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ADB:Reuchlin, Johannes

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Artikel „Reuchlin, Johann“ von Ludwig Geiger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 785–799, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reuchlin,_Johannes&oldid=- (Version vom 13. Dezember 2024, 02:53 Uhr UTC)
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Band 28 (1889), S. 785–799 (Quelle).
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Reuchlin *): Johann R., großer deutscher Gelehrter und Humanist, geboren am 22. Februar 1455 in Pforzheim, † am 30. Juni 1522. Der Knabe genoß in seiner Vaterstadt, wo der Vater Verwalter des Dominicanerstiftes war, den ersten Unterricht, bezog nach damaliger Sitte sehr früh (am 19. Mai 1470) die vor noch nicht zwei Jahrzehnten begründete Universität Freiburg, wo er mehr seine Gymnasialbildung vollendete, als ein eigentliches Studium begann und ging, weniger als Begleiter denn als Genosse des dritten Sohnes des Markgrafen von Baden, an dessen Hof er durch seine angenehme Stimme sich empfohlen hatte, nach Paris. Dort setzte er seine Studien in Philosophie, Grammatik und Rhetorik fort und begann in Gemeinschaft mit Rudolf Agricola das Studium des Griechischen. Von seinen Pariser Lehrern gewann der Theolog und Philosoph Joh. Heynlin vom Stein den größten Einfluß auf ihn, und setzte in Basel, wohin R. sich 1474 begab, diese Beeinflussung fort. R. wurde in Basel 1475 Baccalaureus, 1477 Magister. Der Baseler Aufenthalt wurde für den jugendlichen Magister von großer Bedeutung dadurch, daß er die in Paris angefangenen griechischen Studien bei Andronikus Contoblakas fortsetzte, nun aber in weit gründlicherer Weise betrieb, als er dies in Paris zu thun vermocht hatte. Die gesammelten Kenntnisse verwerthete der Jüngling alsbald durch Vorlesungen, welche er lernbegierigen Jünglingen hielt und durch schriftstellerische Arbeiten; freundschaftlichen Verkehr pflog er besonders mit dem Baseler Drucker Joh. Amorbach und mit Sebastian Brant. (5 Briefe an letzteren habe ich 1886 veröffentlicht.)

Trotz der ersten Lehr- und Schriftstellerversuche hielt sich R. nicht für fertig, sondern setzte seine griechischen Studien während eines zweiten Aufenthaltes in Paris fort und wandte sich nun einem Brodstudium, der Jurisprudenz, zu, das er sich auf zwei gleichfalls französischen Universitäten zu eigen zu machen suchte. 1479 wurde er zu Orleans Baccalaureus der Rechte, 1481 zu Poitiers Licentiat, war aber auf beiden Universitäten als Lehrer in den alten Sprachen thätig, während er in seiner Fachwissenschaft sich die nöthigen Kenntnisse anzueignen suchte. Ende 1481 erschien R. in Tübingen; als Sprachenkundiger, deren es damals verhältnismäßig Wenige gab, wurde er von dortigen Universitätslehrern [786] an Eberhard im Bart, Grafen von Wirtemberg empfohlen, und trat mit dem Genannten in stattlichem Gefolge Februar 1482 eine Reise nach Italien an. Diese Reise, welche nur wenige Monate währte, konnte, theils wegen ihrer kurzen Dauer, theils wegen der mannichfachen Obliegenheiten, welche der junge Gelehrte im Auftrage seines Fürsten zu erfüllen hatte, theils und besonders wegen seiner bereits anderweitig erworbenen Gelehrsamkeit, nicht die einschneidende Bedeutung für R. haben, wie die Romfahrt für andere damalige deutsche Humanisten. Trotzdem wurde sie wichtig für ihn, einerseits dadurch, daß sie ihn in persönliche Beziehungen zu Lorenzo von Medici und dessen Kreis brachte, andrerseits dadurch, daß sie seine Kenntnisse insbesondere des Griechischen erweiterte, ihm sogar durch das widerwillige Lob des Griechen Joh. Argyropulos ein ehrenvolles Zeugniß für sein Wissen einbrachte, endlich dadurch, daß sie ihm eine Anschauung der Stätten der Kunst- und Litteraturwerke des Alterthums verschaffte, die für seine innere Entwicklung nicht ohne Einfluß blieb.

Nach der Heimath zurückgekehrt, blieb R. in der Nähe des Grafen als dessen geheimer Rath, muß aber wol bald diese persönliche Stellung in der Umgebung desselben aufgegeben haben, denn er wurde Anwalt und 1484 Beisitzer am Hofgericht. Auf der Landesuniversität Tübingen muß er unmittelbar vor oder nach seiner ersten italienischen Reise die juristische Doctorwürde erworben haben, denn seitdem bezeichnete er sich in Briefen und Schriften stets als Legum doctor. Er legte auf diesen Titel großes Gewicht und führte ihn mit hohem Stolz, ganz im Gegensatz zu den Vertretern der jüngern Richtung, welche ihre Verachtung der akademischen Titel und Würden nicht deutlich genug an den Tag legen konnten. Bald nach der Rückkehr aus Italien verheirathete er sich; nachdem ca. 1510 die erste Frau gestorben war, vermählte er sich zum zweiten Male, den Sechzigen nahe, mit einer ziemlich jungen Frau. Nachkommen hatte er aus beiden Ehen nicht; weder die Persönlichkeit der beiden Frauen noch auch der Name derselben ist uns bekannt. (Die Thatsache der zweimaligen Verheirathung ergibt sich aus dem Ausdruck digamus, den R. 1512 von sich braucht und aus dem Briefe des Rhenanus an Burer, Rhenanus’ Briefw. ed. Horawitz und Hartfelder, S. 190.) Auch die zweite Frau ist vor 1519 gestorben. Ein Bruder Reuchlin’s, Dionysius, wurde von ihm sehr gefördert; seine Schwester Elisabeth, die in Pforzheim lebte, stand dem Bruder besonders nahe, sie ist die Großmutter Philipp Melanchthon’s.

R. suchte seine Vaterstadt häufig auf; andere Reisen hatte er im Auftrage seines Fürsten zu unternehmen. Eine derselben führte ihn auf den Reichstag nach Frankfurt 1486, wo er den italienischen Humanisten Ermolao Barbaro kennen lernte und vielleicht die Beziehungen zu dem jugendlichen Maximilian anknüpfte, die später bedeutsam für ihn wurden. Die Freundschaft mit Barbaro konnte er befestigen und die Bekanntschaft anderer hervorragender italienischer Gelehrter machen, als er 1490 als Begleiter eines natürlichen Sohnes des Grafen Eberhard zum zweiten Male nach Italien kam. Diese Reise hatte für R. wichtige Folgen, nicht bloß die, daß der unermüdlich Arbeitende und Strebende eine reiche Vermehrung seiner Kenntnisse erlangte, und daß er, vermuthlich angeregt durch die damals gemachte persönliche Bekanntschaft des Pico della Mirandula auf ein Gedanken- und Studiengebiet gelenkt wurde, das ihm bisher gänzlich verschlossen gewesen war, sondern auch die, daß er einflußreiche Männer kennen lernte, z. B. den päpstlichen Geheimschreiber Jak. Aurelius Questenberg, der später mit kräftigem Schutze für ihn eintrat. In den späteren Jahren hatte er in speciellen inneren wirtembergischen Angelegenheiten mannichfache Reisen im Inland, gelegentlich auch zum Kaiser zu unternehmen. Eine Reise letzterer Art (nach Linz October 1492) hatte für R. besonders wichtige Folgen: [787] die eine war die durch den Kaiser erlangte Ernennung zum Pfalzgrafen und (wol damit verbundene) Erhebung in den Adelstand, die andere, daß er (vom 25. September 1492 an) bei einem in Linz lebenden Juden, Jakob Jechiel Loans aus Mantua die hebräische Sprache zu erlernen begann. Da die kurze Zeit einer Gesandtschaft nicht genügte, um sich eine so schwierige Sprache anzueignen, so kehrte R., nachdem er seinem Fürsten Rechenschaft über den Erfolg seiner Sendung (Untheilbarkeit des wirtembergischen Landes) abgelegt hatte, wieder nach Linz zurück und verweilte viele Monate in dem geistig angeregten Kreise jüngerer Humanisten, in welchem süddeutsche Gemüthlichkeit und italienische Lebhaftigkeit zu schöner Mischung vereint waren. R. wurde sogar durch das Vorbild der jüngeren Genossen, besonders des Kanzlers Fuchsmag, zu einem dichterischen Versuche veranlaßt und wurde von den Freunden in verschiedenartigster Weise angedichtet. (Vgl. A. Zingerle, De carminibus latinis saeculi XV et XVI ineditis, Innsbruck 1880.)

Das Vertrauen Eberhard’s im Bart blieb dem bewährten Rathgeber bis zuletzt gewahrt. Er begleitete seinen Fürsten noch auf den Reichstag zu Worms (1495), wo dieser vom Kaiser Maximilian den Herzogshut erhielt, mußte aber nach dem Tode seines Gönners den Umschlag seines Geschicks in bitterster Weise erfahren. Denn der Nachfolger jenes ersten Herzogs grollte überhaupt den Rathgebern seines Vorgängers, am meisten aber R., der zur Einkerkerung seines Günstlings, des Augustinermönchs Holzinger mitgewirkt hatte. Da dieser nun nicht bloß befreit, sondern als erster in das Vertrauen des neuen Herrschers berufen wurde, so wartete R. nicht erst die Verbannung oder ein deutliches Zeichen der fürstlichen Ungnade ab, sondern ging, nachdem er allerwärts angeklopft, von Verschiedenen Trostesworte und Anerbietungen erhalten hatte, nach Heidelberg, wohin ihn Johann v. Dalberg, der große Gönner der Gelehrten, persönlich ihm seit 1495, brieflich schon lange vorher bekannt, gerufen hatte (1496). Dort entwickelte sich ein frisches, heiteres, durch Theateraufführungen und gelehrte Gespräche, wissenschaftliche Arbeiten und amtliche Geschäfte, durch Reisen in die Nachbarschaft, z. B. zum Besuche des bekannten Trithemius, reich angefülltes Leben, von welchem Briefe und Gedichte jener Epoche anmuthiges Zeugniß ablegen. Zu dem dortigen Humanistenkreise gehörten außer vielgerühmten Humanisten wie Jak. Wimpheling auch unbedeutende Männer wie Joh. Vigilius (Wacker), Jak. Drakontius, Ad. Wernher, der fruchtbare Dichter, welch letztere dem berühmten Gaste näher traten als die anerkannten Meister. R. trat auch in Beziehungen zu dem Landesherrn, dem Kurfürsten Philipp v. d. Pfalz. Zwar ein Universitätsamt konnte er trotz seines Wunsches nicht erlangen, weder für sich noch für seinen Bruder, aber er wurde (December 1497), freilich nur für ein Jahr, zum „Zuchtmeister“ der fürstlichen Söhne und zum fürstlichen Rath ernannt. In letzterer Eigenschaft hatte er eine Reise nach Rom anzutreten (die dritte und letzte) 1498, theils um einen päpstlichen Ehedispens zu erwirken, theils um Streitigkeiten des Pfalzgrafen mit dem Abte von Weißenburg zu schlichten und führte beide Angelegenheiten zur Zufriedenheit seines Auftraggebers aus. Für ihn persönlich wurde die Reise dadurch bedeutungsvoll, daß sie ihm Gelegenheit gab, Unterricht in der hebräischen Sprache bei Obadja Sforno aus Cesena zu nehmen und dadurch seine Kenntnisse in dieser Sprache beträchtlich zu vermehren, sowie hebräische Bücher zu kaufen, deren Erwerbung ihm in Deutschland unmöglich gewesen wäre. Nach seiner Heimkehr konnte R., da das Regiment Eberhard’s d. J. gestürzt und eine Regierung eingesetzt war, welche für den unmündigen Ulrich die Herrschaft führte, wieder nach Stuttgart zurückgehen, wo er 1502 von der ersten Classe des schwäbischen Bundes, den Fürsten, zum schwäbischen Triumvir erwählt wurde. Elf Jahre lang, so lange jenes Collegium [788] sich in Tübingen befand, behielt R. dieses ehrenvolle, nicht sehr zeitraubende Geschäft bei, das ihm jedenfalls viele Muße zur Beibehaltung seiner Anwaltspraxis, zu einer vielseitigen gelehrten Thätigkeit und zu einer weitverzweigten Correspondenz ließ. Auch hatte er bei Herzog Ulrich die Stelle eines Rathes bewahrt, die er schon bei seinen Vorgängern innegehabt und manche zeit- und stimmungsraubende Hof- und Staatsangelegenheiten besorgen müssen. 1513 gab er seine Stelle auf, theils weil der Sitz des Gerichts nach Augsburg verlegt wurde, theils weil das Verhältniß zu dem neuen Landesherrn sich nicht in der Weise gestalten wollte, wie das zum alten Eberhard, theils weil er nach 30jähriger ausgedehnter amtlicher Thätigkeit sich nach wissenschaftlicher Muße sehnte. Freilich wurde ihm diese infolge von mancherlei widrigen Umständen nicht in dem Maße zu theil, wie er es begehrte.

Nach seiner Entfernung von den Geschäften konnte er häufiger als früher sein in der Nähe von Stuttgart belegenes Landgut beziehen, das ihm nicht blos die Annehmlichkeit des Landlebens verschaffte, sondern durch seine Weingärten einen beträchtlichen Reinertrag abwarf. Einige Male besucht er in den letzten Jahren seines Lebens zur Stärkung seiner Gesundheit ein Bad; sein großer Proceß, von dem gleich gesprochen werden muß, nöthigte ihn zu manchen Reisen: 1513 nach Mainz, 1514 nach Speier und Augsburg. Die Beziehung zu Herzog Ulrich war eine lose; gelegentlich wurde wol des Alten Rath eingeholt und R. betrachtete und proclamirte sich als ergebenen Diener seines Herrn. Doch hatte er schon 1516 an Berathungen hoher Würdenträger theilgenommen, in denen erwogen wurde, was man gegen den gewalttätigen Herzog vornehmen könne, und so sah er das Heer des schwäbischen Bundes, das sich gegen den Reichsfriedensstörer gewaffnet hatte, gewiß nicht ungern in Stuttgart einziehen (7. April 1519). Unter den Einziehenden, die unter der Führung des Herzogs Wilhelm von Baiern standen, befanden sich auch Reuchlin’s Freunde und Gönner, Franz v. Sickingen und Ulrich v. Hutten, die den Alten, der aus Angst seine Bücher vergraben hatte, nicht-ganz ohne Erfolg zu trösten suchten. In den Wechselfällen des Krieges – Ulrich zog wieder in Stuttgart ein, das Bundesheer verjagte ihn aufs neue – hatte R. mancherlei zu leiden; wenn er auch zuletzt durch die Leiter der Verbündeten nicht nur einen Schirmbrief erhielt, sondern auch unter denen genannt wurde, deren Rath das neue Regiment einholen sollte, so hatte er keine Lust mehr an der Stadt, die ihn fast 40 Jahre beherbergt hatte. Er zog (Ende 1519) nach Ingolstadt, vielleicht einer directen Aufforderung des Herzogs von Baiern, des Führers des Bundesheeres folgend, welcher ihn zu seinem Rath ernannt hatte. Dort, wo er im Hause Joh. Eck’s wohnte und an den Zusammenkünften des Humanistenkreises theilnahm, freilich nicht mehr in jener jugendlich-angeregten Stimmung, von welcher er in Linz und Heidelberg erfüllt gewesen war, begann er an der Universität mit großem Erfolge zu lehren, als Professor der griechischen und hebräischen Sprache eine kurze, aber ungemein erfolgreiche Thätigkeit zu entfalten. Sein Wunsch, seinen Großneffen Melanchthon bei sich zu sehen, erfüllte sich nicht, mancherlei Sorgen stellten sich ein und da auch in Ingolstadt die Pest, welcher der greise Gelehrte eben entflohen war, zu wüthen anfing, so ging R. nach Wirtemberg zurück (Sommer 1521). Nun wurde er auch in Tübingen zum Professor der griechischen und hebräischen Sprache ernannt, er begann seine Thätigkeit unter großem Zulauf, aber der Tod machte auch dieser Thätigkeit bald ein Ende; er starb in Bad Liebenzell am 30. Juni 1522.

Reuchlin’s gelehrte und schriftstellerische Arbeit ist eine sehr große und vielseitige. Er ist einer der Begründer des wissenschaftlichen Lebens der Neuzeit, einer der ersten Kenner der drei alten Sprachen, als Dichter, Geschichtschreiber [789] und Jurist thätig, zugleich ein eigenthümlicher Philosoph, der, wenn er auch nicht ein neues philosophisches System begründet, jedenfalls den Ideenkreis seiner Zeit bereichert. R. gilt als Schulhaupt, als Parteiführer, als unbedingter Meister der Gelehrsamkeit, als unbestrittenes Muster der Forschung. Er und Erasmus wurden als die beiden Augen Deutschlands gerühmt, besonders er von Nah- und Fernstehenden, Alten und Jungen, Gelehrten und Fürsten mit den übertriebensten Lobsprüchen bedacht. Müssen manche derselben auch der Lobsucht und Rühmungslust jener Zeit zugeschrieben werden, so sind die meisten echt, weil sie doch uninteressirt waren, denn R. war nicht in der Lage, Stellen zu vergeben und gehörte nicht zu denen, welche den eifrig Lobenden unbedingt wieder lobten. Uns freilich erscheint in diesem Lobe manches übertrieben: Reuchlin’s Sprachkenntniß wurde von den unmittelbaren Nachfolgern übertroffen, die Eleganz seines Stils läßt sich selbst mit der vieler Zeitgenossen nicht vergleichen, seine Kritik ist mangelhaft, und die Logik seines Denkens nicht immer klar. Was die Genossen mit Staunen erfüllte, das war eben die Vielseitigkeit seines Wissens, die Thatsache, daß er in den meisten Dingen der Erste, ein Anfänger und Neuerer war, insbesondere in der Beherrschung der griechischen und hebräischen Sprache, das war sodann die Schlichtheit seines Wesens bei der hohen amtlichen Stellung, die er einnahm, bei den großen Ehren, die ihm zu Theil wurden, die Lauterkeit und Unbestechlichkeit seines Charakters, die Ehrlichkeit seiner Forschung, der unbedingte Wahrheitstrieb, der ihm innewohnte. Wollen wir daher seine Stellung in der Zeit richtig begreifen, so müssen wir auch diesen allgemeinen Gesichtspunkt festhalten und nicht ausschließlich die Einzelleistungen ins Auge fassen, obwol zunächst von diesen zu sprechen ist.

Reuchlin’s Leistungen in der Jurisprudenz lassen sich nicht beurtheilen, da von seinen praktischen Versuchen nichts erhalten ist und eigentlich juristische Schriften von ihm nicht herausgegeben wurden, wenn man die Vertheidigungsschriften in seinem Poceß ausnimmt, die jedoch unser Interesse mehr durch ihren Inhalt, als durch ihre Form beanspruchen. So bedeutend seine Stellung als Richter, so gefeiert seine Gesetzeskenntniß war, so tritt bei ihm wie bei vielen seiner humanistischen Genossen eine Abneigung gegen diese Wissenschaft und ihre praktische Anwendung hervor, theils wegen der barbarischen Ausdrücke, vermöge deren die mittelalterlichen Rechtsquellen der Humanisten widerwärtig waren, theils wegen der Zeit, welche die juristischen Geschäfte den geliebten Studien entzogen und über deren Raub sich die begeisterten Humanisten bitter beklagten, theils wegen der Ungerechtigkeit vieler Entscheidungen, der Bestechlichkeit der Richter, der Unzulänglichkeit der Rechtsbestimmungen.

Große Geschichtswerke hat R. nicht geschrieben: ein nach den „Vier Monarchien“ geordnetes geschichtliches Handbuch, das Melanchthon ihm zuschreibt, rührt nicht von ihm, sondern von Rud. Agricola her (ca. 1480) und die Einleitung in die große Chronik Naucler’s (1500) mit ihrer etwas banalen Empfehlung geschichtlicher Studien bedeutet nicht viel. Dem Schriftsteller fehlt eigentlich geschichtlicher Sinn und historische Kritik; das patriotische Streben, von dem erfüllt er bemüht ist, das Alter der Deutschen bis in das graueste Alterthum hinauf zu setzen, schärft nicht eben seinen kritischen Sinn.

R. ist vor allem Philologe; der erste, der seinen Ruhm darein setzt, in Wirklichkeit ein trium linguarum peritus zu sein und dabei doch die deutsche Sprache nicht völlig zu vernachlässigen. Wenn er auch fast ausschließlich lateinisch schreibt, so latinisirt er doch seinen Namen nicht, außer durch Anhängung der Endung us; er kennt Einzelnes aus der ältern deutschen Litteratur; zweimal, beide Male in Fällen, wo er sich an das Volk oder des Lateinischen Unkundige wendet, gibt er deutsche Schriften heraus (1505 und 1510); er schreibt, nicht [790] ohne Gewandtheit, deutsche Briefe; auch unter den Uebersetzern verdient er einen den anderen Uebersetzern nicht unebenbürtigen Platz, wie das Bruchstück der für den Pfalzgrafen Philipp bestimmten Uebertragung von Cicero’s Tusculanen beweist (Hartfelder, Deutsche Uebersetzungen Heidelberger Schriftsteller, Heidelberg 1884).

In den meisten Briefen und Schriften bedient er sich der lateinischen Sprache, die er gründlich kennt, in welcher er aber eine besondere Eleganz weder erstrebt noch erreicht. Der Quellenreichthum, über welchen er verfügt, ist ein ganz ansehnlicher; das goldene und silberne Zeitalter wird von ihm in ziemlicher Ausdehnung herangezogen. Er vermeidet Archaismen und Germanismen und bemüht sich, in erster Linie correct und verständlich zu schreiben. Will man seinen lateinischen Stil und seine Kenntniß des fremden Idioms beurtheilen, so muß man seine Briefe und selbständigen Schriften zu Grunde legen, nicht aber das von ihm herrührende Lexikon „Vocabularius breviloquus“. Denn dieses ist eine Jugendarbeit, die 1475 zu Basel entstand, wol mehr dem Buchhändler zu Gefallen oder des Gelderwerbs wegen, und alle Neudrucke des genannten Werkes (25 bis 1504) sind nicht etwas neu durchgesehene oder veränderte Auflagen, sondern ganz unveränderte, oder ohne Mitwirkung des Verfassers veränderte Nachdrucke, welche von speculativen Buchhändlern zur Erzielung eines mühelosen Gewinns veranstaltet wurden. Das Wörterbuch bekundet noch nicht den vollen Gewinn, welchen die Humanisten aus dem Studium der classischen Schriftsteller zogen, aber es zeigt gegenüber den früheren mittelalterlichen Wörterbüchern den bemerkenswerthen Unterschied, daß die etymologischen Spielereien in den Hintergrund treten, die sinnlosen Erklärungen verschwinden, ein nüchterner, sachgemäßer Ausdruck eingeführt wurde, das Ganze anstatt einer Concordanz für Vulgata und Septuaginta ein Wortschatz für die classischen Schriftsteller und die Quellen des römischen Rechts werden sollte. Das Wörterbuch wurde bald durch kleinere methodischere Lexica jüngerer Humanisten überholt; von diesen wurde der Breviloquus einfach ignorirt, um es zu vermeiden, dem berühmten Autor zu nahe zu treten; in satirischen Schriften wurde dagegen jenes Werk, das übrigens manchmal ohne Reuchlin’s Namen erschienen war, einfach neben anderen mittelalterlichen Büchern der Verachtung preisgegeben.

Der lateinischen Sprache bediente sich R. jedoch nicht nur zur Abfassung seiner wissenschaftlichen Werke, sondern auch zur Anfertigung seiner schon erwähnten Gedichte, ferner einzelner empfehlender Verse zu seinen Schriften oder den Arbeiten Gleichstrebender und weniger ziemlich belangloser Verse geistlichen Inhalts, endlich seiner Komödien. Die letzteren sind sehr gerühmt worden, vielleicht über Gebühr; auch hier liegt der Grund der Rühmungen nicht ausschließlich in der Vortrefflichkeit der Stücke, sondern in dem z. B. von Celtes und Hutten hervorgehobenen Umstande, daß auch hier R. ein Neuerer ist. Vor ihm (d. h. vor 1496) gibt es in Deutschland nur ganz vereinzelte lateinische, nach dem Muster der Alten gedichtete Komödien und jedenfalls keine, die von einem hervorragenden Schriftsteller, geradezu einem Chorführer der neuen Litteraturbewegung herrührt; durch ihn, der auch dafür sorgt, daß die eine Komödie alsbald zur Aufführung gelangt, wird die ganze Dichtung in weiteren Kreisen eingeführt, um nicht zu sagen, modern; und so erlangte R. wegen der nicht vorausgesehenen Folgen fast ebenso großen Ruhm wie wegen des Werthes seiner Leistung.

In dem ersten Stücke „Scenica progymnasmata“, das auch den Nebentitel „Henno“ nach dem Haupthelden der Komödie führt, geißelt er, den Stoff im wesentlichen aus der französischen Farce vom maître Pathelin entlehnend, manche Unsitten der Zeit. Es ist die Geschichte von der Schurkerei des Dieners, der seine ihm vertrauende Herrschaft bestiehlt, dem Rathe seines Rechtsbeistandes, der [791] dem treu Gehorsamen Freisprechung in Aussicht stellt, folgend, sich vor dem Gericht taubstumm stellt und auf alle an ihn gerichteten Fragen nur mit Ble antwortet, dann aber, als er nun wirklich infolge des von dem Rechtsanwalt angerathenen Mittels freigesprochen wird, seinen Rathgeber mit derselben Münze zahlt, die dieser ihn kennen gelehrt hat. Trotz der Anlehnung an ein fremdes Muster jedoch wußte R. dem Stoffe neue Wendungen abzugewinnen und zeitgemäße Anspielungen hinzuzufügen. Solche Anspielungen sind die theils heftigen, theils witzigen Ausfälle gegen die Proceßsucht der niederen Stände, namentlich der Bauern, gegen die ungerechten und bestochenen Richter, gegen die hochtrabend redenden, viel versprechenden und nichts gewährenden Astrologen. Die Komödie war, wie ihre sehr häufigen Drucke und ihre noch häufigeren Uebersetzungen und Bearbeitungen beweisen, damals ein beliebtes Stück und verdient Lob wegen der guten Charakteristik, der witzigen Sprache, der lebhaft und gut durchgeführten Intrigue.

Weniger gelungen, auch weniger verbreitet und so gut wie gar nicht von den Späteren bearbeitet und übersetzt ist das zweite Stück „Sergius“ oder „Capitis caput“, welches das Haupt des Hauptes, d. h. der bloße Kopf, der keinem Lebenden mehr angehört, daher leer und ohne Inhalt ist. Der Kopf ist der Schädel eines Elenden, welcher zuerst Christ, dann Muhammedaner, in beiden Religionen Uebles gewirkt hat, ein Kopf, der nun von dem speculativen Besitzer als Kopf eines Heiligen durch die Lande getragen, als vielwirkend, allvermögend dem staunenden Volke angepriesen wird, bis dieses nach langem Irrthum die Wahrheit erkennt und das Gefühl verehrungsvoller Scheu in energischen Abscheu verwandelt. Wüßte man nicht aus sonstigen bestimmten Hindeutungen Reuchlin’s, daß das Stück sich gegen den obengenannten Augustinermönch Holzinger richte, so würde man dies aus dem Stücke selbst schwerlich entnehmen: die Anspielungen sind so allgemein gehalten, das Persönliche und Zeitgeschichtliche gleichsam so absichtlich verwischt, daß die Wiedererkennung einer Persönlichkeit und eines greifbaren Vorganges fast unmöglich ist.

Führen diese dichterischen Leistungen in die eigne Zeit des Dichters hinein, so geleiten die der Beschäftigung mit dem Griechischen entsprungenen Arbeiten wieder in das Alterthum zurück. Die lateinischen Uebersetzungen griechischer Autoren haben bedeutendern Werth, als die deutschen Uebersetzungen lateinischer Schriftsteller, denn während die letzteren nur den verhältnißmäßig wenigen Ungelehrten dienen sollen, welche einen Vorschmack der classischen Bildung zu haben wünschten, dienen die ersteren als erwünschte, ja nothwendige Vermittlerinnen selbst für bedeutendere Gelehrte zu einem ganz unbekannten oder als willkommene Führerinnen in ein wenig bekanntes Gebiet. Diese Uebersetzungen, selbst wenn man nur die wirklich erhaltenen, nicht alle von den Zeitgenossen erwähnten ins Auge faßt, sind sehr zahlreich und verschiedensten Inhalts: Stücke aus den Kirchenvätern, historische, philosophische Schriften, der Froschmäusekrieg. Die Uebersetzungen sind gewandt und correct, weder übertrieben wörtlich, noch mit dem Anspruch auf besondere Zierlichkeit, sie haben unverwandt den Hauptzweck im Auge und erfüllen denselben in angemessener Weise, nämlich den, verständlich zu sein und den Lesern mühelos den Eingang in ein fremdes Gebiet zu verschaffen.

R. war der erste Lehrer des Griechischen, der sowohl privatim als auch öffentlich an zwei Universitäten Schüler heranbildete. Zum Zwecke dieses Unterrichts gab er (1521) Reden des Aeschines und Demosthenes im griechischen Urtext heraus – schon vorher (1509) hatte er an der kritischen Herstellung des Textes des Hieronymus mitgearbeitet, er der Einzige, auf welchen der Basler Buchdrucker Amorbach seine Hoffnung gesetzt hatte – auch legte er seinem Unterrichte und wohl auch seinen Vorlesungen eine Grammatik zu Grunde, die jedoch [792] nicht gedruckt worden ist. Dagegen sind zwei kleine Elementarbücher: Ueber die vier Idiome und leichte griechische Gespräche (Colloquia graeca) handschriftlich erhalten und neuerdings gedruckt. (A. Horawitz, Griechische Studien, 1. Heft. Berlin 1884.) Die Bezeichnung: Reuchlinisch für die sogenannte neugriechische Aussprache rührt jedenfalls von dankbaren Schülern oder Nachfolgern her: R. hat diese Aussprache natürlich nicht erdacht, sondern den Zeitgenossen getreulich das überliefert, was er von seinen eigenen Lehrern, den damals lebenden Griechen, empfangen hatte.

Bedeutender als durch seine Kenntniß und Verbreitung der lateinischen und griechischen Sprache wurde R. durch sein Lernen und Lehren der hebräischen Sprache. Dadurch wurde er in Wahrheit ein Erneuerer, nicht bloß einer von Vielen, sondern der Einzige, der furchtlos Schwierigkeiten besiegte, an denen selbst Muthige scheiterten, und der geradezu die Juden, die von der Kirche verstoßenen und von den Christen gehaßten Bewahrer des kostbaren Schatzes aufsuchte, um von ihnen zu lernen. Mit ihrer Hülfe – die einzelnen Lehrer sind bereits oben genannt – und mit ausgiebiger Benutzung jüdischer Quellenschriftsteller, besonders des berühmten Grammatikers David Kimchi, verfaßte R. außer kleineren Lehrmitteln, die man als Elementarbücher bezeichnen könnte: Ausgaben einzelner Psalmen und Interlinearübersetzungen kleinerer Schriften, zwei Hauptwerke: Rudimenta hebraica 1506 und de accentibus et orthographia linguae hebraicae 1518.

Das erstere Werk enthält sowohl Grammatik als Wörterbuch. In beiden klammert sich R. eng an den genannten Kimchi: sowohl in der Methode, die Wörter nach Wurzeln zu ordnen, und die Derivate, der alphabetischen Ordnung zuwider, unter den Wurzelwörtern zusammenzustellen; als in dem Wortschatz, der bei dem neuen Bearbeiter kaum eine Vermehrung erfährt; als auch in der Manier, zum Verständniß der einzelnen Worte Bibelstellen anzuführen. Wenn R. bei solchen Anführungen, seinem Vorbilde zuwider, die Stellen lateinisch statt hebräisch gab, so gewährte er durch diese Ungehörigkeit der Unwissenheit seiner Leser ein Zugeständniß. Denn man muß bei dem ganzen Werke bedenken: trotz seines großen Umfanges und seines gelehrten Tones ist es doch wesentlich ein Elementarwerk, eine Einführung christlicher Leser in einen ihnen bis dahin gänzlich fremd gebliebenen Stoff. In diesen Stoff eingedrungen zu sein, sich denselben zurechtgemacht zu haben, trotz der unsäglichen Schwierigkeiten, welche der spröde und noch niemals von Christen behandelte Stoff bot, ist eine Riesenleistung, deren Verdienst R. allein gebührt und auf die er mit Recht stolz war. Wie das Studium der lateinischen und griechischen Sprache den Humanisten eigentlich nicht Selbstzweck war, sondern nur Mittel zum Zweck, zum Verständiß der lateinischen und griechischen Dichter und Prosaiker, sowie des Urtextes des Neuen Testaments und aller der großen Werke, welche die innere und äußere Entwicklung der christlichen Kirche darboten, so sollte die Kenntniß der hebräischen Sprache das Eindringen in die hebraica veritas, in den hebräischen Text des Alten Testaments ermöglichen und die Forscher von der Herrschaft der willkürlichen und falschen lateinischen Uebersetzungen zu befreien. R. wurde durch sein Studium des Hebräischen der Vater der Bibelkritik in Deutschland; die Reformation aber, welche die Bibel als ihr Palladium, als das Grundbuch erklärte, auf dem sie weiter baute, hatte ihm als demjenigen dankbar zu sein, der eine ihrer wichtigsten Vorarbeiten gethan hatte.

Das zweite Werk ist weit specieller, es lehrt die Accente, die Andeutungen des rednerischen Maßes, die musikalischen Zeichen. Es ist ungleich gelehrter als das erste, und bekundet wie sorgsam und fleißig R. die zwischenliegenden 12 Jahre benutzt hat; es ist auch unabhängiger von den rabbinischen Führern, [793] als das erste, obwol es natürlich keineswegs vollkommen selbständig ist. Aber seine Wirksamkeit mußte, da sein Stoff ungleich beschränkter war als der des ersten, eine unendlich viel kleinere sein; nicht die Masse der Theologen, sondern nur eine kleine Anzahl von Liebhabern konnte sich dem umfangreichen Werke zuwenden; ein großer für die Wissenschaft maßgebender Einfluß konnte von einem derartigen Buche nicht ausgehen.

Die Wirkung der hebräisch-sprachlichen Werke, so natürlich und berechtigt sie ist, war von Reuchlin nicht beabsichtigt; was ihn zu der „heiligen“ Sprache zog, war neben dem philosophischen Interesse, das ihn beherrschte und ihn zu immer neuen Studien anregte, hauptsächlich das Verlangen, die jüdische Geheimlehre „Kabbalah“ zu ergründen. Dieses Verlangen, durch die Lectüre einzelner hebräischer Schriften mächtig in ihm erregt, war durch die persönliche Bekanntschaft mit Pico della Mirandula und durch die Kenntnißnahme seiner Schriften erheblich gefördert worden; es vermehrte die wissenschaftliche Erkenntniß wenig oder gar nicht und fand bei den nüchternen Deutschen weit weniger Anklang, als es in Italien gefunden hatte, aber es trug dazu bei, den Ruhm Reuchlin’s als eines tiefen Denkers zu erhöhen, seinen Namen mit einer Art geheimnißvollen Grauens und ehrfürchtigen Staunens zu umgeben. Zwei große gelehrte lateinische Werke, die heute schwerlich mehr einen Leser finden, Folianten mäßigen Umfanges, ebenso wie die vorher besprochnen Schriften, sind Zeugnisse dieser Studien: „De verbo mirifico“, 1494 und „De arte cabbalistica“, 1517. Sie müssen, trotzdem sie heute mehr als Ausgeburten eines kranken Geistes denn als Resultate wirklich philosophischer Forschung betrachtet werden können, doch etwas eingehender analysirt werden, weil sie die Kost eines ganzen Zeitalters waren und von Vielen als herrliche Werke gerühmt werden. Beide Werke sind in Form von Unterredungen geschrieben, an welchen auch Juden theilnehmen.

Das wunderthätige Wort, dessen Kraft im ersten Buche dargethan werden soll, ist das Testragrammaton Jhvh, „jene unvergleichliche Bezeichnung, von den Menschen nicht erfunden, sondern ihnen nur durch Gott anvertraut, ein heiliger und hochzuverehrender Name, der Gott besonders in der Urreligion zukommt, der Allmächtige, den die Ueberirdischen anbeten, die Unterirdischen fürchten, die Natur des Weltalls küßt“. Dieses Wort stellt die Verbindung her zwischen dem endlichen Menschen und dem unendlichen Gott. Diese große Bedeutung des wunderbaren Wortes kommt daher, weil jeder Buchstabe desselben seinen geheimnißvollen Inhalt hat. Der erste Buchstabe, ein Jod, der Gestalt nach ein Punkt, dem Zahlwerth nach gleich zehn, deute Anfang und Ende aller Dinge an, der zweite He, als Zahlzeichen fünf, die Vereinigung Gottes (Dreieinigkeit) und der Natur (Zweiheit nach Plato und Pythagoras); der dritte Waw, dem Zahlwerth gleich sechs, das Product der Einheit, Zweiheit, Dreiheit; der vierte He, dem zweiten gleich, bedeute die Seele, die das Medium zwischen Himmel und Erde, wie die Fünf Mitte zwischen der Einheit und der heiligen Zehnzahl sei. Ist schon in dieser Namenserklärung eine Vereinigung der christlichen und jüdischen Lehre angedeutet, ein Hineingeheimnissen der christlichen Mysterien in den jüdischen Gottesnamen, so soll durch die weitere Ausführung bewiesen werden, daß der Name Jesu (Jhsvh) nichts sei als eine Vermehrung des Tetragrammaton durch einen Buchstaben und zwar den s-Laut, der etwas Heiliges habe, da er im Hebräischen zur Bildung der Worte „heilige Ceder, heiliger Name, heiliges Oel“ diene. Demgemäß sei der Name Jesu und die durch ihn begründete christliche Lehre der Höhepunkt der philosophischen Bildung der Welt.

Aufgabe des zweiten Werkes ist zunächst der Beweis, daß die messianische Lehre, die obwohl von Bibel und Talmud vorher verkündet, durch die jüdischen Erklärer nicht recht verstanden worden, der eigentliche Gegenstand der Kabbalah [794] sei. Dieselbe Lehre nun sei auch der Grundstein der pythagoräischen Philosophie. Letztere habe indessen mit jener jüdisch-philosophischen Richtung auch die mannichfachsten Berührungspunkte in den großen Grundsätzen der Moral und den geheimißvollen Wegen der Erkenntniß gemein. Der Erörterung dieser Geheimnisse, nämlich der 50 Pforten der Erkenntniß, der 32 Pfade, die zur Wahrheit führen und der 72 Engel, welche die Vermittlerrolle zwischen Gott und Menschen spielen, ist ein großer Theil des Werkes gewidmet. Ein nicht minder großer der formellen Kabbalah, der kabbalistischen Kunst, deren Wesen darin besteht, aus den Worten einen tiefern Sinn als den gewöhnlichen zu entnehmen und zwar 1. durch Umstellung der Buchstaben innerhalb eines Wortes (Gimatria), 2. durch Auseinanderzerrung der Buchstaben eines Wortes, dergestalt, daß jeder als Anfangsglied eines neuen betrachtet wird (Notarikon), 3. durch eine derartige Vertauschung der Buchstaben, daß für den ersten des Alphabets der letzte, für den zweiten der vorletzte und so fort gesetzt wird.

Wenn auch nicht alle Humanisten diese kabbalistischen Träume billigten, so staunten sie doch R. als einen wunderbaren Gelehrten an. Seit der Veröffentlichung seiner ersten kabbalistischen Schrift, nach Erscheinen der Komödien galt er als Führer der Humanistenschar; das laute und immer wiederholte Lob der Jüngeren machte ihn zum Parteihaupt. Schon als solches hätte er, da die Zahl der Gegner groß und streitlustig war, in Kämpfe verwickelt werden können, den eigentlichen Anlaß aber, daß gerade er in dem großen Zusammenprall der Humanisten und ihrer Gegner den Hauptstoß aushalten mußte, gab seine Beschäftigung mit der hebräischen Sprache.

Dieser Reuchlin’sche Streit ist weltbedeutend geworden. Die eingehende Schilderung desselben gehört in eine ausführliche Biographie Reuchlin’s, an dieser Stelle kann sie, da der Raum uns fehlt, schon aus dem Grunde nicht gegeben werden, weil in den Lebensbeschreibungen der Gegner Reuchlin’s O. Gratius, Hochstraten, Pfefferkorn und mancher Bundesgenossen, z. B. Mutian, Nuenaar und Pirckheimer (A. D. B. IX, 602 ff., XII, 527 ff., XV, 621 ff., XXIII, 108 ff., 485 ff., XXVI, 810 ff.) bereits von ihrer Betheiligung an diesem Streite, von dem Schriftenkampfe für und wider die Rede war. (Ich zähle nur die hauptsächlichsten von mir herrührenden Artikel auf; da in dem Hutten gewidmeten Artikel, A. D. B. XIII, 464, 475 von seinem Antheil an unserm Streit wenig gehandelt ist, so muß in der folgenden Darlegung gerade Hutten’s Mitwirkung betont werden.) Nicht also eine Gesammtdarstellung des Streites soll im Folgenden gegeben, sondern hauptsächlich der Antheil Reuchlin’s des Nähern dargelegt werden.

Durch seine Beschäftigung mit der hebräischen Sprache erschien R. als der geeignetste, ja als der einzig geeignete Mann in Deutschland, über die durch Pfefferkorn angeregte Confiscation der Bücher der Juden ein Gutachten abzugeben. Er schrieb dies der Aufforderung des Kaisers folgend, in deutscher Sprache, 6. October 1510. (Es ist nie separat erschienen, sondern bildet den Hauptheil des „Augenspiegel“.) Der Grundgedanke dieses Gutachtens, eines höchst bedeutsamen Documentes in der Geschichte der deutschen Aufklärung, ist etwa folgender. Es gibt einige wenige von den Juden selbst verabscheute „Schmachbücher“ der Verdammung preis und sucht alle übrigen als der Erhaltung im hohen Grade werth zu erweisen. Nur kurz verweilt es bei der Schutzrede für die Glossen und Commentare der Bibel, Predigten und Gesangbücher, für philosophische und naturwissenschaftliche, poetische und satirische Schriften, länger bei der Kabbalah, am längsten bei dem Talmud. Dieser, dem man aus Unkenntniß oder Böswilligkeit viel Uebles nachgesagt habe, müsse erhalten bleiben, theils weil er zum geeigneten Kampfobject dienen könnte, die Kräfte der christlichen [795] Theologen zu erproben, theils weil er manche Stellen zum Beweise des christlichen Glaubens zu liefern geeignet sei. Gegen alle diese Bücher, selbst wenn sie Gefährliches enthielten, einzuschreiten hätte die christliche Kirche kein Recht, da die Juden auch von der Kirchenlehre nur als Andersgläubige, nicht als Ketzer betrachtet, von dem weltlichen Recht aber als Mitbürger des deutschen Reiches angesehen würden. Ein gewaltsames Einschreiten gegen die jüdischen Bücher würde eine wirkliche Ausrottung der gesammten Litteratur zur Folge haben; zu der Rechtlosigkeit des Verfahrens würde sich also auch noch die Wirkungslosigkeit gesellen. Der einzig gerechte Kampf gegen etwaige falsche Meinungen und gegen den Glauben der Juden überhaupt sei wissenschaftliche Belehrung; sie könne nur erzielt werden durch eindringliche Beschäftigung mit den jüdischen Schriften.

Die unredliche Art, in welcher Pfefferkorn mit diesem Gutachten verfuhr, sowie die ungegründeten Vorwürfe, die er erhob (s. A. D. B. XXV, 623), wies R. in dem „Augenspiegel“ zurück, in welchem er das unverstümmelte Gutachten zum Abdruck brachte, die Erzählung des bisherigen Handels gab und die Vorwürfe des Gegners, er sei von den Juden bestochen und habe die unter seinem Namen herausgekommenen Schriften nicht verfaßt, mit derselben Derbheit zurückwies, mit der sie von dem Angreifer ausgesprochen worden waren. Die Ungereimtheit der letztern Anklage leuchtet ohne Weiteres ein; die erstere, so unbegründet sie auch war, hatte wenigstens eine Scheinstütze in dem kleinen deutschen, 1505 von R. verfaßten, aber nicht zur Veröffentlichung bestimmten „Missive warum die Juden so lang im ellend sind“, einer Schrift, die wenn auch nicht von so wildem Judenhaß erfüllt wie gleichzeitige Pamphlete, doch weit entfernt davon war, ihrem Autor den Namen eines Judengönners zu verschaffen. Außer der Erzählung des Handels und der Zurückweisung der ungerechtfertigten Anklagen enthält der „Augenspiegel“ manche lateinische spitzfindige Auseinandersetzungen, Erklärungen, Abschwächungen kühner Behauptungen, sophistische Sätze, durch welche die kühne Volksschrift zu einer zahmen Gelehrtenarbeit zusammenschrumpfte.

Bei einem derartigen Gelehrtengeplänkel wäre die Sache geblieben, wenn nicht, vermuthlich auf Pfefferkorn’s Antrieb, die Kölner theologische Facultät sich eingemischt und Miene gemacht hätte, R. als Verfasser eines ketzerischen Buches (eben des „Augenspiegels“) vor ihr Forum zu ziehen. In Briefen an seinen alten Kameraden C. Collin und an A. v. Tungern, ein einflußreiches Mitglied der Facultät, wies er nach, daß er durch sein Gutachten, das er deutsch hätte schreiben müssen, sich nichts Ungebührliches angemaßt, mit Recht über theologische Dinge geschrieben und durchaus im Auftrage des Kaisers gehandelt habe. Alsbald ahnte er, daß die wider ihn angezettelte Sache ein Angriffsversuch gegen die humanistische Bewegung überhaupt sei und wies darauf hin, daß die ganze Humanistenschar sich wider die Kölner zu seiner Vertheidigung erheben würde. Alsbald veröffentlichte R. die dem Augenspiegel angehängt gewesenen Erklärungen in deutscher Sprache („Ain clare verstantnus in tütsch“, 1512) und gab sich nun der Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang der Sache hin. Im Auftrage der Kölner dagegen veröffentlichte A. v. Tungern Articuli sive propositones de Judaico favore Jo. Reuchlin (1512), in welchen der „Augenspiegel“ als ein ketzerisches Buch erklärt wurde. Die Kölner erwirkten ein kaiserliches Verbot des Buches (7. October 1512) und R., durch von Tungern’s Schrift und Pfefferkorn’s „Brantspiegel“ gereizt, trat mit seiner überaus heftigen „Defensio contra calumniatores suos Colonienses“ (1513) auf, in welcher er die Kölner Theologen, den Ketzermeister Hochstraten voran, aufs Erbittertste angriff, sie der groben Unwissenheit und der Fälschung beschuldigte, und alle Vorwürfe, die man ihm gemacht, in entschiedenster Weise zurückwies. Nun warb er Gönner und Helfer unter den Humanisten [796] und den Vornehmen. Vom Kaiser erlangte er ein Mandat, das beiden Parteien Stillschweigen auferlegte (Juni 1513), aber auch die Gegner waren rührig und erwirkten von demselben Kaiser ein Verbot der Defensio (1513). Da die Kölner ihr Recht aber nicht durch Machtmittel vertheidigen wollten, so verschafften sie sich Gutachten verschiedener Universitäten: Löwen, Köln, Mainz, Erfurt, Paris, welche gegen den „Augenspiegel“ – der den Betreffenden wohl nur in Auszügen vorgelegt worden war – ausfielen und, auch öffentlich verbreitet (Acta doct. Parrhisiensium contra speculum oculare, 1514 und Praenotamenta Ortuini Gratii in dems. Jahre), die Stimmung gegen R. erregen sollten. Nur in Paris hatte R., begünstigt durch seinen Landesherrn und unterstützt von manchen Freunden, den Versuch gemacht, die feindliche Sentenz aufzuhalten; da dies nicht gelang, so veranstaltete R. eine Sammlung der zu verschiedenen Zeiten, besonders aber in den Jahren 1510–1513 an ihn gerichteten Briefe („Clarorum virorum epistolae“, 1514), aus welcher zur Evidenz hervorging, daß die Humanisten aller Orten, die Poeten, Historiker und Philosophen, die gefeierten Meister wie die strebsamen Jünger, ihn als ihr Haupt, ihren Meister betrachteten, in seinem Streite durchaus auf seiner Seite gegen die Kölner standen, sich solidarisch mit ihm verbunden erklärten und ihre Bereitwilligkeit darthaten, gemeinsame Sache gegen die Angreifer zu machen.

Die Kölner brachten es nun zum Proceß. Hochstraten, der Ketzermeister, citirte, auf Grund der Universitätsgutachten, R. vor sein Gericht, dieser appellirte an den Papst und erlangte, daß der Bischof von Speier zur Entscheidung der Angelegenheit aufgefordert wurde. Das Speierer Urtheil (29. März 1514, gedruckt ebenso wie die meisten übrigen in diesem Proceß gewechselten Schriften und gefällten Entscheidungen in den von Reuchlin 1518 herausgegebenen Acta judiciorum) fiel zu Gunsten Reuchlin’s aus; um eine Abänderung dieses Spruches zu erlangen, wandte sich Hochstraten nach Rom. Zwei Jahre wurde die Sache dort, wo Hochstraten persönlich erscheinen mußte, R. sich durch Sachwalter vertreten lassen durfte, eifrigst betrieben. R. wandte sich an römische Freunde und hochgestellte Beamte, erhielt auch Empfehlungsschreiben von Königen und Fürsten (die Briefe sind von Friedländer, Beiträge, Berlin 1837, nach Handschriften der Berliner königlichen Bibliothek gedruckt; die Briefe aus Rom, während des Processes geschrieben, theilt Horawitz in der unten zu nennenden Veröffentlichung mit); trotzdem wurde die für ihn günstige Entscheidung der für den Proceß eingesetzten Commission (2. Juli 1516) seitens des Papstes nicht bestätigt, sondern von diesem, dem großen Gönner der Renaissancebestrebungen ein mandatum de supersedendo (Aufschubsmandat) erlassen, das die Sache in der Schwebe ließ, ohne einer der Parteien recht zu geben.

Diese, statt Stillschweigen zu beobachten, wie der Papst gewünscht, wenn auch nicht erwartet hatte, maßen sich in heftigen Schriften. R. ergriff nunmehr selten das Wort, höchstens daß er seinen großen und kleinen Werken Widmungsbriefe an einflußreiche Persönlichkeiten voranstellte, deren Schutz er gewinnen oder denen er Dank für erwiesene Dienstleistungen abstatten wollte; sonst ließ er nur der ersten Briefsammlung eine zweite: „Epistolae illustrium virorum“, 1519 folgen, in welcher alle Humanisten vertreten waren, alle laut, oft in den ungemessensten Ausdrücken ihre Bewunderung für R. äußerten und ihre Verachtung der Kölner nicht lebhaft und derb genug aussprechen konnten. Im Allgemeinen überließ er diesen seinen Jüngern das Wort, die in Erasmus einen vornehmen Gönner ihrer Bestrebungen, in Mutian aber einen unermüdlichen Antreiber zu immer neuen Lobeshymnen Reuchlin’s und stets stärkeren Verunglimpfungen der Kölner gefunden hatte. Unter diesen Jüngeren die eifrigsten waren Crotus Rubianus und Ulrich v. Hutten. Diese beiden gelten [797] auch mit Recht als die Hauptverfasser – einzelne Beiträge lieferte der Straßburger Kreis, einzelne andere hauptsächlich die Erfurter Genossen – der an O. Gratius gerichteten, in zwei Theilen 1515 und 1517 erschienenen Epistolae obscurorum virorum. Schon im Titel sollte der Gegensatz gegen die erste von R. herausgegebene Briefsammlung zum Ausdruck kommen, was den Inhalt der Schrift betrifft, so werden hier in ergötzlichstem Deutschlatein angebliche Confessionen der ungebildeten, roh-sinnlichen und unfrommen Mönche an ihren Herrn und Meister mitgetheilt, stark carikirte, aber im Großen und Ganzen nicht unzuverlässige Darstellungen der Kölner und ihrer plumpen, verderbten, bildungsfeindliche Anhänger. An dem außerordentlichen Lacherfolg, den diese trefflich durchgeführte, trotz der Einheitlichkeit ihres Inhalts nicht einförmige und niemals ermüdende Satire in Deutschland, ja in der ganzen lateinisch redenden oder verstehenden Welt davon trug, konnten O. Gratius’ saftlose Lamentationes obscurorum virorum (vgl. IX, S. 600) nichts ändern. Der „Triumph Reuchlin’s“ (triumphus Capnionis) wurde nicht bloß in einem schwungvollen Gedicht von Hutten besungen, in welchem ein wirklicher Triumphzug beschrieben und die gänzliche Vernichtung der Gegner dargestellt wurde, sondern er blieb bestehen, der Triumph des Kämpfers und des Gelehrten, wenn auch Hochstraten in seinen Schriften die Kabbalah und damit auch den Kabbalisten zerstört zu haben meinte (oben XII, S. 528). Außer diesen Vertheidigungs- und Lobschriften und den unzähligen Briefstellen – denn man kann ohne Uebertreibung sagen, daß es in der Zeit von 1510 bis 1517 kaum einen Humanistenbrief gibt, in welchem nicht der Reuchlin’schen Angelegenheit und zwar in enthusiastischer Weise für den Führer der Bewegung gedacht wird – erschienen mancherlei Schriften zum Schutze Reuchlin’s und zur Bekämpfung der Gegner: die Schriften der drei namentlich angeführten Gegner: Pfefferkorn, Gratius, Hochstraten bildeten die beliebten Angriffsobjecte der streitfrohen Humanisten: über der Lust an Schimpfworten, Derbheiten, Obscönitäten wurde die Sache, für die man focht, häufig vergessen. Zu den gehaltvolleren Arbeiten gehört Pirckheimer’s Einleitung zur Uebersetzung von Lucian’s Piscator, vor Allem aber Broschüren und größere Werke, die außerhalb Deutschlands erschienen, das große Werk von Peter Galatin: De arcanis catholicae veritatis (1518), in Form, Gesinnung und Inhalt mit Reuchlin’s kabbalistisch-pythagoräischen Büchern verwandt und, wie es auf dem Nebentitel heißt, „zur Vertheidigung des vortrefflichen Mannes Johann Reuchlin“ bestimmt; die Vertheidigung des Georgius Benignus, Erzbischofs von Nazareth: Defensio praestantissimi viri Joh. Reuchlin (Rom 1517), bemerkenswerth durch ihren maßvollen Ton und durch den Umstand, daß hier ein hoher kirchlicher Würdenträger das Wort führte. Die deutschen Humanisten, die ja auch gern selbständig Schutzreden für ihren großen Landsmann verfaßten, z. B. Nuenaar, beeilten sich, gerade solche ausländische Ehrenerklärungen, z. B. eine nicht mit der ebenerwähnten zu verwechselnde Defensio nuper ex urbe Roma allata durch den Druck bekannt zu machen (Köln 1518). Die hauptsächliche litterarische Bewegung ist 1518 zu Ende, einzelne spätere satirische, vornehmlich gegen Hochstraten gerichtete, im Ton und Geist der Dunkelmännerbriefe abgefaßte Schriftchen bedürfen keiner besonderen Besprechung. Bemerkenswerth ist nur in diesen letzteren, daß der Witz matt, die Sprache gezwungen und das Siegesbewußtsein, das sie dem Leser einflößen wollen, unwahr ist. Desto lauter rühmten sich die Gegner und eine Schrift Pfefferkorn’s, die 1521 erschien, liest sich geradezu wie ein Triumphgesang.

Wenn auch in der öffentlichen Meinung der Sieg Reuchlin’s errungen war, so hatten die Reuchlinisten, wie sie sich gern nannten, Veranlassung zur Entmuthigung, die sich in der Lahmheit ihrer letzten Schriften kundgibt, die [798] Dunkelmänner aber – mit diesem Schimpfnamen von den Anhängern Reuchlin’s bedacht – Grund zu lautem Jubel. Denn der Proceß, welcher 1516 nur aufgeschoben worden, war inzwischen zu ihren Gunsten entschieden worden. Allerdings hatten die Dominicaner in Ausführung der Speierer Sentenz, auf gewaltsames Andrängen des mit R. befreundeten Ritters Franz v. Sickingen dem Alten die schuldigen Proceßkosten entrichtet, ja sie hatten sogar sich bei dem Papste verwendet, um eine endgültige Schlichtung des Streites zu erlangen, aber die päpstliche Entscheidung, die endlich erfolgte, entsprach mehr ihren geheimen Neigungen als ihren offen unter dem Andrängen des gewappneten und zu einem gewaltsamen Handstreich bereitstehenden Ritters ausgesprochnen Wünschen. Am 20. Juni 1520 nämlich wurde durch einen päpstlichen Beschluß die Ungültigkeitserklärung der Speierer Sentenz wiederholt, der „Augenspiegel“ als ein ärgerliches, frommen Christen anstößiges, den Juden unerlaubt günstiges Buch verdammt, R. zu ewigem Stillschweigen und zur Zahlung der gesammten Kosten des Processes verurtheilt.

Der Grund dieser nach den früheren Aeußerungen römischer Correspondenten und vieler Cardinäle höchst unerwarteten Entscheidung liegt nicht etwa in den beständig wiederholten Machinationen der Kölner – während die Verwendungen der Reuchlin’schen Sachwalter und Freunde naturgemäß nachließen – sondern in dem zu Rom erfolgten Umschlag der Stimmung. Durch Luther’s Beginnen waren alle Päpstlichgesinnten genöthigt, sich enger zusammenzuschließen und alle Anstrengungen, welche auf die Minderung des päpstlichen Ansehens und des kirchlichen Einflusses abzielten, zurückzuweisen. Dennoch ist es durchaus ungeschichtlich, R. zum Reformator stempeln zu wollen. Trotz einzelner freier Aeußerungen über Papstthum, geistliches Wesen, Reliquienkram, hält er entschieden fest an der unumstößlichen päpstlichen und kirchlichen Autorität in Glaubensdingen und verdammt daher mit großer Lebhaftigkeit frühere Auflehnungen wider diese Macht, z. B. die des Hans Böhme oder die bekanntere des Savonarola. Wohl hat er von Luther und Melanchthon freundliche Briefe erhalten, aber niemals eine Billigung der Ansichten dieser Männer ausgesprochen, ja auch bei Luther’s erstem Auftreten nicht entfernt die Begeisterung gehegt oder ausgedrückt, welche kühle und später wieder streng altgläubig gewordene Humanisten äußerten. Er suchte katholische Orte auf, lehnte es ab, in protestantischen Ländern oder in Gesellschaft erklärter Protestanten zu weilen, ja er erklärte sich in einem an die bairischen Fürsten gerichteten, nach der Verdammung Luther’s geschriebenen Briefe offen gegen diesen und bezeugte seine Unterwerfung unter Rom. Dieser, freilich nicht erhaltene Brief, erregte den Unwillen Hutten’s und veranlaßte diesen zu einem Fehde- und Absagebrief (22. Februar 1521), in welchem er dem ehemals vielgepriesenen Meister rücksichtslos auseinandersetzte, daß er es für unehrenhaft halte eine Partei zu bekämpfen, welcher alle diejenigen angehören, deren Gesinnungsgenosse er in jeder ehrenhaften Sache sein sollte.

Wenn aber spätere Geschichtsschreiber R. wegen dieses Schrittes der Inconsequenz ziehen und sein Schreiben ebenso wie die ihm zu Grunde liegende Anschauung als Aeußerung und Zeichen eines zaghaften Alten beklagten, so befanden sie sich doch im Irrthum. R. gehört zu denen, welche Glauben und Wissen trennen, und während sie für Letzteres die äußersten Consequenzen ziehen und unbedingte Freiheit fordern, in ersterm die Dogmen für durchaus verbindlich und die kirchlichen Bestimmungen für unübertretbar und unveränderlich halten. Sein Hauptruhm besteht in der weiten Ausdehnung des von ihm beherrschten Wissensgebietes, die selbst in jener Epoche der Viel- und Allseitigkeit angestaunt wurde, in der Schlichtheit und Gradheit seines Wesens, in der Beharrlichkeit, in dem heiligen Ernst seines Forschens, und in seiner unbestechlichen [799] Liebe zur Wahrheit. Durch solche Eigenschaften wurde R. einem ganzen Geschlecht verehrungswürdig und kann noch heute mit Recht als Führer und Haupt des deutschen Humanismus gelten.

Die biographische Litteratur beginn mit Melanchthon 1552. Vgl. L. Geiger, Phil. Melanchthon’s Oratio continens historiam Capnionis, Frankf. 1868. – Derselbe: Joh. Reuchlin, sein Leben und seine Werke, Lpz. 1871 und Joh. Reuchlin’s Briefwechsel, Tübingen 1875 (Publicationen des Stuttg. litterar. Vereins). In meinen genannten drei Werken ist die frühere sehr zahlreiche Litteratur genau verzeichnet und kritisch gewürdigt; von einer Einzelaufzählung an dieser Stelle muß Abstand genommen werden. Vgl. auch die bibliographische Zusammenstellung in L. Geiger, Renaissance und Humanismus, Berlin 1882, S. 579 und die biographische Darstellung das. S. 504–525. Von neueren Veröffentlichungen L. Geiger: 5 Briefe Reuchlin’s in Vierteljahrschr. f. Cult. u. Lit. d. Renaissance, Bd. I, S. 116–121, ferner A. Horawitz, Zur Biographie und Correspondenz Joh. Reuchlin’s, Wien 1872 (Briefe Michael Hummelberger’s u. A. hauptsächlich römischer Correspondenten aus einer Münchener Handschrift). Das wichtigste Quellenwerk für den Reuchlin’schen Streit ist die von E. Böcking in Opera Hutteni, Supplem. I, II gegebene Schriftensammlung mit Commentar, Leipzig 1864 und 1871. – Holstein, Reuchlin’s Comödien. Ein Beitrag zur Geschichte des lateinischen Schuldrama, Halle a. S. 1888. Dazu ein Nachtrag im Correspondenzbl. d. Westdeutschen Zeitschr. Jahrg. VIII, Heft 3. März 1889.

[785] *) Zu S. 282.