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ADB:Werner, Gustav

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Artikel „Werner, Gustav“ von Theodor Schott in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 42 (1897), S. 50–56, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Werner,_Gustav&oldid=- (Version vom 12. Oktober 2024, 10:50 Uhr UTC)
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Werner: Gustav W., evangelischer Theologe, Reiseprediger und hochverdienter Gründer der unter seinem Namen bekannten gemeinnützigen Anstalten (Wernerische Stiftung) in Reutlingen, geboren am 12. März 1809 in Zwiefalten (Württemberg), wo sein Vater, Johs. W. Finanzbeamter war, † in Reutlingen am 2. August 1887, ist eine der eigenthümlichsten Erscheinungen des schwäbischen Stammes in diesem Jahrhundert. Von seinen Ahnen, unbemittelten Handwerkern, besonders von seinem energischen, sehr gebildeten und strebsamen Vater, welcher später hohe Staatsämter bekleidete, erbte W. die zähe Beharrlichkeit, die ausdauernde Kraft und den einfachen genügsamen Sinn, der für sich bedürfnißlos ist, gegen andere aber von Wohlwollen und Menschenfreundlichkeit überfließt, sowie den Trieb zu nie rastender Thätigkeit; auch eine schöne musikalische Gabe war auf ihn, den ältesten einer zahlreichen Geschwisterschar, übergegangen; von seiner Mutter Friederike Christiane geb. Fischer ist weniger bekannt; vielleicht ist ihr Einfluß in dem zarten Gemüth des feinorganisirten, schüchternen und in sich gekehrten, wohlbegabten Knaben zu finden. Zum Geistlichen bestimmt durchlief er die gewöhnlichen Bildungsanstalten der württembergischen Theologen, das niedere Seminar in Maulbronn und das höhere in Tübingen (1823–32). Durch hervorragende wissenschaftliche Tüchtigkeit zeichnete er sich in keinem von beiden aus, das Studium der Philosophie, besonders der Hegel’schen zog ihn gar nicht an, um so mehr Swedenborg, dessen Schriften er durch den Bibliothekar Tafel und den Justizrath Hofacker kennen lernte. Der mystische Inhalt der neuen Offenbarung fesselte W. sehr, zum großen Leidwesen seines [51] Vaters, dessen rationalistische einfache Frömmigkeit allerdings in ziemlichem Gegensatze dazu stand und der einen schlimmen Einfluß auf die religiöse Entwicklung seines Sohnes befürchtete. Diese Befürchtung ging glücklicherweise nicht in Erfüllung, W. hat sich den specifisch theosophischen Lehren Swedenborg’s nie hingegeben, so wenig als er dem spiritualistischen Treiben eines Eschenmayer oder Justinus Kerner huldigte; jedoch hat er stets auch in vorgerückten Jahren gerne Swedenborg’s Schriften gelesen und sich an ihnen erbaut, und ein Sauerteig swedenborgischer Ansichten ist doch in seiner theologischen Anschauung zu erkennen, besonders in der Erwartung einer neuen durch Gottes Gerichte eingeleiteten Weltentwicklung, welche W. gern die johanneische, das Zeitalter der Liebe nannte. Allerdings hat W. nie eine eigentlich systematische Darstellung seiner Lehre gegeben, sie war wohl auch nie streng ausgebildet, mehr hervor trat der Gegensatz gegen einige kirchliche Lehren, sowie das Ueberwiegen der praktischen Thätigkeit mit den auf diese hinzielenden theologischen Grundsätzen. Auch die Baur’sche Richtung, in deren Anfangszeit Werner’s Studienjahre fielen, hatte keine Einwirkung auf ihn, er blieb stets positiv bibelgläubig, fragte auch gern nach Herrnhutischer Weise das Loos der Bibel. Herbst 1832 ging er nach Straßburg, arbeitete an einer neuen Uebersetzung der Bibel, nahm auch eine Zeit lang eine Lehrerstelle an dem Cuvier’schen Institute an; dem Einflusse Hofacker’s, der ihn ganz für Swedenborg gewinnen wollte, wäre er beinahe unterlegen; die Warnungen seiner Eltern bewahrten ihn davor, ebenso vor dem Entschlusse, nach Wiesbaden zu gehen und die auf der dortigen Bibliothek befindlichen Reden der h. Hildegard herauszugeben. Diesem unsichern Hin- und Herschwanken, welches sich auch in dem eigenthümlichen Buche: „Er bei uns. Durch Annchen Lineweg von St. Gallen“ 1839 (den nachgeschriebenen Reden einer Somnambule Namens Wegelin) zeigte, ging eine andere fruchtbare Anregung zur Seite, welche den jungen Mann endlich auf den Weg führte, in welchem er seine bedeutende Begabung geltend machen konnte. In dem Hause Wegelin’s wurde er mit den Bestrebungen und Erfolgen Oberlin’s, des trefflichen Pfarrers im Steinthal, bekannt (s. A. D. B. XXIV, 99); was der fromme Mann mit seinen uneigennützigen Anstalten durch Gottes- und Menschenliebe gewirkt hatte, machte einen unauslöschlichen Eindruck auf W., der schon im Freundeskreise von Maulbronn Beweise der aufopferndsten Liebe gegeben hatte; dem tief in ihm liegenden Bestreben, nichts gewöhnliches, alltägliches zu leisten, war die rechte Bahn gewiesen.

Anfang des Jahres 1834 kehrte W. in die Heimath zurück und Juni desselben Jahres wurde er Vicar in Walddorf bei Tübingen. Seine ganze Kraft widmete er der großen Gemeinde mit ihren Filialen; seine klaren, einfachen aber eindringlichen Predigten wurden sehr gern gehört und bald in Abschriften verbreitet, sein ernstes Dringen auf Buße, wobei er sich den Propheten Jeremia zum Vorbild nahm, blieb nicht ohne Eindruck und Erfolg. Besonders gern widmete er sich der Kinderwelt, deren Herzen zu gewinnen er eine außerordentliche Begabung hatte, bald wandelte er auch in Oberlin’s Bahnen. Im October 1837 gründete er in seiner Gemeinde eine Kleinkinder- und Industrieschule, unterstützt von zwei einfachen, aber treuen, frommen Mädchen, dem „Bäsle“ und dem „Rosebäbele“. Die Verhältnisse lagen in dem württembergischen Walddorf ähnlich wie in dem elsässischen Steinthal; Werner’s Schulen waren Bedürfniß und wurden bald als große Wohlthaten empfunden, so daß ihm von vielen Seiten her, auch von auswärts, Gaben zuflossen und er ebensolche Schulen in einem Filial ins Leben rufen konnte. Schon damals leitete ihn der Gedanke, dem Ganzen den Charakter einer christlichen Familie zu geben und zu bewahren, und noch mehr wurde er in dieser Anschauung bestärkt und in weitere Liebesthätigkeit [52] hineingeführt, als er im August 1838 am Grabe einer armen Taglöhnersfrau, welche sechs Waisen hinterließ, das zweijährige verwaiste Töchterlein, welches „ihn gar so lieb angeschaut hatte“, als Pflegekind annahm und für dasselbe sorgte; es war der Erstling einer beinahe zahllosen Schaar von Kindern, welche sich in dem Laufe eines halben Jahrhunderts um den „Vater Werner“ sammelte. Ebenfalls damals schon wurde W., dessen Predigt- und Liebesthätigkeit vielfach Aufmerksamkeit erregt und Anklang gefunden hatte, häufig aufgefordert, Erbauungsstunden (Zirkel nannte er es) auswärts (Reutlingen, Stuttgart u. sonst) zu halten; der Ernst seiner Worte, die Innigkeit seines Gemüthes trugen dazu ebensoviel bei, als seine natürliche Rednergabe und die helle volltönende Stimme. Bald aber erhoben sich mißgünstige, gehässige Stimmen, besonders von den Pietisten (Gemeinschaften) ausgehend; infolge davon verbot das Consistorium, welches gegen den „musterhaften“, wegen seiner Liebesthätigkeit sehr belobten Vicar nicht ungünstig gesinnt war, nach den bestehenden Verordnungen ihm das Halten von Privaterbauungsstunden. W., der in seiner religiösen Freiheit und Wirksamkeit nicht beschränkt sein wollte, legte am 3. December 1839 seine Kirchenstelle nieder, um in Reutlingen ein Erziehungsinstitut zu gründen. Am 14. Februar 1840 zog er mit dem Bäsle und zehn Pflegekindern in Reutlingen ein, beinahe ganz mittellos, aber getragen von einem unerschütterlichen Gottvertrauen und fest entschlossen, durch keine Bedenklichkeiten einer kaltherzigen Schicklichkeit oder durch die Angst vor etwas Ungewöhnlichem in seinen Plänen sich stören zu lassen. Reutlingen, die gewerbfleißige Stadt am Fuße der Achalm, wurde von da an der Hauptsitz seiner Wirksamkeit, das Mutterhaus seiner Anstalten; gerade die sogenannten „Reutlinger Artikel“ wurden mit Eifer gepflegt, die Zahl der von ihm angenommenen verwahrlosten und armen Kinder nahm stetig zu, sodaß er im J. 1842 schon ein Haus erwerben mußte und dies mit Hülfe der Beiträge konnte, die ein immer weiter sich ausdehnendes Bekanntwerden, auch in der Schweiz, im Elsaß, in Frankfurt und anderen Orten, stets reichlicher fließen machte. Um seinen Kindern eine rechte Heimath zu geben heirathete er am 8. November 1841 Albertine Zwißler, die Tochter eines Reutlinger Kaufmanns, und Vater und Mutter W., wie sie von den Anstaltskindern (eigene waren ihnen versagt) genannt wurden, gingen allen im Beispiele herzlicher Liebe, großer Einfachheit und Sparsamkeit voran; es war auch sein Grundsatz, seine Kinder im Gegensatz von den in andern Anstalten erzogenen an den gewöhnlichen Vorkommnissen, besonders an der Noth und den Sorgen des täglichen Lebens Antheil nehmen zu lassen. Sein früher ziemlich schwächlicher Körper hatte sich sehr gekräftigt; bei seinem Reisepredigeramt muthete er sich große Wanderungen zu Fuß und sehr häufiges Reden zu, er vermochte die Anstrengungen großer Tagemärsche, mehrerer Versammlungen an einem Tage und die Arbeitslast und Sorge für das ganze Anwesen zu tragen. Im Jahr 1840 hatte er 10 Stationen in Württemberg. Es war begreiflich, daß diese in Schwaben bisher ungewohnte Art geistlicher Thätigkeit mannichfach Anstoß erregte, aufs neue entbrannte der Kampf mit den Pietisten, die durch den nicht ganz gerechten Vorwurf, daß ihr Glaube fast keine Früchte zeige, gereizt waren; in mehreren Anklageschriften (Barth, Warum nimmst Du den Swedenborgianismus nicht an? 1843; Vaihinger, Der Swedenborgianismus und seine neuesten Erscheinungen, 1843) wurde W. als Zugehöriger zu dieser Secte behandelt, was er entschieden läugnete. Durch Ministerialentscheidung vom 5. November 1841 war die Frage über seine Reisepredigerthätigkeit gelöst worden: die Erlaubniß zu seinen Versammlungen hatte der Ortskirchenconvent zu geben; daß damit einer ziemlichen Willkürlichkeit freier Spielraum gelassen war, lag bei der verschiedenen Stellung, welche die evangelische Geistlichkeit zu W. einnahm, auf [53] der Hand. Denn es fehlte ihm auch nicht an warmer Anerkennung von dieser Seite (vgl. die Schrift v. H. Werner „Drei Tage im Hause G. Werner’s“ 1843); die volle Versammlungsfreiheit brachte ihm dann das Jahr 1848. In keiner Weise betheiligte er sich damals an der politischen Bewegung, wohl aber erkannte er mehr als viele andere die drohende sociale Gefahr, welche sich damals zum ersten Mal zeigte; ihr in seiner Weise zu begegnen, war von dort an Werner’s eifriges Bemühen. Die Nothzeiten am Anfang der fünfziger Jahre, hervorgerufen durch Mißwachs und Geschäftsstockung, mit dem Elend und der Verarmung, welche sie über weite Kreise der ländlichen und gewerblichen Bevölkerung brachten, spornten W., der ein scharfes Auge für das Unglück in allen Formen hatte, zu eifrigster Thätigkeit an; er wagte den kühnen Versuch, Industrie und Landwirthschaft zur Versorgung verwahrloster, geistig, sittlich und körperlich verkommener Menschen in christlichem Geiste dienstbar zu machen, diese Leute und wer sonst in seine Gemeinschaft eintrat, in einem vom Geiste der christlichen Liebe beseelten Organismus zu vereinigen und jeden nach dem Maß seiner Kräfte, mochten sie groß oder klein sein, zu verwenden. Im Frühjahr 1850 kaufte er eine Papiermühle in Reutlingen, am 7. Mai 1851 wurde sie eröffnet; im Anfang des Jahres 1854 gründete er seine erste Filialanstalt durch Erwerbung eines Anwesenes in Fluorn, bald reihten sich andere daran in verschiedenen Gegenden Württembergs; im J. 1860 betrug ihre Zahl 20, in welchen neben Landwirthschaft verschiedene Gewerbe (Sattlerei, Schneiderei, Buchbinderei u. a.) getrieben wurden, selbst eine mechanische Werkstätte mit Graveur- und Silbergeschäft war damit verbunden. 1748 Personen, darunter sehr viele Verkrüppelte, Kränkliche und Kinder waren darin beschäftigt, 1282 Morgen Güter besaß die Gemeinschaft im J. 1862. Die Mittel dazu waren W. hauptsächlich durch freiwillige Gaben zugekommen; die Seele des Ganzen, das Haupt dieser patriarchalischen, christlichen Gemeinschaft war W., auf ihm lastete die Hauptsorge und die Verantwortlichkeit des Unternehmens, welches sehr in die Größe gewachsen war. Auch nach einer andern Seite hatte sich Werner’s Stellung verändert; im November 1849 reichte die Diöcese Eßlingen eine Eingabe an die Oberkirchenbehörde ein mit der Aufforderung, W. zu veranlassen, über seine Stellung zu der Augsburgischen Confession sich auszusprechen. Es war eine unnöthige Provocation Werner’s, der in seinen Predigten die dogmatischen Punkte, in welchen er von der Kirchenlehre abwich, zu vermeiden pflegte. Verschärft wurde dieser Angriff durch die indiscrete Veröffentlichung von Werner’s Erklärung an das Consistorium mit Beisätzen, welche Werner’s Lehre sehr verdächtigten. Hierauf gab er am 2. Februar 1851 eine officielle Erklärung ab, in welcher er die Anerkennung der Verpflichtung für den evangelischen Geistlichen Württembergs, sich keine Abweichungen von der evangelischen Lehre zu erlauben, verneinte und seine Abweichung von derselben in der Lehre von der Erbsünde, der Dreieinigkeit, dem Versöhnungstode Christi und der Rechtfertigung aussprach. Der Oberkirchenbehörde, welche stets eine große Mäßigung und Billigkeit gegen W. gezeigt hatte, blieb daraufhin nichts übrig, als ihn aus der Liste der Candidaten der Theologie zu streichen (31. März 1851). Es war ein schwerer Schlag für W., der seine Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche stets festhielt, und keine Ehre für die damals vielgeltenden pietistischen Kreise Württembergs. In richtiger Erkenntniß der Lage und seiner eigenen Kraft vermied W., eine Secte zu gründen, er und seine Anhänger blieben im Zusammenhang mit der Landeskirche und die folgende Zeit hat die Gegensätze sehr gemildert und W. die verdiente Anerkennung auch von Seiten solcher gebracht, welche dogmatisch und kirchlich mit ihm nicht auf demselben Boden standen. Seine Predigerthätigkeit setzte er fort, aber wegen der Fülle der anderen Arbeiten mußte er sie erheblich einschränken, seit 1854 widmete [54] er sich der Reisepredigt weniger, fliegende Blätter wie der „Friedensbote“ und die „Sendbriefe aus dem Mutterhause“, später die „Friedensblätter“ hielten seine Anhänger in religiöser Verbindung mit ihm.

Aber W. hatte sich mit seinen Unternehmungen eine Last aufgeladen, deren Bewältigung weder die Kraft eines einzelnen, noch seine technischen Kenntnisse, noch seine finanziellen Mittel gewachsen waren. Der Kauf der Papiermühle in Reutlingen erwies sich als unvortheilhaft und Verlust bringend, bei manchen Anhängern nahm die Begeisterung für ihn ab, sein Grundsatz, alle Personen aufzunehmen und zu beschäftigen, führte ihm manche unbrauchbaren Leute zu, für den Gewerbebetrieb fehlte es vielfach an technisch geschulten Kräften, ebenso an einer kaufmännischen Buchführung. Beinahe mit Naturnothwendigkeit wurde er in größere Unternehmungen hineingeführt, so besonders durch Bau und Einrichtung einer großartigen Papierfabrik in Dettingen (O./A. Urach.) Am Stephanstag 1861 wurde sie eingeweiht, aber die dazu aufgenommenen Gelder führten den Zusammenbruch herbei. Trotz vielfacher Anstrengungen seiner Schweizer und Frankfurter Freunde sah sich W., dessen Wechsel protestirt wurden und dem manche Kündigungen zukamen, genöthigt, am 23. November 1863 bei dem Oberamtsgericht Reutlingen den Concurs anzumelden, er übergab die Regelung der Schulden dem Gerichte. In einer öffentlichen Erklärung stellte er die Sachlage dar, seine Schuld in edlem Muthe keineswegs verschweigend, aber zugleich auch hervorhebend, wie er nur aus Liebe zu seinem Gott und Volk diese Werke unternommen habe. Es war ein entsetzlich schwerer Schlag für W., aber er trug denselben mit Demuth und Ergebung, und wenn die hohe Gestalt des Reisepredigers seitdem gebückt einherschritt, so war sein Vertrauen und seine Thatkraft nicht gebrochen; er täuschte sich auch nicht in dem Glauben an Hilfe. Diese kam von allen Seiten; in den weitesten Kreisen hatte die Erkenntniß von dem wohlthätigen Wirken Werner’s Wurzel gefaßt. Schon im December erschienen in den öffentlichen Blättern Aufrufe zu seinen Gunsten, ein Landescomitee bildete sich zu seiner Unterstützung, reichlich flossen die freiwilligen Beiträge, der Ertrag eines Bazars in Stuttgart, der vom königlichen Hause sehr beträchtlich gefördert wurde, fiel ihm zu, und endlich bewilligten die Landstände am 10. August 1865 eine Beisteuer von 50 000 fl. Ein Actienverein wurde gegründet, welcher die Werner’schen Anstalten übernahm, strenge Buch- und Kassenführung eingerichtet und die industriellen Geschäfte von der Verwaltung der Rettungshäuser getrennt; um die Pfandgläubiger zu befriedigen, wurden zehn entfernter gelegene Anstalten verkauft. In dem schwierigen Liquidationsproceß und bei der Neugründung nahm W. eine eigenthümliche Stellung ein; er besaß eine Actie im Werthe von 150 000 fl., war Mitvorstand des Actienvereins, aber doch in demselben sehr gebunden, während er allein andererseits das geistige Haupt der ganzen Gemeinschaft sein konnte und bleiben mußte. Diese lichtete sich in den Jahren der Bedrängniß sehr; es galt den treuen Rest zu sammeln und so kehrte W. in seinen älteren Tagen wieder mehr zu den Anfängen seiner Thätigkeit zurück, das Verwahrloste, Arme zu retten. Im J. 1870 waren sämmtliche Anstalten wieder unter seiner Hand und Leitung, der Actienverein, welcher noch fortbestand, unterstützte die Ausdehnung und den Ausbau derselben, sodaß z. B. in Reutlingen neben dem Bruderhaus ein Kinder- und Krankenhaus sich erheben konnte und eine Möbel- und Holzwaarenfabrik erbaut wurden; die Dettinger Papierfabrik lieferte reiche Erträgnisse und da der Actienverein nicht gegründet war, um gute Dividende zu erzielen, so kamen dieselben den übrigen Anstalten zu Gute. So wurde die schwere Krisis überstanden, die späteren Jahre haben dem Unternehmen keinen Schaden gebracht und um alles in seinem Geiste zu erhalten, errichtete W. am 30. März 1881 die Stiftung zum Bruderhaus, [55] um das geistige und leibliche Wohl der Nebenmenschen zu fördern, den Armen und Verlassenen eine Heimath zu schaffen und diese im Geiste christlicher Bruderliebe zu verwalten; ihr ganzes Vermögen schrieben er und seine Frau derselben zu. Am 1. Mai 1887 betrug der Personenstand 1002 Pfleglinge, darunter 253 Nichtwürttemberger.

So gestaltete sich der Lebensabend Werner’s schön und friedvoll; die verdiente Anerkennung wurde ihm von allen Seiten zu Theil, voran ging das königliche Haus; schon 1860 hatte König Wilhelm I. die Anstalten besucht und sein warmes Interesse ausgesprochen, König Karl und Königin Olga folgten diesem Beispiele; als W. im November 1883 schwer erkrankte, war die Theilnahme, die Frage nach seinem Befinden eine außerordentliche, 1884 ernannten ihn die Reutlinger zum Ehrenbürger ihrer Stadt. Auch das Verhältniß zur evangelischen Geistlichkeit hatte sich völlig geändert, der Pietismus hatte seine frühere Macht verloren und die Anschauung war überhaupt eine freiere unbefangene geworden. „Innere Mission“ war ein Schlagwort der Zeit und wenn W. auch eine zurückhaltende, schüchterne Schwabennatur besaß, nie an solchen Versammlungen und Congressen Theil nahm, weil sein praktischer Sinn Thaten sehen wollte, so hatte er doch Beziehungen zu Wichern und es durfte ihn mit Genugthuung erfüllen, wenn die jungen Theologen von dem benachbarten Tübingen nach Reutlingen kamen, um seine Anstalten zu besuchen, ihn kennen zu lernen und in Vielem zum Vorbild zu nehmen. Ein Versuch jedoch, der im J. 1880 von befreundeter Seite gemacht wurde, den Consistorialbeschluß von 1851 wieder rückgängig zu machen und Werner wieder mit allen Ehren in den geistlichen Stand einzusetzen, scheiterte aus verschiedenen Gründen. Aufmerksam, mit warmer Theilnahme verfolgte der sein Vaterland innig liebende Mann die großen Ereignisse der Zeit; schwer trug er an dem Bruderkampf im J. 1866, aber mit hoher Freude begrüßte er die Erfolge des Jahres 1870, die heiligen Zeichen einer neuen Zeit, den Eintritt Württembergs in den Norddeutschen Bund. In das eroberte Straßburg führte er einen Wagen mit Lebensmitteln beladen, um als Rückfracht eine Schar verwaister Kinder mitzunehmen, deren Zahl sich allmählich bis auf 80 erhöhte. Sein Bestreben zu der Versöhnung der Reichslande mit Altdeutschland beizutragen fand auf elsässischer Seite nicht durchaus die verdiente Würdigung, umgekehrt stimmte er mit ganzem Herzen der Socialpolitik zu, welche die Kaiserbotschaft vom 17. November 1881 eröffnete. Am 19. September 1882 starb nach langen Leiden Werner’s Frau, er selbst spürte die Beschwerden des nahenden Alters besonders in der Abnahme des Gehörs, und der Unermüdliche, welchem früher nur die Abwechslung in der Arbeit Erholung gewesen war, sehnte sich nach der ewigen Ruhe. Aber mit derselben Treue wie früher sorgte er für seine Pfleglinge, die Kinder, die Lehrlinge, die Krüppel und Armen; rührend und wahrheitsgetreu ist dies verewigt in dem schönen Bilde von R. Heck, welches W. darstellt ein zerlumptes kleines Mädchen auf dem Arme, seine Linke legt sich um die Schulter eines Knaben, ein Greis an der Krücke, ein Mädchen mit dem Strickstrumpf blicken dankbar und vertrauend zu der hohen Gestalt des Mannes empor, dessen Antlitz die edelste Menschenfreundlichkeit ausdrückt. Die andere Seite seines Wirkens, seine Thätigkeit als Reiseprediger hat Th. Schüz dargestellt, wie W. in einer Scheune stehend einer andächtigen Menge predigt. Am 12. März 1887 feierte er noch einmal im Kreise „seiner Familie“ seinen Geburtstag, von einer Reise in die Schweiz kehrte er angegriffen zurück, am Pfingstmontag besuchte er die Fabrik in Dettingen zum letzten Mal, dann konnte er das Bett nicht mehr verlassen. So lange – noch ein Fünklein Kraft in ihm war, hielt er von dort aus seine Ansprachen, bis er am 2. August 1887, Abends 7 Uhr sanft entschlief. Eine allgemeine [56] Theilnahme von den Höchsten bis zu den Niedersten hatte er während seines Krankseins zu erfahren, als ein Verlust nicht blos für seine Anstalten, sondern für das ganze Land wurde sein Tod angesehen. Eine hervorragende Erscheinung im Schwabenland ist dieser Mann gewesen, der ebenso eigenthümlich als bescheiden, ebenso thatkräftig als tiefsinnig, mit dem scharfen Blicke christlicher Liebe die Gebrechen seiner Zeit und seines Volkes erkannte und mit frommem Gottvertrauen sein Leben und seine Kraft einsetzte, um nach Kräften zu retten und zu helfen, eine Sonderstellung einnehmend in der Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit, wie in der der socialen Bewegung.

Schriftstellerisch ist W. eigentlich nicht hervorgetreten, abgesehen von dem oben erwähnten Buche; dagegen kamen Predigtsammlungen von ihm heraus und seine Reden, Vorträge und Ansprachen wurden wie erwähnt vielfach im Drucke verbreitet. Eine ausführliche und zusammenfassende Lebensbeschreibung hat sein Pflegesohn, P. Wurster herausgegeben: G. Werner’s Leben und Wirken nach meist ungedruckten Quellen 1888; vgl. sonst die angeführten Schriften von Barth und Vaihinger, den Art. von Schäffle: Ein Stück verunglückter Organisation der Arbeit in Schwaben, in Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, 22. 539 ff.; G. Werner und seine Anstalten in ihrer Stellung zur evangelischen Kirche 1864; die G. Werner’schen Rettungsanstalten in Reutlingen 1870, die Nekrologe im Schwäbischen Merkur 1887, 9. August; Allgemeine Zeitung 1887, Beil. N. 247 f. (Freihofer).