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ADB:Wigand, Paul

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Artikel „Wigand, Paul“ von Gerhard Bartels in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 89–91, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wigand,_Paul&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 20:39 Uhr UTC)
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Wigand: Paul W., Rechtshistoriker und Geschichtsforscher, ist am 10. August 1786 als Sohn des Professors und Hofarchivars Karl Samuel Wigand in Kassel geboren. In Marburg studirte W. die Rechte und Geschichte. 1807 übernahm er an Stelle seines Vaters die Herausgabe der „Politischen Zeitung“ in Kassel und verwaltete gleichzeitig die Stelle eines Procurators bei den Gerichten in Kassel. Unter Jerome wurde er als Friedensrichter nach Höxter versetzt. Mit Jubel begrüßte er den Freiheitskampf. Unter dem Pseudonym „Veit Weber der Jüngere“ gab er seine „Kriegslieder der Deutschen“ (1813) heraus, die mehr durch die Gesinnung des Verfassers als durch ihren poetischen Gehalt bemerkenswerth sind. Einem dramatischen Festspiel aus dem folgenden Jahre gab er den bezeichnenden Titel: „Der Flußgott Rhein und noch Jemand. Ein Freudenspiel aus den Tagen der Erlösung“ (Marburg 1814). Auch unter preußischer Herrschaft blieb W. in Höxter als Assessor. 1819 ließ er in Höxter sein Hauptwerk erscheinen: „Die Geschichte der gefürsteten Reichsabtei Corvey.“ Eine umfangreiche litterarische Thätigkeit auf dem Gebiete der Geschichte und Rechtsgeschichte folgte aus der Corveyer Geschichte. In diesen Jahren hätte er gern seinen Beruf als Richter aufgegeben, um die Stelle eines Archivars oder Bibliothekars einzunehmen. Verhandlungen, die darüber im Ministerium in Berlin gepflogen wurden, sind zu keinem Resultate gekommen. Dafür bewirkte sein Schwiegersohn, der durch seinen Kampf mit Hassenpflug bekannte Marburger Professor Sylvester Jordan, das Angebot einer Professur in Marburg; aber W. schlug aus, da „er sich dem Staate Preußen verpflichtet fühle“. Preußen belohnte diesen Entschluß. W. wurde 1833 Stadtgerichtsdirector in Wetzlar. Mit Bedauern sah man ihn in Höxter scheiden, besonders die historisch interessirten Kreise in Südwestfalen empfanden den Verlust. In Wetzlar wußte W. ebenfalls die Gebildeten zur lebhaften Theilnahme an der Vergangenheit zu wecken: er gründete dort einen historischen Verein und gab die Zeitschrift: „Wetzlarsche Beiträge für Geschichte und Rechtsalterthümer“ heraus. Mit einer außerordentlich persönlich gefärbten Vertheidigungsschrift trat er 1844 für seinen verfolgten Schwiegersohn Jordan ein. 1848 erbat er seinen Abschied aus dem Justizdienst. Er hat die Muße noch bis zum Jahre 1866 genossen. Noch als 72jähriger hat er das „Lyrische Album aus dem Lahngau“ herausgegeben und darin auch die Kinder seiner Muse veröffentlicht. Doch ein Dichter war W. nicht. Nur einige Epigramme und Elegien sind ihm gelungen. Am 4. Januar 1866 ist W. in Wetzlar gestorben.

Jurist und Geschichtsforscher; daß W. beides war, bestimmt seine litterarische Thätigkeit. Als Geschichtsforscher und Historiograph hat er sich einen Namen gemacht; weniger bekannt sind seine juristischen und rechtshistorischen Werke, und doch hat er in ihnen sein Bestes geleistet. Er hatte sich kaum in [90] die Amtsgeschäfte eines Friedensrichters im Königreich Westfalen eingearbeitet, als er schon den ersten Band seines „Versuchs einer systematischen Darstellung der Amtsgeschäfte der Friedensrichter“ herausgab, dessen erster Band im Frühjahr 1813 eine zweite Auflage erlebte und in Göttingen als „Neues systematisches Handbuch für Friedensrichter des Königreichs Westfalen“ erschien. Nach diesen systematischen Versuchen wandte er sich mehr der Rechtsgeschichte zu. Schon die rechtshistorischen Excurse seiner Corveyer Geschichte (1819) verrathen sorgsames Studium, waren aber nicht einwandfrei. Auch seine beiden Untersuchungen „Das Femgericht Westfalens“ (Nachträge, Wetzl. Beiträge 3, S. 1), Hamm 1825, und „Die Dienste“, ebd. 1828, die heute trotz mancher treffenden Ausführung vergessen sind, fanden damals in maßgebenden Kreisen volle Anerkennung. Er vereinigte sich mit Strombeck zur Darstellung der Provinzialrechte, und zwar bearbeitete er in trefflicher Weise die Provinzialrechte der Fürstenthümer Paderborn und Corvey (Leipzig 1832), Mindens und der Grafschaft Ravensberg (ebd. 1834). Im Auftrage der Regierung entwarf er für den Obergerichtsbezirk Paderborn die Provinzialgesetzbücher. 1854 gab er dann noch eine Sammlung von Abhandlungen heraus, die an der Hand der Wetzlarschen Reichskammergerichtsacten die spätere deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte behandelten. Er nannte sie „Denkwürdigkeiten für deutsche Staats- und Rechtswissenschaft. Gesammelt aus dem Archiv des Reichskammergerichts zu Wetzlar“.

Wie schon gesagt, ist der Name Wigand’s durch seine historischen Arbeiten bekannter geworden. Die Nähe der Abtei Corvey, die Beschäftigung mit dem Archiv dieser Abtei bewirkten es, daß fast alle historischen Arbeiten Wigand’s sich irgendwie mit der Corveyer Geschichte berührten, und Aufgaben bot ja die 1000jährige Geschichte Corveys in unendlicher Fülle. Wigand’s erstes Geschichtswerk ist auch sein Hauptwerk, es ist die breit angelegte „Geschichte der gefürsteten Reichsabtei Corvey“, die 1819 in Höxter erschien. Es war ein kühnes Unterfangen; W. that gleichsam den zweiten Schritt vor dem ersten: ohne ernsthafte kritische Vorstudien benützte er alle ihm zur Verfügung stehenden Quellen, gefälschte wie echte. Die beiden ersten Bände, die zusammen erschienen und die Geschichte Corveys bis 1140 enthalten, wurden mit großem Beifall aufgenommen und verschafften W. die Oberaufsicht über das gesammte Corveyer Archiv. Jetzt erkannte W. selbst die Fehler seiner Geschichte, erkannte die ungeheuren Schwierigkeiten, die in der Sichtung der Quellen vorher zu thun gewesen wären. Nun lieferte er nachträglich gleichsam die Vorarbeiten zu der Corveyer Geschichte, die in Urkunden und Quellenkritiken, Entlarvung von Fälschungen u. s. f. bestanden. In seiner Zeitschrift, dem „Archiv für Geschichte und Alterthumskunde Westfalens“, hat er seine Arbeiten darüber veröffentlicht. 1826 hatte er die Zeitschrift gegründet. Bis 1838, wo sie durch die „Zeitschrift des Vereins für westfälische Geschichte“ abgelöst wurde, war sie die angesehenste historische Zeitschrift des Westens. Aus dem Studium erwuchsen W. größere historische Abhandlungen. So gab er eine Darstellung des Corvey’schen Güterbesitzes; vielleicht sein bestes Werk überhaupt. Dann betheiligte er sich in der Schrift „Die Corvey’schen Geschichtsquellen“ (Leipzig 1841) an dem Streite um die Echtheit des Chronicon Corbeiense, in der er viel interessantes Neues brachte und zum ersten Male Paullini’s Schwindeleien aufdeckte. In der Anordnung der sogenannten „Traditiones Corbeienses“, die er Leipzig 1843 herausgab, hat er sich zwar geirrt, dafür aber doch die Aufmerksamkeit auf dieses interessante Quellenmaterial gelenkt und die Fälschungen Falcke’s aufgedeckt. Seine späteren Aufsätze in Wetzlar veröffentlichte er in der von ihm 1840 gegründeten Zeitschrift [91] des Wetzlarer historischen Vereins, den „Wetzlarschen Beiträgen für Geschichte und Rechtsalterthümer“ (3 Bände). Sie behandeln zumeist die Geschichte des Reichskammergerichts. Im hohen Alter hat er sich noch einmal mit der Corveyer Geschichte beschäftigt; die Früchte dieser Arbeiten waren die 1858 herausgegebenen „Denkwürdigen Beiträge für Geschichte“. Sie behandeln die neuere Geschichte Corveys, zumeist läßt er hier die Acten selbst reden.

Wigand’s Bedeutung liegt nicht in diesen historischen Werken. Auch bei den besten Werken kann die unbedingte Wahrheitsliebe die mannichfachen Mängel der methodischen Forschung nicht verdecken; und dadurch, daß W. immer dazu neigte, seinen wissenschaftlichen Arbeiten einen populären Anstrich zu geben, haftet etwas Dilettantenmäßiges allen seinen historischen Werken an, zumeist aber seiner großen Corveyer Geschichte.

Uneingeschränkt aber ist das Verdienst des Organisators und Conservators Wigand. Im Auftrage der Regierung ordnete er mit Fleiß und Geschick das umfangreiche Corveyer Archiv, unter mühseligen Anstrengungen brachte er Verlorenes wieder herbei. Die Archive der Klöster Marien-Münster, Bursfelde, Neuenheerse, Hardehausen, der Stadt Höxter sind durch Wigand’s Hand geordnet oder geradezu vor dem Untergange gerettet worden. Er erwarb sich durch die Einordnung der Archivalien derartig tüchtige Kenntnisse der Diplomatik, daß man in Berlin einmal daran dachte, für ihn einen Lehrstuhl für Diplomatik an der Berliner Universität zu schaffen. Nach seinen Plänen ist dann später in Wetzlar das Archiv des Reichskammergerichtes geordnet. Die Denkschrift, die er darüber der preußischen Regierung überreichte, hat er in den „Denkwürdigkeiten“ drucken lassen. Nicht minder groß sind Wigand’s Verdienste durch die Gründung zweier historischer Vereine. Die frische Begeisterung für heimathliche Geschichte in Westfalen wußte er zusammen mit Domcapitular Meyer aus Paderborn durch die Gründung des noch heute in Blüthe stehenden Vereins für Vaterländische Geschichte und Alterthumskunde Westfalens fruchtbringend zu machen. Auch in Wetzlar hat er dann später einen historischen Localverein ins Leben gerufen. Und mehrfach hat er dann die Idee vertreten, daß die kleinen localen Geschichtsvereine zu einem Gesammtverbande vereinigt werden müßten. So hat W. auf den verschiedensten Gebieten gleich treu und mit echter Begeisterung gearbeitet. Von Justus Möser zu W. geht eine gerade Linie.

Meusel-Hamberger, Das gelehrte Teutschland, Bd. 21 (ungenau). – Brockhaus, Conversationslexikon „Artikel Wigand“ (von W. selbst durchgesehen). – P. Wigand, Vertheidigung Jordan’s, ein Nachtrag zu dessen Selbstvertheidigung. Mannheim 1844. – Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde Westfalens, Bd. 1, S. 326 und Bd. 6, S. 326 ff. – Reinhold Koser, Die Neuordnung des Preußischen Archivwesens durch den Staatskanzler Fürsten von Hardenberg, S. 5, 53 f., 59 (Heft 7 der Mittheilungen aus der königl. preuß. Archivverwaltung 1904). – Gerhard Bartels, Die Geschichtsschreibung des Klosters Corvey, in den Abhandlungen über Corveyer Geschichtsschreibung, hsg. von Philippi (Veröffentlichungen der Historischen Commission für Westfalen). Münster 1906, S. 161 ff. – Ungedruckte Briefe Wigand’s im Archiv des Vereins für Westfälische Geschichte in Paderborn.