliebe rechtshistorischen Studien; 1859 gründete er mit Augustin Keller zusammen die historische Gesellschaft des Kantons Aargau mit ihrer Jahresschrift „Argovia“, in deren vier ersten Jahrgängen er eine Reihe von Rechtsquellen, wie das Stadtbuch von Baden, das Urbar der Grafschaft Baden und 23 Aargauer Offnungen, die dann in die zweite Auflage der Weisthümer von Jakob Grimm aufgenommen wurden, mit vortrefflichen rechtshistorischen Erläuterungen und Untersuchungen veröffentlichte. Die Universität Zürich ernannte ihn für diese Arbeiten 1866 zu ihrem Ehrendoctor.

Neben dieser Wirksamkeit im Heimathkanton begann frühzeitig diejenige in eidgenössischen Dingen. Seit Frühling 1857 vertrat W. den Kanton Aargau im Ständerath und gewann rasch solches Ansehen, daß ihn der Rath 1860 und 1866 zu seinem Präsidenten wählte. Zwei Mal, im März 1860 und im October 1864, wurde er vom Bundesrath als eidgenössischer Commissär nach Genf geschickt, um Ruhestörungen vorzubeugen; die Stadt Genf schenkte ihm in Anerkennung seiner Verdienste das Bürgerrecht. Als im December 1866 der von Aarau gebürtige Bundesrath Frey-Herosee nach achtzehnjähriger Amtsthätigkeit zurücktrat, galt die Nachfolge seines engern Landsmanns Welti als selbstverständlich. Am 8. December wurde dieser in den Bundesrath gewählt. In den 25 Jahren, die W. nun der höchsten Behörde der Schweiz angehörte, bekleidete er nicht weniger als sechs Mal, 1869, 1872, 1876, 1880, 1884 und 1891, die Würde des Bundespräsidenten; als solcher hatte er, mit Ausnahme des letzten Jahres, wo eine andere Einrichtung bestand, jeweilen die auswärtige Politik der Schweiz zu leiten. Von den Jahren der Bundespräsidentschaft abgesehen, war er 1867–75 Chef des Militärdepartements, 1877 und 1878 des Post- und Telegraphen- und von 1879 bis 1891 des Post- und Eisenbahndepartements, mit Ausnahme von 1881, wo er dem Justiz- und Polizeiwesen vorstand.

Von jeher war W. ein eifriger Soldat gewesen. Seit 1861 war er Oberstlieutenant im Generalstab und hatte schon in der Bundesversammlung als Berichterstatter von Commissionen in Militärfragen eine gewichtige Stimme gehabt, so auch bei der 1866 beschlossenen Neubewaffnung der schweizerischen Armee mit Hinterladern. Nun hatte er als Chef des Militärdepartements diese Neubewaffnung durchzuführen und verschaffte der eidgenössischen Armee im Vetterligewehr die beste damals bekannte Waffe; aber damit war nach seiner Ansicht noch lange nicht genug für ihre Feldtüchtigkeit gethan. Die Zusammensetzung des Bundesheeres aus den kantonalen Contingenten, die weitgehenden Befugnisse überhaupt, die den 25 Kantonen und Halbkantonen im Militärwesen geblieben waren, zogen schwere Uebelstände nach sich, denen nur eine Aenderung der Bundesverfassung abhelfen konnte. Ohne diese Bundesrevision abzuwarten, legte W. Ende 1868 dem Bundesrath den Entwurf einer neuen Militärorganisation vor, der das Contingentsystem beseitigte, das Heer aus allen militärtauglichen Schweizern vom 20.–45. Altersjahr [379] bildete und den gesammten Militärunterricht in die Hand des Bundes legte. Der Entwurf fand in militärischen Kreisen freudige Zustimmung.

Wie W. der Centralisation des Militärwesens Bahn brach, so gehörte er auch zu den Vorkämpfern der Rechtseinheit, die er nicht nur als eine praktische Nothwendigkeit, sondern vor allem als ein starkes nationales Bindemittel betrachtete. Auf seine Anregung hin richtete der schweizerische Juristenverein im September 1868 eine Petition an die Bundesversammlung im Sinne der Vereinheitlichung des Civilrechts, und im December 1869 bewog W. durch eine Besprechung mit den Führern des liberalen Centrums und der radicalen Linken in der Bundesversammlung diese zu einem Beschluß, der den Bundesrath zur Begutachtung der Frage einlud, in welcher Weise die Bundesverfassung zu revidiren sei, um sie mit den Zeitbedürfnissen in Einklang zu bringen.

Als W. in dieser Weise die Bundesrevision in Fluß brachte, war er bereits zum ersten Mal Bundespräsident. Er benutzte seine Stellung, um das große Werk der Gotthardbahn zum Abschluß zu bringen. W. war seit langem ein eifriger Freund und Förderer des Gotthardunternehmens, das ihm von allen Alpenbahnprojecten das beste schien, nicht nur, weil es den wirthschaftlichen Interessen der meisten Kantone diente, sondern auch, weil das politisch-militärische Interesse der Schweiz erforderte, daß der Alpentunnel nicht auf fremdem Boden ausmünde und daß der Tessin in enge Verbindung mit der übrigen Schweiz gebracht werde. Da das Eisenbahnwesen damals gesetzlich den Kantonen und der Privatthätigkeit überlassen war, galt es als ein Axiom, daß der Bund sich zu den verschiedenen sich bekämpfenden Alpenbahnprojecten vollkommen neutral zu verhalten habe. W. aber begriff nicht, daß die Schweiz in solchen Lebensfragen „passiv und sprachlos“ dastehen solle; schon 1865 hatte er durch eine Motion im Ständerath den Bundesrath zu einer entschiedenen Stellungnahme zu bewegen gesucht, aber ohne Erfolg. Als er in den Bundesrath trat, drängte er diesen im Einverständniß mit Alfred Escher, dem Haupte der Gotthardvereinigung (siehe d. Artikel A. D. B. XLVIII, 415), zu Unterhandlungen mit Italien und den deutschen Staaten. Allein die ausländischen Regierungen wollten nicht eintreten, bis der schweizerische Bundesrath ein bestimmtes Project vorlege, was diesem wiederum bei seiner staatsrechtlichen Stellung unmöglich war. Noch im Februar 1869 gab der preußische Handelsminister im Abgeordnetenhause die Erklärung ab, daß die Regierung so lange nichts thun könne, als in der Schweiz selbst nicht eine Verständigung über die Wahl des Passes erfolge. Als Bundespräsident suchte nun W. durch die Vertreter Italiens und Preußens in Bern, Ritter Melegarsi und General v. Röder, den beiden Nachbarregierungen begreiflich zu machen, daß die Entscheidung von ihnen herbeigeführt werden müsse durch die Erklärung, daß sie bereit seien, mit der Schweiz über einen Alpendurchstich in Unterhandlungen zu treten, daß sie aber eine allfällige Subvention nur dem Gotthard zuwenden könnten; damit würden alle andern Projecte sofort verschwinden und der Bundesrath in die Lage versetzt, in der Sache activ aufzutreten, da nach der Bundesverfassung er allein zu Unterhandlungen über Propositionen des Auslands befugt sei. Es gelang W., sowohl den italienischen Ministerpräsidenten Menabrea als Bismarck von der Nothwendigkeit eines solchen Schrittes zu überzeugen. Am 31. März 1869 erfolgten die übereinstimmenden Erklärungen Italiens und des Norddeutschen Bundes an den schweizerischen Bundesrath zu Gunsten des Gotthard. Jetzt konnte der Bundesrath aus seiner Zurückhaltung heraustreten. Vom 15. September bis 15. October stellte die von W. vorbereitete und von ihm präsidirte internationale Conferenz [380] in Bern das Bauprogramm, die Kostensumme und die Art der Beschaffung der Geldmittel fest. Sofort nach Schluß der Conferenz am 15. October wurde zwischen der Schweiz und Italien ein Vertrag über das Gotthardunternehmen abgeschlossen, dem der Norddeutsche Bund am 20. Juni 1870 und das Deutsche Reich am 20. October 1871 beitrat.

Während des deutsch-französischen Krieges fielen W. als dem Chef des Militärdepartements aus der umfangreichen Grenzbesetzung und dem Uebertritt der Bourbakiarmee schwere Aufgaben zu, und die dabei im Heerwesen klar zu Tage getretenen Mängel befestigten in ihm die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der geplanten Reformen. Ueberhaupt drang unter dem Eindruck der gewaltigen Weltereignisse die Meinung in immer weitere Kreise, daß die Schweiz einer strammeren Zusammenfassung ihrer Kräfte bedürfe, wenn sie ihre Stellung im europäischen Staatensystem behaupten wolle. Während der Bundesrath vor dem Krieg eine Beschränkung der Revision der Bundesverfassung auf 13 Punkte vorgeschlagen hatte, beschlossen jetzt die von den gesetzgebenden Räthen bestellten Commissionen, bei jedem einzelnen Artikel zu untersuchen, ob er der Revision bedürfe, und gelangten dadurch zu einer Totalrevision. Im Gegensatz zu dem bisher einflußreichsten Mitglied des Bundesraths, Jakob Dubs, der keine so weit gehende Verfassungsänderung wollte, stellte sich W. und mit ihm die Mehrheit des Bundesrathes mit Entschiedenheit auf Seite der Revisionisten. W. war zwar kein doctrinärer Centralist um jeden Preis, was in den Kantonen lebensfähig war, wollte er pietätvoll erhalten; aber auf den Gebieten, wo nur der Bund stark genug war, das zu leisten, was das Bedürfniß der Zeit erforderte, da sollte er auch mit den nöthigen Competenzen ausgerüstet werden. So wurde W. bei den Berathungen der eidgenössischen Räthe über die Bundesrevision vom November 1871 bis März 1872 der eigentliche spiritus rector, dessen machtvolle Reden die Höhepunkte der Debatte bildeten. Während Dubs am 1. März 1872 seine Entlassung nahm, um an der Spitze der aus Welschschweizern und Ultramontanen zusammengeschweißten Föderalistenpartei die Revision in Wort und Schrift zu bekämpfen, war W. der führende Kopf im Bundesrath, der Vertrauensmann der Mehrheit in der Bundesversammlung und des halben Schweizervolkes geworden.

Als der Verfassungsentwurf, der die volle Militär- und Rechtseinheit forderte, in der Volksabstimmung vom 12. Mai 1872 mit 260 859 Nein gegen 255 606 Ja verworfen wurde, da gab W. in einer officiellen Rede, die er nach alter Uebung als Bundespräsident an dem im Juli stattfindenden eidgenössischen Schützenfeste zu Zürich hielt, unter brausendem Jubel die Losung zu sofortiger Wiederaufnahme der Revisionsarbeit aus: „Es kann nicht zu Grabe getragen werden, was die Hälfte des schweizerischen Volks mit Jubel anstrebte und was die andere Hälfte nur in der Form nicht wollte, in der wir es gebracht haben. Wir müssen unsere Bundesverfassung revidiren, weil wir nicht wollen sein ein getrenntes Volk von Welschen und Deutschen. Wenn wir diese Trennung fortbestehen lassen, so ist dies der Anfang vom Ende des Vaterlandes.“ In der That beschloß die Bundesversammlung schon am 21. December die Wiederaufnahme der Revision.

Als Bundespräsident von 1872 mußte W. auch der römischen Curie entgegentreten, die auf Betreiben des ehrgeizigen Genfer Stadtpfarrers Mermillod den Versuch machte, Genf gegen den Willen der Kantons- und Bundesregierung ein katholisches Bisthum aufzudrängen, um die calvinische Vergangenheit der Stadt auszulöschen. W. war kein Culturkämpfer, er vertheidigte stets die unbedingte individuelle Glaubensfreiheit, die völlige Trennung [381] der bürgerlichen Rechte und Pflichten vom religiösen Bekenntniß und wollte auch die Kirche in ihrem innern Leben frei gewähren lassen; aber ebenso fest und entschlossen trat er unberechtigten Anmaßungen derselben entgegen. In wiederholten Besprechungen erklärte er dem Nuntius Agnozzi, daß der Bundesrath niemals seine Einwilligung zur Errichtung eines Bisthums Genf noch zur Ernennung Mermillod’s zum apostolischen Vicar, was eine verhüllte Herstellung des Bisthums gewesen wäre, geben werde. Als trotzdem ein Breve vom 16. Januar 1873 Mermillod zum apostolischen Vicar von Genf ernannte, beschloß der Bundesrath dessen Ausweisung, und W. rechtfertigte die Maßregel im Nationalrath damit, daß Mermillod „sich zum Organ eines fremden Souveräns hergegeben habe, welcher sich herausnahm, gegen unsern erklärten Willen auf unserem Gebiete seinen eigenen Willen durchzusetzen“.

An den Berathungen über die Bundesrevision 1873/74, die den Entwurf von 1872 dahin abschwächten, daß ein Stück Militärhoheit noch den Kantonen verblieb und daß die Rechtseinheit auf gewisse Materien, wie das Obligationen- und Handelsrecht, das Concursrecht etc. beschränkt wurde, nahm W. wieder hervorragenden Antheil, so daß man ihn mitunter als den Vater der Bundesverfassung von 1874 bezeichnet hat. Der ultramontane v. Segesser sagt von ihm: „Welti hatte nun eine Stellung, wie sie keinem seiner Vorgänger noch angefallen war; im Bundesrath und in der Bundesversammlung war das Vertrauen, das ihm entgegenkam, und der Einfluß, den er übte, um so größer, als auch die Gegner ihn als ein gemäßigtes und vermittelndes Element betrachteten.“ Nachdem die neue Verfassung vom Volke am 19. April 1874 mit 340 199 gegen 198 013 Stimmen und von 141/2 Kantonen gegen 71/2 angenommen worden war, arbeitete W. nach den Grundsätzen derselben mit solcher Raschheit die neue Militärorganisation aus, daß der Bundesrath den Entwurf schon im Juni der Bundesversammlung überweisen konnte, die ihn mit etwelcher Reducirung der Dienstzeit am 13. November zum Gesetz erhob. Welti’s Militärorganisation brachte die strenge Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, verbesserten und verlängerten Unterricht für Mannschaft und Officiere, wozu der militärische Vorunterricht der Jugend den Grund legen sollte, ferner die Eintheilung des Heeres in territoriale Divisionen, zweckmäßige Organisation und Ausrüstung der einzelnen Truppenkörper, Neubildung des Sanitäts- und Verwaltungswesens, Bethätigung der Officiere bei der Heeresverwaltung etc., sie schuf mit einem Wort die Grundlage, auf denen das schweizerische Milizheer sich immer mehr aus der Sphäre des Dilettantismus herausgearbeitet hat.

Nachdem W. 1876 zum dritten Mal das Bundespräsidium bekleidet, übernahm er 1877 das Post- und Telegraphendepartement, mit dem 1879 das Eisenbahnwesen vereinigt wurde, und widmete nun seine Kraft vorwiegend den eidgenössischen Verkehrsanstalten. Mannichfache Reformen in der Verwaltung, ein neues Telegraphengesetz vom 22. Juni 1877, die Errichtung eines staatlichen Telephonnetzes durch den Bund seit 1880, ein neues Posttaxengesetz vom 26. Juni 1884, zwei Telephongesetze vom 26. und 27. Juni 1889, ein Gesetz über die Arbeitszeit beim Betrieb der Eisenbahnen und andern Transportanstalten bekundeten sein Organisationstalent auch auf diesen Gebieten. 1881 leitete er ausnahmsweise das Justiz- und Polizeidepartement und legte mit einer unter seiner Leitung tagenden Expertencommission die letzte Feile an das seit langem vorbereitete, am 14. Juni 1881 zum Gesetz erhobene schweizerische Obligationen- und Handelsrecht.

Seine Hauptkraft aber wendete W. in der zweiten Hälfte seiner Regierungsthätigkeit dem schweizerischen Eisenbahnwesen zu, dem er neue Wege [382] wies. In den Jahren 1876–78 trug er neben Alfred Escher das meiste zur Rettung des noch während des Baus mit dem finanziellen Ruin bedrohten Gotthardunternehmens bei und nahm als Bevollmächtigter des Bundesrathes an den internationalen Conferenzen theil, die 1877 in Luzern und Göschenen das Unternehmen reconstruirten und zu dem Zusatzvertrage zwischen der Schweiz, Italien und Deutschland vom 12. März 1878 führten. Als Bundespräsident von 1880 hatte er die Genugthuung, am 29. Februar an Kaiser Wilhelm und König Umberto die Depesche vom Durchschlag des Gotthardtunnels abzusenden, die von den beiden Souveränen mit lebhaften Glückwünschen erwidert wurde. 1886 leitete W. zwei von der Schweiz angeregte internationale Conferenzen, von denen die erste, 10.–15. Mai, eine Vereinbarung zwischen Deutschland, Frankreich, Italien, Oesterreich-Ungarn und der Schweiz über technische Einheit im Eisenbahnwesen schuf, die zweite, 5. bis 17. Juli, den Entwurf eines internationalen Eisenbahnfrachtrechtes endgültig feststellte. Am 14. October 1890 fand in Bern von Seiten Belgiens, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Oesterreich-Ungarns, Rußlands und der Schweiz die Unterzeichnung dieses „ersten Stückes internationalen Civilrechts“ statt, womit die Errichtung eines Centralamts in Bern verbunden wurde.

Im Gegensatz zu seinem Freunde Alfred Escher hatte W. schon im Beginn seiner staatsmännischen Laufbahn erklärt, daß „es auch eine Eidgenossenschaft in Eisenbahnsachen geben müsse“. Hatte er anfänglich geglaubt, daß das Interesse des Landes sich auf andern Wegen wahren lasse, so überzeugte er sich mehr und mehr von der Nothwendigkeit der Verstaatlichung der unter so viele Privatgesellschaften zersplitterten schweizerischen Eisenbahnen; die Besorgniß um die Landessicherheit wie um die volkswirthschaftliche Zukunft der Schweiz drängte ihn dazu. Zum ersten Mal mußte sich der Bund bis zum 1. Mai 1883 schlüssig machen, ob er von seinem in den Concessionen vorbehaltenen Rückkaufsrechte Gebrauch machen wolle. W. prüfte die Frage aufs gründlichste und kam zu dem Ergebniß, daß zur Zeit auf den Rückkauf nicht eingetreten werden könne, ohne den Bund großen finanziellen Gefahren auszusetzen. Da nach den Concessionen die Rückkaufssumme sich theils nach dem Anlagecapital, theils nach dem Reinertrag der Bahnen bemaß, W. aber berechnete, daß die verschiedenen Gesellschaften ihr Anlagecapital um mindestenes 85 Millionen übersetzt und auch im Verhältniß zum wirklichen Ertrag zu hohe Dividenden ausgerichtet hätten, suchte er zunächst durch ein vom 21. December 1888 datirtes Gesetz über das Rechnungswesen der Eisenbahnen, das in Börsen- und ähnlichen Kreisen großes Geschrei hervorrief, eine sichere Basis für den Rückkauf zu schaffen. Dann bemühte er sich, auf dem Wege freihändiger Erwerbung einzelner Linien die Verstaatlichung anzubahnen. Verhandlungen, die er 1887/88 mit der Nordostbahn führte, scheiterten; dagegen gelang ihm 1890/91 die Erwerbung von 77 000 Stück Actien der Jura-Simplonbahn und 1891 der Abschluß eines Vertrages, betreffend Ankauf der Centralbahn, des Stammstücks der schweizerischen Eisenbahnen. Die Bundesversammlung genehmigte den Kauf am 25. Juni. Aber nun wurde von conservativer Seite die Opposition gegen das Centralbahngeschäft organisirt, 91 698 Unterschriften begehrten das Referendum, und in der Volksabstimmung am 6. December wurde der Vertrag mit 289 406 gegen 130 729 Stimmen verworfen, indem zahlreiche Anhänger der Verstaatlichung gegen den Ankauf stimmten, weil sie den Preis zu hoch fanden.

Eine unerwartete Folge der Verwerfung war, daß W. angesichts der überwältigenden Volksmehrheit, die sich gegen seine Eisenbahnpolitik ausgesprochen [383] zu haben schien, glaubte, sich von seinem Posten zurückziehen zu sollen. Am 8. December 1891, genau 25 Jahre nach seiner Wahl in den Bundesrath, gab er seine Entlassung. Da die Schweiz keine Ministerkrisen kennt, erregte der Rücktritt des Bundespräsidenten gewaltiges Aufsehen, ja Bestürzung. Einstimmig beschlossen National- und Ständerath, Schritte zu thun, um W. zur Zurücknahme seiner Entlassung zu bewegen, und mit Ausnahme einiger ultramontaner Blätter sprach sich die Presse aller Parteien dahin aus, daß die Schweiz nicht wegen eines negativen Volksentscheides ihren bedeutendsten Staatsmann verlieren dürfe. Aber zu allgemeinem Bedauern beharrte W. bei seinem Entschluß, zu dem noch andere Motive ihn mitbestimmten. Er hatte die Genugthuung, daß sein Nachfolger im Eisenbahndepartement, Bundesrath Zemp, das von ihm begonnene Werk rüstig weiterführte, daß ein neues, schärferes Rechnungsgesetz am 1. November 1896 und schließlich ein Gesetz, das den Rückkauf der wichtigsten Linien durch den Bund festlegte, am 20. Februar 1898 vom Volke mit großer Mehrheit gutgeheißen wurden. Mit Neujahr 1901 war die Verstaatlichung des größten Theiles des schweizerischen Eisenbahnnetzes eine Thatsache.

W. war weit davon entfernt, sich nach seinem Rücktritt grollend und schmollend bei Seite zu stellen. Ein ihm angebotenes Nationalrathsmandat schlug er zwar aus, ebenso den ihm vom Bundesrath angebotenen Gesandtschaftsposten in Wien oder Rom oder die Stelle eines Directors des von ihm geschaffenen internationalen Eisenbahnamts. Dagegen nahm er das Ehrenamt eines Mitgliedes und Vicepräsidenten des schweizerischen Schulrathes, der die eidgenössische technische Hochschule in Zürich zu überwachen hat, sowie verschiedene vorübergehende Missionen des Bundesrathes an. So vermittelte er im Sommer 1892 zu Madrid den Abschluß eines Handelsvertrages mit Spanien und vertrat im März 1896 die Schweiz auf einer Conferenz in Paris zur Revision des internationalen Eisenbahnfrachtrechts. Welch lebendigen Antheil er fortwährend an den Geschicken seines Landes nahm, zeigte eine Rede, die er am 28. October 1894 unter freiem Himmel vor einer großen Volksversammlung in Bern gegen den „Beutezug“ hielt, d. h. gegen einen Versuch der Partikularisten aller Art, den Bund finanziell zu Gunsten der Kantone zu schwächen, der dann auch in der Volksabstimmung vom 4. November mit großer Mehrheit zurückgewiesen wurde. Anfangs 1898 stellten sich bei ihm Altersbeschwerden ein, die sich nach und nach verschlimmerten. Am 11. Februar 1899 verursachte ihm ein Fall eine Gehirnerschütterung, an deren Folgen er dreizehn Tage später starb.

In Welti paarte sich ein weiter Blick mit thatkräftiger Entschlossenheit, hohe Begabung mit seltener Arbeitskraft, classische Bildung mit adliger Gesinnung und strenger Pflichterfüllung. Selbst in untergeordneten Dingen bewährte er seine Treue im Kleinen; es kam vor, daß er als Mitglied der Aufsichtsbehörde des städtischen Gymnasiums in Bern in einzelnen Stunden abwesende Lehrer persönlich vertrat. Ein Meister des Worts, wurde er, wenn er in die Debatten eingriff, lautlos angehört; die gedankenreichen, formvollendeten Worte, die er als Bundespräsident 1876 bei der Feier der Schlacht von Murten und 1891 bei der Bundesfeier in Schwyz sprach, trugen die Bewunderung für seine Beredsamkeit ins Volk hinaus. Niemand haschte weniger nach der Gunst der Masse oder einer Partei; oft trat er in seinem scharf ausgeprägten Rechtssinn für Minderheiten ein, unbekümmert um ihre politische Richtung, und der Ausdehnung der modernen Volksrechte, des Referendums und der Initiative, stemmte er sich mit dem Mannesmuthe, der ihn auszeichnete, entgegen. Dennoch erfreute er sich bis zu seinem Tode der [384] größten Popularität; denn allgemein herrschte das Gefühl, daß die Schweiz in ihm einen Staatsmann im eigentlichen Sinne des Wortes besessen habe. Im Juli 1903 wurde ihm in Aarau ein Denkmal gesetzt.

J. Hunziker, Emil Welti im Aargau („Argovia“, 28. Band, Aarau 1900). – Hans Weber, Bundesrath Emil Welti, ein Lebensbild. Aarau 1903. – Derselbe, Nekrolog in Bettelheim’s Jahrbuch IV, 33.

[376] *) Zu Bd. XLVIII, S. 391.