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ADB:Wislicenus, Gustav Adolf

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Artikel „Wislicenus, Gustav Adolf“ von Gustav Frank in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 542–545, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wislicenus,_Gustav_Adolf&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 04:13 Uhr UTC)
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Wislicenus: Gustav Adolf W. wurde am 20. November 1803 zu Battaune bei Eilenburg als des dortigen Pfarrers Sohn geboren. Einer seiner Vorfahren, Johannes von Wisliczky, war in kriegerischer Zeit aus Polen nach Ungarn geflohen und daselbst evangelisch geworden; dessen Söhne, protestantische Geistliche, hatten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts infolge der Glaubensbedrückungen ihre Zuflucht nach Deutschland genommen. Früh verwaist, fand W. zuerst Aufnahme bei einem Bruder seiner Mutter, sächsischem Justizamtmann in Torgau, dann bei einem andern Onkel, dem Regierungsrath Wachsmuth in Merseburg, wo er das Domgymnasium besuchte, welches er 1818 mit der lateinischen Schule des Waisenhauses in Halle vertauschte. Seit Michaelis 1821 Student der Theologie daselbst, wurde er als eifriges Mitglied der Burschenschaft und ihres „geheimen Bundes“ (s. Hase’s Gesammelte Werke XI, 1, 75) 1824 verhaftet und durch gleichlautende Erkenntnisse der beiden Senate des Oberlandesgerichts der Provinz Sachsen wegen Theilnahme am Aufruhr (d. i. an einem zur Befreiung eines Studenten aus dem Polizeigewahrsam entstandenen Tumulte) zu sechsmonatlichem, durch Erkenntniß des Oberlandesgerichts zu Breslau wegen Theilnahme an einer verbotenen, das Verbrechen des Hochverraths vorbereitenden Verbindung zu zwölfjährigem Festungsarrest verurtheilt, jedoch mit Rücksicht auf sein musterhaftes Verhalten und an den Tag gelegte aufrichtige Reue 1829 begnadigt. Nach Vollendung seiner theologischen Studien in Berlin hielt er sich als Candidat, an einer Privatvorbereitungsschule für das Gymnasium Unterricht ertheilend, in Merseburg auf, wurde von der königlichen Regierung 1834 zum Pfarrer in Klein-Eichstedt, Ephorie Querfurt, berufen, 1841 auf seinen Wunsch an die St. Laurentiuskirche auf dem Neumarkt von Halle versetzt. Das Studium der Bibel, als des Grundes, von welchem aus allein der Diener Christi das Reich Gottes mit wahrem Segen fördern kann, im Berliner Criminalgefängniß begonnen, wurde mit sich steigerndem Interesse im Pfarramt von ihm fortgesetzt. Aber von Haus aus kritisch angelegt, gerieth er ins Schwanken. Strauß’ Leben Jesu, von ihm mit Begeisterung und Entzücken gelesen, kam es zum Durchbruch, und immer klaffender wurde der Riß zwischen dem geistlichen Amt und seiner Ueberzeugung. – Unter Uhlich’s (s. A. D. B. XXXIX, 171) Führung hatten 1841 die protestantischen Freunde sich zusammengethan, die Sache des Geistes und der freien Forschung zu führen gegen Buchstaben, Satzungen und anderes Werk des Staubes, Jedem brüderlich verbunden, der an Gott, Tugend und Unsterblichkeit glaubt. Wislicenus’ Altrationalismus, stimulirt durch etliche Tropfen der speculativen (junghegelischen) Philosophie, warf in die Cöthener Pfingstversammlung der Lichtfreunde von 1844 die Frage, ob die h. Schrift normative Autorität habe, in dem Sinn, daß sie aufgehört habe, eine solche zu sein. Denn kein rationaler Theologe oder Nichttheologe glaubt mehr, daß Gott in Menschenweise gehandelt, Zauberei und Weissagung in die Hände der Seinigen gelegt, durch sie Wunder gegen die Gesetze [543] der Natur gewirkt, den Juden die Aegypter zu bestehlen befohlen und particularistische Gebote gegeben habe. Darum höchste Autorität ist nicht die Bibel, sondern der uns selbst einwohnende lebendige Geist der Wahrheit. Die Negation ihrer Autorität ist zudem der Bibel eigenes Postulat. Denn „das Leben des Geistes in den Menschen ist das eine große Ziel der Schrift und der eine große Inhalt ihrer selbst“. Dieser Radicalismus, der an das Wort Kant’s von der Keckheit der Kraftgenies erinnert, welche der Bibel, diesem Leitbande des Kirchenglaubens, sich jetzt schon entwachsen zu sein wähnen, schreckte die Versammlung auf aus ihrer, gewisse Dinge in der Schwebe lassenden, rationalistischen Gemüthlichkeit. Und gerade das hatte W. gewollt. „Um diese Schwebe in der Kirche aufzuheben, die der Tod aller Freudigkeit, Wahrhaftigkeit und Stärke ist, dieses Gebärenwollen und doch Nichtkönnen durch eine frische Wehre zum Ende zu treiben, habe ich in Cöthen gesprochen.“ Die 9. Hauptversammlung der Lichtfreunde (15. Mai 1843) hat W. doch als den Ihrigen anerkannt. „Die Bibel ist uns nicht die unbedingte Norm des christlichen Erkennens und Glaubens, weil sie selbst über ihre Worte und Entwicklungen auf den fortbildenden heiligen Geist hinausweist. Aber wir ehren, lieben und gebrauchen die Bibel als das lebendige Erzeugniß des ersten christlichen Glaubens und Lebens und als das fortwährend geltende Lebens- und Volksbuch der Christen. Weil wir in dieser Ansicht zugleich den Kern der Ansichten des Pastor W. erkennen, so erklären wir, daß wir im Princip mit ihm übereinstimmen“ (A. Th. Woeniger, W. und seine Gegner. 1845). Seinen Gegnern hat W. in seiner, unter dem Titel „Ob Schrift? ob Geist?“ in vier Auflagen 1845 erschienenen, Verantwortung – die durch dieselbe hervorgerufenen Streit- und Vermittlungsschriften sind in Bruns’ Neuem Repertorium für die theologische Litteratur Bd. VIII (1846) S. 127 bis 156 besprochen – folgende fünf Fragen vorgelegt, auf welche er eine klare Antwort ohne Winkelzüge verlangte: „Glaubt ihr an die zu Gibeon stillstehende Sonne? glaubt ihr an den redenden und engelsehenden Esel Bileams? glaubt ihr an den Befehl Gottes für die Israeliten, die Aegypter um ihre goldenen und silbernen Gefäße zu betrügen? glaubt ihr an den, vor den Weisen aus dem Morgenlande hergehenden und endlich über einem Hause stillstehenden Stern? glaubt ihr an den Stater im Fischmaul?“. Guericke in seinem „Komitat für die Dachpredigt des Herrn Pfarrer W.“ (1845), das Schweigen brechend, auf daß nicht Steine schreien müssen, hatte auf diese fünf Fragen „ein frisches, volles und helles einfaches Ja, und abermals Ja und immer und ewig Ja“. Worauf W. meinte, daß er es nun fast selbst glaube, da er sie immer noch reden höre, die Esel. – Bereits unter dem 18. Juli 1844 war W. vom kgl. Consistorium der Provinz Sachsen, dem Guericke es zu unaussprechlicher Schmach anrechnen wollte, wenn es diesen Diener des Wind- und Irrlichterfabrikanten Lucifer unbehelligt lasse, veranlaßt worden, das Concept seines zu Cöthen gehaltenen Vortrags oder, in Ermanglung eines solchen, eine gewissenhafte Darlegung der daselbst von ihm vertretenen Grundsätze einzusenden. W. gab die abgeforderte gewissenhafte Darlegung. Infolge seiner erwähnten Verantwortungsschrift und zweier Eingaben, die eine von vier Hallischen Bürgern, die andere von dem Consistorialrath D. Müller, die Bitte um Schutz gegen Lehrwillkür enthaltend, erhielt er Vorladung zu einem Colloquium in Wittenberg, dann, da er den Zweck eines solchen Colloquiums nicht einsehend an das Ministerium recurrirte, eine Citation nach Magdeburg, um über sein Verhältniß zur geistlichen Amtsverwaltung einvernommen zu werden. Die Einvernahme endete mit Ertheilung eines unerbetenen vierwöchentlichen Urlaubes. Nach abweislicher Bescheidung seines Ministerialrecurses erfolgte für den 14. Mai 1845 die erneute Vorladung zum Colloquium vor den Commissarien Twesten, Snethlage und Heubner in Wittenberg. Es verlief [544] resultatlos. Da er den Rath, sein Amt freiwillig niederzulegen, beharrlich ablehnte, wurde zunächst „die Frist seines Rückzuges von seiner Amtsdeservitur“ verlängert. Sein Gesuch, ihn unter Entbindung von den Lehren der evangelischen Kirche und von der bestehenden Kirchenordnung sofort wieder in die Verwaltung seines geistlichen Amtes eintreten zu lassen, ward unter dem 12. Juli 1845 mit Suspension vom Amte, unter Reducirung des Pfarreinkommens auf die Hälfte, und Einleitung des förmlichen Disciplinar-Untersuchungsverfahrens beantwortet. Am 23. April 1846 erfloß das Urtheil, daß Denunciat wegen grober Verletzung der für Liturgie und Lehre in der evangelischen Landeskirche bestehenden Ordnungen seines Amtes als Pfarrer an der St. Laurentiuskirche auf dem Neumarkte vor Halle zu entsetzen, und ihm die durch die Untersuchung entstandenen baaren Kosten zur Last zu legen seien. Die thatsächlich eingetretenen Verletzungen der bestehenden rechtlichen Ordnungen bestehen der Urtheilsbegründung zufolge 1. in der Weigerung, sich der in der evangelischen Landeskirche bestehenden liturgischen Ordnung zu unterwerfen und insbesondere, das apostolische Glaubensbekenntniß bei der sonntäglichen Liturgie, bei der Taufe und bei der Confirmation zu gebrauchen: 2. darin, daß er für seine Lehrthätigkeit Freiheit von jeder kirchenregimentlichen Lehrnorm und Aufsicht beansprucht und öffentlich zur Verwerfung der h. Schrift als Glaubensnorm auffordert („Die Amtsentsetzung des Pfarrers G. A. Wislicenus in Halle durch das Consistorium der Provinz Sachsen. Actenmäßig dargestellt von G. A. Wislicenus.“ Leipzig 1846). – So vom Amt in der Landeskirche ausgeschlossen, sammelte er in Halle eine freie Gemeinde um sich, in welcher seine Ansichten zur Geltung kamen: Glaube nicht an eine fertige, sondern an eine immer vollkommenere Offenbarung der Wahrheit; die Bibel trotz ihrer hohen Bedeutung für alle Zeiten, doch kein Gesetz des Glaubens; Freiheit in Bekenntniß, Lehre und Gebräuchen; überhaupt keine abgeschlossene kirchliche Confession, sondern eine freie menschliche Gesellschaft. Sie ist immermehr aus dem Rahmen des Christenthums herausgetreten, der Weltgeist verdrängte den h. Geist. Die Predigten wurden zu brüderlichen Besprechungen, das Sacrament zur freien Sitte, ungetaufte Juden waren unter ihren Mitgliedern. W., ein ehrlicher, entschlossener Charakter, aber ohne Verständniß für die Macht des Positiven und eine organische Entwicklung, auf seiner falschen Fragestellung „ob Schrift? ob Geist?“, gleich als ob die h. Schrift des Geistes bar wäre und ihre Bedeutung abhinge von einzelnen in ihr erzählten Wundern, trotzig verharrend, ist vom Christenthum abgedrängt, damit ihm selbst der Lebensnerv durchschnitten worden. Das Jahr 1848 sah ihn als Vorsitzenden des demokratischen Volksvereins in Halle und auf R. Blum’s Einladung als Mitglied des Vorparlaments. – Zum zweiten Male machte W. Aufsehen durch sein Buch „Die Bibel im Lichte der Bildung unserer Zeit“ (1853), womit er unternahm, die Menschen von der alten abergläubischen Verehrung der Bibel zu befreien, indem er dieselbe unter die natürlich-geistige Weltbetrachtung der neuen Zeit stellte. Die Bibel enthält zwar eine Menge guter Züge; es geht überhaupt durch sie hindurch ein Streben nach Heiligung des Menschen. Aber es gibt auch keine Unthat, für welche der Bibelglaube seine Berechtigung nicht eben in der Bibel gefunden hätte. Vom Leben Jesu verbleibt ihm nur ein Skelett: „Er war der Sohn des Holzarbeiters Joseph in Nazareth und wuchs in dieser Stadt auf, indem er wahrscheinlich das Handwerk seines Vaters betrieb, sich aber zugleich mit Lesung der alttestamentlichen Schriften beschäftigte und frühzeitig über religiöse und sittliche Dinge, namentlich auch über das verheißene und gehoffte Messiasreich nachsann. Im Mannesalter trat er als öffentlicher Lehrer, als Rabbi, auf in Synagogen und vor versammelten Volkshaufen. Er gerieth dabei in Gegensatz zu den Schriftgelehrten, besonders der Partei der Pharisäer, und überhaupt [545] zu den Autoritäten des Landes, wurde endlich von ihnen verhaftet, des beabsichtigten Hochverraths angeklagt und hingerichtet. Der Kern seiner erschrockenen Anhänger sammelte sich jedoch bald wieder, behauptete, daß der Hingerichtete der Messias und verkündigte, daß er auferstanden und zu Gott gegangen sei, und von da in nicht langer Zeit wiederkommen werde, um das messianische Reich, an dessen Errichtung er durch die Kreuzigung habe verhindert werden sollen, doch noch ins Werk zu setzen.“ W. hat dieses sein Buch nicht für einen Frevel, vielmehr für eine sittliche That gehalten. Die Behörden sahen es anders an. Das kgl. sächsische Ministerium des Innern erließ ein Verbot der Druckschrift wegen ihrer „destructiven, auf Herabwürdigung von Gegenständen der Verehrung der christlichen Religion gerichteten Tendenz und mit Rücksicht auf ihren vielfach gegen die öffentliche Moral verstoßenden Inhalt“. Vor dem Kreisgericht in Halle erhob der Staatsanwalt am 15. September 1853 gegen W. die Anklage wegen Gotteslästerung, Verspottung der Bibel und Gefährdung des öffentlichen Friedens durch öffentliche Anreizung der Angehörigen des Staates zum Hasse und zur Verachtung gegen einander. Der Gerichtshof sprach in nichtöffentlicher Verhandlung den Angeklagten von der Gotteslästerung frei, fand ihn dagegen der öffentlichen Verspottung von Gegenständen der Verehrung und Lehren im Staate bestehender Religionsgesellschaften schuldig und erkannte auf zweijährige Gefängnißstrafe, Vernichtung des Buches und der zum Druck desselben bestimmten Platten. W. entzog sich der Verhaftung durch die Flucht nach Amerika, kehrte aber im Mai 1856 nach Europa zurück und ließ sich zu Fluntern bei Zürich nieder. In einem zweibändigen Werke „Die Bibel, für denkende Leser betrachtet“ (1863 f., 2. Aufl. 1866) hat er noch einmal seinen Ansichten Ausdruck gegeben. „Wir stehen vor der Bibel als einem Buche der Vergangenheit, ihr weit entrückt durch eine in allen Dingen neue, andere Zeit, mit aller Kraft uns wehrend, wenn sie uns als Joch aufgelegt oder als Wegweiser aufgezwungen werden soll, frei aber sie in ihrer geschichtlichen Größe anerkennend und in diesem Sinne Leben aus ihr saugend, wie je nach dem Maße auch aus anderen Schriften des Alterthums.“ Das alte Testament insbesondere ein Gemisch des Niedrigen und Erhabenen, des Kleinlichen und Großen, des Unreinen und Reinen. Wie aus seiner Schrift „Entweder – Oder. Glaube oder Wissenschaft. Schrift oder Geist“ (1868) erhellt, hat er bis an sein Lebensende († am 14. October 1875) an der Ueberzeugung festgehalten, daß die Zeit des Phantasieglaubens vorüber, die Zeit der wissenschaftlichen Weltanschauung gekommen ist.

F. Kampe, Geschichte der religiösen Bewegung der neueren Zeit (3 Bde., Leipzig 1852–1856) II, S. 172.