Zum Inhalt springen

ADB:Wolf, Rudolf

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Wolf, Rudolf“ von Siegmund Günther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 785–788, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wolf,_Rudolf&oldid=- (Version vom 1. Dezember 2024, 17:43 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Wolf, Peter Philipp
Band 43 (1898), S. 785–788 (Quelle).
Rudolf Wolf bei Wikisource
Rudolf Wolf (Astronom) in der Wikipedia
Rudolf Wolf in Wikidata
GND-Nummer 119160358
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|43|785|788|Wolf, Rudolf|Siegmund Günther|ADB:Wolf, Rudolf}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=119160358}}    

Wolf: Julius[WS 1] Rudolf W., Astronom, geboren am 7. Juli 1816 zu Fällanden (im Kanton Zürich), † am 6. December 1893 zu Zürich. Aus einer alten Züricher Familie stammend, der u. a. auch der Stadtarzt Kaspar Wolf, ein seinerzeit bekannter Astronom und Kalenderschreiber (1532–1601)[WS 2], angehört hatte, war Wolf’s Vater Johannes Pfarrer an verschiedenen Züricher Orten, starb aber bereits 1827. Die Wittwe zog mit ihren drei Kindern in die Kantonshauptstadt, und hier besuchte W., der den ersten Unterricht von seinem Vater empfangen hatte, zuerst die sogenannte Kunstschule, dann aber (1831–33) das technische Institut, welches sich später zur Industrieschule umgestaltete. Hier lernte er unter der Leitung Gräffe’s, dem er 1873 selbst einen pietätvollen Nekrolog widmete, zuerst die Mathematik näher kennen, und als er 1833 die junge Hochschule besuchte, blieben die mathematischen Studien im Vordergrunde. Der neue Ordinarius A. Müller zog ihn allerdings nur wenig an, aber um so mehr war bei den beiden Privatdocenten Gräffe und Raabe zu lernen; dazu wurde bei Eschmann Astronomie, bei Mousson Experimentalphysik gehört. Inzwischen hatte sich in der Schweiz, unter Eschmann’s Vorsitz, eine topographische Gesellschaft gebildet, welche sich eine genauere Landesaufnahme der Schweiz zum Ziele setzte, und als deren thätiges Mitglied erwarb sich W. die ersten Sporen des astronomisch-geodätischen Beobachters. Doch erkannte er auch die Nothwendigkeit weiterer Ausbildung und wanderte deshalb 1836 nach Wien, wo er zu J. J. v. Littrow in nahe, geradezu freundschaftliche Beziehungen trat. Zwei Jahre dauerte der Wiener Aufenthalt; dann ging W. nach Berlin, wo er Encke’s, Dirichlet’s und des genialen Geometers Steiner, seines schweizerischen Landsmannes, Unterricht genoß. Ueber Göttingen, wo er Gauß und Stern, sowie über Bonn, wo er Argelander kennen lernte, zog W. nach Paris, dessen wissenschaftliches Leben ihn jedoch nicht in erwartetem Maße befriedigte, und gegen Ende 1838 traf er wieder in Zürich ein, wo er am Gymnasium eine Hülfslehrerstelle erhielt. Indessen war hier seines Bleibens nicht lange, denn bald darauf berief ihn die Stadt Bern an ihre neu organisirte Realschule als Lehrer der Mathematik und Physik, und hier hat er durch mehr als fünfzehn arbeitsreiche Jahre treu gewirkt.

Abgesehen von ausgiebigem Unterrichte unternahm er mit seinen Schülern weite Wanderungen durch die ganze Schweiz, hielt zahlreiche populäre Vorträge und leistete höchst Verdienstliches für die Bernische Naturforschende Gesellschaft, deren reichhaltiges Archiv er in treffliche Ordnung brachte, in deren „Mittheilungen“ er eine Fülle wissenschaftlichen Stoffes niederlegte. Auch wurde ihm eine besoldete Docentur an der Universität und (1847) die Direction der allerdings etwas vernachlässigten Sternwarte übertragen, welch letztere durch ihn zu bisher ungewohntem Leben erwachte. Er leistete dort, was mit geringen Mitteln und schwachen optischen Kräften zu leisten war, und führte manchen tüchtigen Jüngling in die praktische Astronomie ein. Im J. 1852 verlieh ihm die Berner Hochschule den Doctortitel honoris causa.

[786] Inzwischen war das eidgenössische Polytechnikum zu Zürich begründet worden und, hauptsächlich eben auf Wolf’s Anregung hin, war auch die Ausrüstung einer wesentlich Unterrichtszwecken dienenden, in organische Verbindung mit jener Anstalt tretenden Sternwarte vom Erziehungsrathe beschlossen worden. Im April 1855 berief man ihn zum Gymnasialprofessor in Zürich und legte ihm die gerne übernommene Verpflichtung auf, an der polytechnischen Schule astronomische Curse abzuhalten. Einen Neubau seines Observatoriums erreichte W. erst 1864, und nun übte er an seinem Institute eine intensive, praktische Thätigkeit aus, indem er namentlich unausgesetzt die Sonnenflecke beobachtete. Zum außerordentlichen Professor beider Züricher Hochschulen ernannt, entfaltete er auch als Züricher Hochschullehrer eine ausgebreitete didaktische Wirksamkeit, und der Naturforschenden Gesellschaft des neuen Wohnortes leistete er nicht minder ersprießliche Dienste wie derjenigen des früheren. Als Vorstand der schweizerischen meteorologischen Commission organisirte er diesen Beobachtungsdienst in größerem Stile, und in seinem bisherigen Assistenten Billwiller erhielt der neue Dienstzweig einen höchst geeigneten Leiter. Endlich war W. auch Präsident der von der Regierung der Schweiz, im Anschlusse an das europäische Gradmessungswerk, eingesetzten geodätischen Commission und hat in dieser Eigenschaft, wie wir noch sehen werden, die Geschichte der Kartirung seines Vaterlandes mächtig gefördert. Seine Vorlesungen behandelten mit Vorliebe die Mechanik des Himmels und wissenschaftsgeschichtliche Themen.

W. ist unverehelicht geblieben, und er hätte in der That für die Anforderungen des Familienlebens keine Muße gehabt. Die geradezu verblüffende litterarische Thätigkeit, welche er entfaltete, war nur durch eine mit höchster Strenge und Selbstzucht durchgeführte Oekonomie der Zeit zu ermöglichen. Seinen zahlreichen Freunden aber – und Feinde hat er sicherlich niemals gehabt – bewährte er sich als aufopfernder, liebenswürdiger, stets hülfsbereiter und warmherziger Mensch, und wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, diesen Charakter genauer kennen zu lernen Gelegenheit hatte, wird ihm stets das ehrendste Andenken bewahren. Bei seiner exacten Lebensweise war W. kaum je in seinem Leben ernstlich krank gewesen, und allgemein hätte man ihm ein sehr hohes Alter prognosticirt. Auch überstand er noch anscheinend gut eine heftige Brustfellentzündung, aber von den Nachwirkungen dieses Anfalles vermochte er sich nicht mehr zu erholen.

Wenn wir nunmehr einen Blick auf Wolf’s Stellung in der Wissenschaft werfen, so fallen uns zunächst die von ihm selbständig im Druck herausgegebenen Bücher auf. In der Jugend hatte die Geometrie große Reize für ihn, wie denn schon seine erste Arbeit (Annalen der Wiener Sternwarte, 1839) die Curven zweiter Ordnung behandelte, und als Hülfsbuch für seinen Unterricht ließ er eine neue und originelle Darstellung dieses Faches erscheinen („Die Lehre von den gradlinigen Gebilden in der Ebene“, Bern und St. Gallen 1841, 2. Aufl. 1847), welche sich insonderheit durch ihre Auffassung des Vielecksbegriffes und die überraschend einfache Ableitung der trigonometrischen Grundformeln auszeichnete. Bald folgte ein durch Kürze und Inhaltsreichthum ausgezeichnetes, durch sieben Ausgaben in seiner Nützlichkeit genugsam gekennzeichnetes Vademecum („Taschenbuch für Mathematik, Physik, Geodäsie und Astronomie“, neueste Auflage, Zürich 1896, besorgt von Prof. Wolfer, Wolf’s Nachfolger in der Direction der Sternwarte). Was das Taschenbuch auf kleinem Raum erstrebte, sucht das Handbuch („Handbuch der Mathematik, Physik, Geodäsie und Astronomie“, 2 Bde., Zürich 1872) im Großen zu erreichen, und zwar ebenfalls mit glücklichem Erfolge. Auf eine Reihe kleinerer Veröffentlichungen über historische Dinge – über Kometen, Erfindung des Fernrohres, [787] Entdeckungen von W. Herschel u. A. – erfolgte dann 1877 das auf Veranlassung der historischen Commission bei der bair. Akademie der Wissenschaften abgefaßte Geschichtswerk („Geschichte der Astronomie“, München), über welches es unter den Beurtheilern keinerlei Meinungsverschiedenheit gab und geben konnte. Es ersetzt für jeden auf diesem Gebiete Arbeitenden eine kleine Bibliothek und ist durchaus unentbehrlich. Wenn auch für minder ausgedehnte Kreise bestimmt, muß der geschichtlich-geodätischen Monographie („Geschichte der Vermessungen in der Schweiz“, Zürich 1879) ganz das gleiche Lob gezollt werden. Schon als Greis endlich ging W. mit wahrhaft jugendlicher Schaffenskraft an die Ausarbeitung eines umfassenden, die ganze Sternkunde mit allen ihren Hülfsdisciplinen einheitlich darstellenden und mit einem colossalen wissenschaftlichen Apparate auszustattenden Compendiums, und ein wohlwollendes Geschick fügte es, daß der Siebenundsiebzigjährige dieses Lebenswerk noch abgeschlossen vor sich sehen durfte, ehe die nimmer rastende Feder seiner Hand entsank. Was, um nur einen einzigen Punkt hervorzuheben, diesen vier enggedruckten Halbbänden („Handbuch der Astronomie, ihrer Geschichte und Litteratur“, Zürich 1890–93) einen ganz besondern Werth verleiht, ist der Umstand, daß wol von jeder einzelnen Person, die sich nur je einmal mit Astronomie beschäftigt hat, die zuverlässigsten, oft mit vieler Mühe beschafften Lebensskizzen beigebracht werden. Hiefür interessirte sich eben W. von jeher, und seine vier Bändchen (Zürich 1858–62) füllenden „Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz“ sind ein wahres Muster für wissenschaftliche Lebensbeschreibung. Die Menge des darin bis ins kleinste Detail durchgearbeiteten Materiales ist eine ungeheure.

Die einzelnen Aufsätze Wolf’s zur Mathematik, Astronomie und Geschichte des gesammten Naturwissens auch nur summarisch registriren zu wollen, wäre ein ganz vergebliches Bemühen; weist doch Graf’s sorgfältiges Publicationenverzeichniß im ganzen 258 (!) Nummern auf. Die große Mehrzahl derselben ist in den Vereinsorganen der Berner und Züricher Naturforschenden Gesellschaften vereinigt. Nur gedacht sei der Wolf’s Riesenfleiß und Experimentirgeschicklichkeit documentirenden Untersuchungen über Erfahrungswahrscheinlichkeit: er zeigte einerseits durch Würfelversuche, daß bei sehr vielfältiger Wiederholung in der That die beobachtete Wahrscheinlichkeit der berechneten sich nähert, und fand andererseits, indem er ein gradliniges Drahtstückchen immer wieder auf eine gegitterte Tafel warf, einen von der Wahrheit nicht allzu weit abweichenden empirischen Werth für das Verhältniß des Kreisumfanges zum Durchmesser. Geradezu unermeßlich ist der Reichthum an Thatsachen, welchen W. in zwei durch viele Jahre sich hindurchziehenden Veröffentlichungen – „Notizen zur Kulturgeschichte der Schweiz“ und „Astronomische Mittheilungen“ – niederlegte. In diesen letzteren ist u. a. eine völlige Geschichte der astronomischen Instrumentenkunde enthalten, die sich großentheils auf eigene Wahrnehmungen stützt, denn W. hatte seine Sternwarte mit Opfern aller Art zu einem Museum historisch bemerkenswerther Apparate auszugestalten verstanden.

Als Astronom widmete W. seine Arbeitskraft fast ausschließlich der Sonne, und inbezug auf sie glückte ihm eine Entdeckung, welche für alle Zeiten mit seinem Namen verknüpft bleiben wird. Indem er als ein höchst bequemes Mittel zur Bestimmung und Vergleichung der Fleckenzustände unseres Centralgestirns seine allseitig adoptirten „Relativzahlen“ einführte, gelang ihm der Nachweis, daß alle 111/9 Jahre die Fleckenfrequenz sich wiederholt („Neue Untersuchungen über die Sonnenfleckenperiode und ihre Bedeutung“, Bern 1852). Bald trat die correspondirende Entdeckung hinzu, daß auch in den Kraftäußerungen des Erdmagnetismus eine ganz gleiche Periode sich offenbart. Der Engländer [788] Sabine und der Schweizer Gautier hatten selbständig die gleiche Wahrnehmung gemacht, aber W. gebührt der Ruhm der ersten Bekanntgabe im Druck, und zudem hat er dann 41 Jahre darauf verwendet, das merkwürdige Zahlenverhältniß noch genauer festzusetzen und kraft einer Belesenheit in den Quellen, die nur allein ihm eigen war, als auch für frühere geschichtliche Zeiträume zu Recht bestehend darzuthun. Und diese gigantische Aufgabe hat er in seinen „Astron. Mittheil.“ so vollständig gelöst, als sie überhaupt lösbar ist, und zu dem Zweck, daß auch künftighin die Züricher Sternwarte den Studien über Sonnenphysik eifrig obliegen könne, stiftete deren erster Director ein Legat, dessen Zinsen der Bundesrath auszubezahlen hat. Es ist mithin erfreulicherweise dafür gesorgt, daß die Stätte, welche W. bei Lebzeiten geweiht hat, dieser ihrer Bestimmung dauernd gerecht bleiben wird.

J. H. Graf, Professor Dr. Rudolf Wolf 1816–1893. Bern 1894. – Riggenbach, Prof. Rudolf Wolf, Allgemeine schweizerische Zeitung (Basel), 1893, Nr. 291. – Bion, Zum Gedächtnis an Dr. J. Rud. Wolf, Professor d. Astronomie u. Director d. Sternwarte in Zürich (Schweiz. Protestantenbl., 1893, Nr. 50).


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ob der Vorname nun Julius oder Johann, ist noch abzuklären. Wolf hat diesen ersten Vornamen in seinen Veröffentlichungen meist gar nicht genannt.
  2. Abgesehen vom Geburtsjahr könnte es sich um Kaspar Wolf (1525–1601) handeln.