ADB:Rochholz, Ernst Ludwig
Hermann, traulichen Familienanschluß und den Zugang zur besten Gesellschaft und zu allen Bildungsmitteln der frisch aufblühenden Residenz sicherten. R. war anfangs Jurist und hatte in diesem Fache seinen fränkischen Landsmann, den jungen Puchta zum Lehrer, daneben hörte er Philosophie bei Schelling, Philologie bei Thiersch und wendete sich mehr und mehr den historischen und germanistischen Fächern zu, mit der von dem Schwager bestärkten Absicht, in diesen die akademische Laufbahn zu betreten. Dem Erwerb einer methodischen wissenschaftlichen Schulung, wie er um die gleiche Zeit Kaspar Zeuß gelang, standen bei R. neben Mängeln der Anlage und Vorbildung seine früh entwickelten litterarischen Neigungen und bald genug auch eifrige politische Interessen im Wege. Seit 1829 hat er im „Morgenblatt“ und in anderen Zeitschriften Gedichte drucken lassen, und die poetische Form ist ihm bis an sein Lebensende das liebste und bequemste Ausdrucksmittel gewesen: zum breiten Bericht des Erlebten wie zum energischen Bekenntniß des Erstrebten; noch der 80jährige ließ eine Sammlung drucken u. d. T.: „Reichstreu – Denkfrei. Gedichte zu Schutz und Trutz aus der Schweiz“ (Leipzig 1889). Vers und Reim hat R., der als Gymnasiast schon die persönliche Bekanntschaft Rückert’s aufgesucht und als Student die freundliche Theilnahme Platen’s gefunden hatte, stets mit Leichtigkeit gehandhabt; an die Stelle von Ueberschwang und Schwulst seiner Jugendgedichte ist später Energie und Deutlichkeit getreten, aber seine Rhetorik blieb gleichwohl weitschweifig, und neben sprachlichen Härten stehen überall prosaische Ausdrücke und Wendungen.
Rochholz: Ernst Ludwig R., Mytholog und Sagenforscher, wurde am 4. März 1809 zu Ansbach als Sohn eines Juristen geboren und erhielt nach dem frühen Tode des Vaters (1815), nachdem ihn zunächst der Großvater mütterlicherseits, ein Forstmann, bei sich aufgenommen hatte, eine königliche Freistelle in dem Erziehungsinstitut, das mit dem Gymnasium zu Neuburg a. d. Donau verbunden war. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der junge Protestant hier, wo er, fast isolirt unter seinen Mitschülern, nur von katholischen Geistlichen unterrichtet ward, den Grund legte zu seiner tiefgehenden Abneigung gegen alles kirchliche Wesen und zu seiner Todfeindschaft gegen den Ultramontanismus. 1827 verließ R., der inzwischen auch die nach Baireuth verzogene Mutter verloren hatte, mit dem Reifezeugniß die Anstalt und bezog die Universität München, wo dem völlig Mittellosen seine älteste Schwester und ihr Gatte, der UniversitätsprofessorIn welcher Richtung und in welchem Umfang sich der Student R. in den Jahren 1832 und 1833 politisch bethätigt hat, ist auch seinem Biographen Hunziker nicht gelungen aufzuklären: zu den vielen Widersprüchen seines Wesens gehört auch die neben leidenschaftlicher Offenherzigkeit einhergehende Neigung, das eine und andere in seinem Handeln mit einem Schleier zu umziehen. Sicher ist, daß er am 26. Januar 1833 aus München ausgewiesen wurde, nachdem er bereits exmatriculirt war, und wahrscheinlich hat ein Spottgedicht auf König Ludwig I. dabei eine Rolle gespielt. Während er sich dann noch einige Monate, zuletzt unter einem Verstecknamen, auf bairischem Boden aufhielt, gerieth er in den gewiß unbegründeten Verdacht, mit dem Frankfurter April-Putsch in irgend einem Zusammenhang zu stehn, und flüchtete nun von Lindau hinüber auf Schweizer Boden. Seine Angehörigen und seine Münchener Gönner scheinen das Maaß seiner politischen Verfehlung stets als gering angesehen zu haben: Thiersch hat ihm Empfehlungen mitgegeben oder nachgesandt, Schelling und Platen haben nicht aufgehört sich für ihn zu interessiren – die bairischen Behörden aber verhielten sich jahrelang [416] spröde, und so war R. gezwungen, sich in der Schweiz eine Existenz zu gründen.
Am 9. Juni 1833 trat er – wohl durch seinen pädagogisch stark interessirten Schwager Hermann auf diese Bahn gelenkt – bei dem Fellenbergschen Erziehungesinstitut in Hofwyl als Lehrer des Deutschen ein; sein Chef wußte ihn überdies zur publicistischen Propaganda für seine Unternehmungen zu gewinnen, war aber mit dem enthusiastischen Stil des ersten Manuscriptes, das ihm R. übergab, wenig zufrieden und hat die „Gespräche über Emanuel von Fellenberg und seine Zeit“ erst – gegen den Willen des Autors – zum Druck befördert (Burgdorf 1834), als dieser mit ihm rasch und gründlich zerfallen war. Rochholz’ Verhalten in diesem Streit ist zum mindesten unbedacht gewesen und konnte ihm, da sich gleichzeitig die politischen Gegensätze verschärften, zeitweise den Vorwurf der Felonie zuziehen. 1834 und 1835 hielt sich R. in Bern auf, wo er eine Schulanthologie „Die Lieder der Jugend“ (1834) und einen ersten Versuch auf einem Gebiete veröffentlichte, das ihm später ganz anders vertraut ward: „Eidgenössische Liederchronik. Sammlung der ältesten und werthvollsten Schlacht-, Bundes- und Parteilieder vom Erlöschen der Zähringer bis zur Reformation“ (1835). Vom November 1835 bis Ende März 1836 gab er deutschen Unterricht am Gymnasium zu Biel, am 30. März 1836 ward er auf Grund einer Prüfung und Probelection, wobei Wilhelm Wackernagel und Ernst Götzinger als Fachgelehrte mitwirkten, zum Hauptlehrer der deutschen Sprache und Litteratur an der neuorganisirten Kantonsschule zu Aarau ernannt – als Nachfolger des der Opposition angehörigen Dichters Abraham Fröhlich! Es war nicht sein Lebenswunsch, in der Fremde und in dieser Stellung zu bleiben, in der ihm das politische Milieu ebensoviele Schwierigkeiten bereitete, wie sein persönliches Temperament. Er hing an seiner bairischen Heimath und hielt zäh an seinem bairischen Bürgerrecht fest bis zuletzt; lange hat er hinübergestrebt, besonders lebhaft im J. 1845, wo er sich um das erledigte Rectorat des Realgymnasiums in Nürnberg bewarb, zu einer Zeit, als neue Anfechtungen seiner Berufsthätigkeit in Aarau ein Ende zu bereiten drohten. Zu solchen gab er seinen Gegnern durch sein freimüthiges und gewiß nicht immer taktsicheres Verhalten gegenüber Schülern, Collegen und Behörden immer wieder Anlaß und Gelegenheit: bald richteten sie sich gegen seine Lehrweise, die leicht die Fassungskraft und die geistige Reife der Schüler überschätzte, bald gegen seinen kirchlichen Radicalismus, bald gegen die Hereinziehung seiner Forschungsgegenstände in den Unterricht – und den Boden, auf dem sie wuchsen, nährte der deutsche Patriot R. durch seine rückhaltlose Kritik der schweizerischen Verhältnisse und die Bestimmtheit, mit der er der Beurtheilung deutscher Zustände durch die Schweizer allezeit entgegentrat. Andererseits stand ihm die dankbare Gesinnung vieler Schüler zur Seite, die er früh zu geistiger Selbständigkeit erzogen, denen er den Charakter gestählt und in denen er, der Reichsdeutsche, die Liebe zur engern Heimath durch das hingebende Studium ihres Volksthums und Ahnenerbes gefestigt hatte.
Im April 1866 wurde R. mit einem angemessenen Ruhegehalt pensionirt – es geschah, um weiteren Aufregungen und einer nicht unwahrscheinlichen Erschütterung seiner amtlichen Position vorzubeugen. Die Jahre 1867 bis 1870 hat er in Biel zugebracht, dann ist er in das ihm zur Heimath gewordene Aarau zurückgekehrt, wo er im gleichen Jahre die Leitung des kantonalen Antiquariums übernahm – einen Katalog dieser Sammlung hat er 1879 herausgegeben. Mit begeisterter Antheilnahme hat er den nationalen Aufschwung und die Wiederaufrichtung des Reiches begrüßt und der Heimath [417] zugejubelt, die sich ihm früh verschlossen hatte. Als man ihn in den 70er Jahren an das Germanische Museum nach Nürnberg berufen wollte, fühlte er selbst, daß er dazu zu alt sei. Im J. 1884 verlieh ihm die philosophische Facultät zu Bern für seine Verdienste um die schweizerische Volkskunde die Doctorwürde. Im December 1890 konnte er mit seiner Gattin, die er einst bei Karl Mathy im Schulhause zu Grenchen kennen gelernt hatte, das Fest der goldenen Hochzeit begehn. Das letzte, was er zum Drucke brachte, ist eine größere Anzahl von politischen und satirischen Gedichten im „Kladderadatsch“ von 1890 (Nr. 42) bis 1892 (Nr. 8). Als den bis ans Ende unermüdlich Arbeitsamen ein Schlaganfall traf, brachte man ihn ins Kantonsspital, und dort ist er, 83jährig, in der Nacht vom 28. zum 29. November 1892 gestorben.
Rochholz’ umfangreiche belletristische, pädagogische und politische Production, die man in dem Verzeichniß bei Hunziker S. 41–54 gut überblicken kann, gehört großentheils dem Tage an und ist wohl durch Vielseitigkeit des Wissens und Tüchtigkeit der Gesinnung, aber durch keine besonderen schriftstellerischen Vorzüge ausgezeichnet. Er war ein zu knorriger Aristokrat, um sich jemals in die schweizerische Demokratie zu schicken, in die ihn harmlose Jugendverfehlungen hineingetrieben hatten, und er war zu sehr Gelehrter, um ein Volksschriftsteller zu werden, wie eifrig er auch zeitweise nach diesem Lorbeer gerungen hat. Und die Wissenschaft wieder ist so rasch über ihn hinausgeschritten, daß es heute schwer wird, seinen Büchern gerecht zu werden, für deren unmethodische Gelehrsamkeit uns keine Anmuth der Darstellung, kein Eigenreiz poetischer Empfindung entschädigt. Rochholz’ wissenschaftliches Specialgebiet ist die Erforschung deutscher Sage und Sitte auf dem Boden der Schweiz und insbesondere des Aargaus. Er hat sich für diese Dinge offenbar zeitig zu interessiren begonnen, und seine planmäßigen Sammlungen mögen in die ersten Aarauer Jahre zurückgehn. Daß er den deutschen Unterricht auf der breitesten Basis der Wissenschaft Jacob Grimm’s vom deutschen Volksthum aufzubauen strebte, zeigt schon sein Lesebuch für die höheren Schulen des Kantons Aargau: „Der neue Freidank. Geschichte der deutschen Nationalliteratur nach Sage, Religion, Poesie und Prosa“ (1838), und derselben Richtung diente noch einseitiger die bald angefochtene Publication „Tragemunt. Neue Kindergedichte in Räthselketten, Räthselsprüchen, Schwänken, Märchen, Erzählungen und Liedern“ (1851). Es war ein doppeltes Verhängniß für R., daß er an Volksdichtung und Volkssitte mit der Absicht herantrat, sie pädagogisch zu verwerthen, und daß er dann, als er versuchte, seinen Arbeiten auf diesem Gebiete wissenschaftlichen Charakter zu geben, nicht sowohl an die Grimms selbst als an J. W. Wolf und den jungen Mannhardt anknüpfte. Mit der Beisteuer zu der von diesen beiden herausgegebenen „Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde“ (1853–1859) setzt diese Seite von Rochholz’ Thätigkeit ein, nebenher gehen seine werthvollsten Publicationen: „Schweizersagen aus dem Aargau. Gesammelt und erläutert“, 2 Bde. (1856) und „Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz“ (1857). Namentlich der staunenswerthe Reichthum, den dieser letzte Band ausschüttete, trug dem glücklichen Sammler reichen Beifall ein und erweckte ihm so noch einmal die Hoffnung auf eine öffentliche Anerkennung von höchstberufener Stelle. Wenn aber schon in diesen Arbeiten die voreilige Ausdeutung unmethodisch erscheint und gerechte Bedenken auch gegen die Zuverlässigkeit des mitgetheilten Stoffes wachruft, so wachsen diese Bedenken gegenüber der mythologischen Verwerthung von Sage, Sitte und Wortschatz, der kritiklosen Werthung [418] der verschiedenartigsten Zeugnisse und den grammatikalischen Ungeheuerlichkeiten, welche die Aufsätze der Folgezeit in der „Germania“ und andern Zeitschriften aufweisen, jene Aufsätze, die R. dann, um einige neue vermehrt, zu einem zweibändigen Werke „Deutscher Glaube und Brauch im Spiegel heidnischer Vorzeit“ (1867) zusammenfaßte. Wenn man da etwa liest, daß „der Meeresgot Hlê sich in die Schattengöttin Hel umgestellt hat“ und wie damit das „Lebermeer“, die „Laube“ und die Ortsnamen auf „–leben“ zusammengebracht werden nebst hundert anderen weitabliegenden Dingen, oder wenn der Verfasser von der harmlos drastischen Redensart „Der Tod hat ihn am Bendel“ gleich auf den altindischen Todesgott Yama und andererseits auf einen Luther’schen Liedvers „Der Strick ist entzwei, und wir sind frei“ geführt wird, dann sieht man, wie treffend Wilhelm Wackernagel schon am 24. März 1836 über seinen Prüfling R. geurtheilt hatte, als er sein Studium der deutschen Sprache und Litteratur „mit Liebe ergriffen und mit Geist verfolgt, aber unsystematisch“ nannte und den Gegensatz hervorhob zwischen „seiner sehr richtigen (kritischen) Beurtheilung der Richtungen der neueren Sprachforscher“ und der „mangelnden Klarheit und Festigkeit seiner Ausführungen aus der Grammatik“ (Hunziker S. 20). – Ein ähnliches scharfes Urtheil muß auch die Schrift „Drei Gaugöttinen, Walburg, Verena und Gertrud als deutsche Kirchenheilige“ (1870) treffen.
In den 70er Jahren beschränkte R., der 1859 zu den Begründern der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau gehört hatte, bis 1871 Mitredacteur und von da bis 1887 alleiniger Redacteur der „Argovia“ gewesen ist und zu ihr eine Fülle von rechts-, cultur- und sprachgeschichtlichen Beiträgen geliefert hat, den Kreis seiner Sagenforschung auf gewisse Erzeugnisse der historischen Phantasie, die für seine schweizerische Adoptivheimath ein hervorragendes Interesse haben. In je zwei Publicationen hat er die Legende vom Bruder Klaus und die Sage von Tell und Geßler behandelt: „Die Schweizerlegende vom Bruder Klaus von Flüe nach ihren geschichtlichen Quellen und politischen Folgen“ (1873) fand ihre Ergänzung in der Schrift: „Documente aus Bruder Klaus’ politischer Wirksamkeit“ (1875), und der Monographie über „Tell und Geßler in Sage und Geschichte. Nach urkundlichen Quellen“ folgte im gleichen Jahre (1877) „Die Aargauer Geßler in Urkunden von 1250–1513“. Mit der letzten Arbeit ist er bei einer rein historischen Darlegung angelangt. Auch in den vorausgehenden Büchern hat die gegebene Begrenzung der Vorwürfe günstig gewirkt, obwohl sich hier weder der Mythologe von Beruf noch der stramme Kirchenfeind verleugnet und R. zu einer klaren Auffassung historischer Vorgänge und Zustände und zu einem gerechten Urtheil über geschichtliche Persönlichkeit auch hier nicht durchdringt.
Zur Mythologie und zum Cultus der heidnischen Vorzeit zog es ihn immer wieder mächtig hin. In 26 handschriftlichen Quartbänden umfaßt sein Nachlaß als „Ahnenerbe“, was er in mehr als 50jähriger Arbeit für „Geschichte, Sprache, Satzung, Sitte und Sage der deutschen Schweiz, zunächst des Aargaus“ aus urkundlichen Quellen aller Art zusammengebracht hatte. Von Arbeiten, die R. nicht schon vorher im Druck verwerthet hat, scheint darin am weitesten gediehen ein auf drei Bände und eine Bildermappe berechnetes Werk „Das deutsche Gebildbrod“, zu dem er 1885 bereits einen „Prospektus“ ausgehn ließ. Es würde alle Vorzüge und alle Mängel seiner Arbeitsweise besonders drastisch aufgewiesen haben: ein ungeheures Material, aber schwer controlirbar und in einer durchaus einseitigen Richtung auf Glauben und Brauch der heidnischen Vorzeit ausgedeutet und verarbeitet.
- J. Hunziker, Ernst Ludwig Rochholz, in der Beilage zum Programm [419] der Aargauischen Kantonsschule f. d. Schuljahr 1892/93 (Aarau 1893). – W. F. v. Mülinen im Anzeiger f. schweiz. Geschichte 6, 529 f.