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ADB:Wessel, Johann Gansfort

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Artikel „Wessel, Johann“ von Adolf Brecher in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 42 (1897), S. 761–763, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wessel,_Johann_Gansfort&oldid=- (Version vom 4. Dezember 2024, 09:01 Uhr UTC)
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Wessel *): Johann W., vorreformatorischer Theolog und Humanist, mit dem Beinamen Gansfort oder Gösevort, nach dem westfälischen Dorfe, aus welchem seine Familie stammte, und Basilius, griechische Form für Wessel, geboren zu Gröningen 1400 oder, was wahrscheinlicher ist, 1419, † am 4. October 1489 ebenda. – Er war der Sohn eines Bäckers. Früh verwaist wurde er von einer Verwandten seiner Mutter, Namens Oda oder Odilia, zusammen mit ihrem Sohne erzogen und später auf die Schule nach Zwolle gethan. Diese, die die Verbindung mit den Brüdern des gemeinsamen Lebens auf dem in der Nähe gelegenen Agnetenberge von Anfang an bewahrt hatte, brachte W. in Berührung mit Thomas von Kempen, der damals als Mönch in jenem Kloster lebte. Wahrscheinlich haben diese Beziehungen auf seinen Geist wohlthätig eingewirkt, so daß W. frühzeitig sich derselben innerlichen Vertiefung und gläubigen Heilsverfassung zuwendete, welche wir bei Thomas wahrnehmen. Dennoch fehlte es ihm keineswegs an der Schärfe logischen Denkens und der Freude an dialektischen Kämpfen und Untersuchungen. – Obgleich er in Zwolle sehr bald ein Lehramt erhalten hatte, trieb ihn der Drang nach umfassenderer Bildung und der Wunsch sich in der Dialektik zu vervollkommnen, um durch sie an den Universitäten ruhmreiche Kämpfe zu bestehen, aus der Heimath zunächst nach Köln, wo er in der Bursa Laurentiana, die von einem seiner Landsleute gegründet worden war, Aufnahme fand. – Wieweit die damaligen Lehrer der Universität, die fast durchgängig dem Realismus huldigten, auf ihn eingewirkt haben, läßt sich mit Bestimmtheit nicht mehr nachweisen. Jedenfalls entschied sich W. für den Realismus und begann gleichzeitig die humanistischen Studien. Er betrieb Griechisch und Hebräisch, das letztere wahrscheinlich unter der Anleitung jüdischer Lehrer, und häufte aus Vorlesungen und Lectüre einen umfangreichen Wissensstoff auf, den er zu gelegentlichem Gebrauch bei Disputationen in einer Sammlung, die er mare magnum nannte, vereinigte. Bald erhielt er, von dem Beichtvater des Erzbischofs von Köln empfohlen, einen Ruf an die Universität Heidelberg. Er schlug ihn aber aus, weil er vorerst noch seine weitere wissenschaftliche Ausbildung vollenden wollte. Es zog ihn zu diesem Zwecke nach Paris, dem geistigen Mittelpunkte jener Zeit. Nach kurzem Aufenthalte in Löwen gelangte [762] er in die Seinestadt, wo eben der Kampf des Nominalismus gegen den Realismus auf das heftigste entbrannt war. Es gelüstete ihn, da er schon in der Heimath manchen Sieg erfochten hatte, sich an dem Kampfe gegen die Vertreter des Realismus, Heinrich von Zomeren und Nikolaus von Utrecht, seine Landsleute, zu betheiligen. Aber, indem er sich darauf vorbereitete, wurde er selbst völlig unerwartet zum Nominalismus bekehrt. Freilich eine Umwandlung seiner bisherigen theologischen Ueberzeugung hat dies nicht bewirkt. Seine Stellung zu Plato, Augustinus und der Scholastik bleibt wie bisher, aber immerhin darf man annehmen, daß ein Wechsel seiner kirchenpolitischen Anschauungen damit verbunden war. Die Nominalisten waren fast durchgängig antipäpstlich gesinnt und auch W. hat sich, nachdem er dem Realismus entsagt hatte, allmählich dieser Gesinnung zugewendet. Obgleich er ungefähr 16 Jahre in Paris blieb (Hardenberg), so hat er während dieses langen Zeitraumes weder ein Lehramt bekleidet, noch eine öffentliche Stellung inne gehabt. Sein alleiniger Zweck waren die Studien, die er dort, wie nirgendwo zu pflegen im Stande war. Er trieb sie nach mehrfachem Zeugnisse auf das gewissenhafteste. Daß er mitunter auch in größeren oder kleineren Kreisen gelehrt habe, ist wahrscheinlich. – Im J. 1470 finden wir W. in Rom, wohin ihn seine Freundschaft mit Cardinal Bessarion gezogen hatte. Eine Pfründe oder päpstliche Gnade suchte er nicht. Er wollte sich nicht binden. Darum hat er auch nie ein kirchliches Amt bekleidet und scheint der Uebertragung eines solchen mit aller Absicht aus dem Wege gegangen zu sein. Dadurch gewinnt die von Hardenberg erzählte Anecdote sehr an Wahrscheinlichkeit, daß er, als der Papst Sixtus IV. ihm erlaubte, sich eine Gunst zu erbitten, nicht um ein Bisthum, sondern um eine Handschrift des griechischen oder hebräischen Bibeltextes aus dem Vatican gebeten habe. Sie kennzeichnet jedenfalls seinen freieren kirchlichen Standpunkt, den er auch sonst und selbst einmal an der Tafel eines päpstlichen Hofbeamten nicht verleugnete. – Als er nach Paris zurückgekehrt war, widmete er sich, als die Lehre des Nominalismus verboten und er selbst, obgleich als magister contradictionum verschrieen, der ewigen Disputationen und Streitigkeiten überdrüssig geworden war, hauptsächlich der Unterstützung des Humanismus. Um in Ruhe zu leben, verließ er zuletzt auch Paris und ging nach Basel. Dort traf er Johann Reuchlin und Rudolf Agricola. Er unterhielt mit ihnen eine lebhafte wissenschaftliche Verbindung. Dann ging er über Heidelberg nach Köln und von da endlich nach seiner Heimath, in der er mit Bewunderung als lux mundi empfangen wurde. – Seine Erfahrungen über das, was er auf den Universitäten gesehen und erfahren hatte, faßte er in dem Urtheil zusammen: odiosa Deo magis sunt, non studia sacrarum literarum sed studiorum commixtae corruptiones. – Seine letzten Jahre verlebte er theils in Gröningen, theils auf dem Agnetenberge bei Zwolle unter dem Schutze seines Gönners, des Bischofs David von Utrecht. Denn seitdem man Männer, wie Wesel verfolgte (A. D. B. XXIX, 439), fühlte auch er sich nicht mehr sicher. Aber er blieb unangefochten bis an seinen Tod. – Sein Bekenntniß, das er auf dem Sterbebette aussprach: „Ich kenne Niemand als Jesum den Gekreuzigten“, kennzeichnet seine theologische Auffassung. Sein Glaube und seine Lehre, die sich wesentlich und immer ausgeprägter als biblische kundgaben, hat Luther mit Recht so bezeichnet: hic si mihi antea fuisset lectus, poterat hostibus meis videri Lutherus omnia ex Wesselo hausisse adeo spiritus utriusque conspirat in unum. Seine Freunde waren die gleichgesinnten Theologen und Humanisten Heinrich von Rees, Abt von Advert, Rudolf Lange, Johann Agricola, Hermann Busch u. A. m. Sein Leichnam wurde beigesetzt in der Kirche des Klosters zu Gröningen, in dem er so lange gelebt hatte.

Gegen seine Schriften wütheten nach seinem Tode die Bettelmönche. Sie [763] wurden zum Theil dem Feuer überliefert. Dennoch ist der größere Theil erhalten geblieben durch die Fürsorge des Rathsherrn Cornelius Hön (Honius) im Haag. Es sind Tractate über einzelne theologische Gegenstände. Luther, dem Hön die aufgefundenen Schriften zusandte, gab sie (eine Sammlung von Tractaten) mit einer Vorrede heraus 1522 als Farrago rerum theologicarum, bezw. als Farrago uberrima 1523. Eine Gesammtausgabe der Schriften erschien in Gröningen 1614. Vgl. hierzu Doedes in den Studien und Kritiken 1870, S. 407 ff.

Ueber sein Leben vgl. Muurling, Commentatio historico theologica de Wesseli Gansfortii cum vita tum meritis. Trajecti ad Rhenum 1831 und De Wesseli principiis atque virtutibus pars prior. Amstelod. 1830 und De Wesseli Gansfortii germani theologi principiis atque virutibus. Amstelod. 1840. – Ullmann, Johann Wessel, ein Vorgänger Luther’s. Hamburg 1834; in der zweiten Aufl. in den „Reformatoren vor der Reformation“. Hamburg 1841/2. – Gegen Ullmann schrieb von katholischer Seite: Friedrich, Johann Wessel, ein Bild der Kirchengeschichte des 15. Jahrh. Regensburg 1862. – Zu vergl. ist H. Schmidt in Herzog’s RE. XVI, 791–813.

[761] *) Zu S. 142.