ADB:Gauß, Carl Friedrich

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Artikel „Gauß, Karl Friedrich“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 8 (1878), S. 430–445, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gau%C3%9F,_Carl_Friedrich&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 09:16 Uhr UTC)
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Gauß: Karl Friedrich G., Mathematiker, Astronom und Physiker, geb. den 30. April 1777 in Braunschweig, † den 23. Februar 1855 in Göttingen. Gerhard Diedrich G. war ein einfacher Handwerker, der, durch tüchtige Geistesgaben unterstützt, durch redlichen strengen Fleiß seiner Familie eine gewisse, wenn auch niedrig zu bemessende Wohlhabenheit verschaffte. Er hatte zwei unter einander sehr ungleiche Söhne. Der ältere, Georg, der immer ein schlichter, vielleicht sogar etwas beschränkter Alltagsmensch blieb, stammte aus einer ersten Ehe. Karl Friedrich, welchen diese Lebensbeschreibung zu schildern hat, war der Sohn der zweiten Frau, Dorothea Benze. Der Vater starb 1808. In den letzten Lebensjahren hatte er neben der Gärtnerei hauptsächlich das Rechnungswesen einer großen Todtenkasse geführt. Die Mutter erreichte das hohe Alter von 97 Jahren und starb 1839 auf der Göttinger Sternwarte, wo sie die letzten 22 Jahre die treue Pflege ihres großen Sohnes genoß. G. war ein Kind von wunderbar frühreifer Entwicklung. Nicht oft mag es vorkommen, daß ein Kind das Lesen von selbst erlernt, indem es die Bedeutung der einzelnen Buchstaben bald diesem, bald jenem Hausgenossen abfragt. Fast unglaublich erscheint die gut verbürgte Geschichte, daß das dreijährige Kind zuhörend, wie der Vater Taglöhner für stundenweise Arbeit ablohnte, die Auszahlung mit dem Zurufe unterbrach, die Summe sei nicht richtig, es betrage so viel, und daß seine Angabe bei wiederholt angestellter Rechnung sich als die richtige erwies. Ein kleines Ereigniß von für den Bildungsgang von G. bedeutendster Tragweite war folgendes: Er war eben 9 Jahre alt, als er 1786 in die Rechenschule kam. Die erste Aufgabe, welche Büttner, der wegen seiner Strenge gefürchtete Lehrer, den Schülern vorlegte, betraf die Addition von Zahlen, welche eine arithmetische Reihe bildeten. Kaum hatte der Knabe den Wortlaut der Aufgabe gehört, so schrieb er zuerst von allen Schülern ohne jegliche Zwischenrechnung die Endsumme [431] auf seine Tafel und legte sie, wie es eingeführt war, umgedreht auf den Schultisch in die Mitte des Zimmers. Als alle Tafeln so abgegeben waren und verglichen wurden, war die Zahl des kleinen voreiligen Schreibers eine von den wenigen richtigen. Er entging so nicht blos der ihm für seine Leichtfertigkeit zugedachten gründlichen Bekanntschaft mit der Reitpeitsche des Lehrers, Büttner ließ sogar selbst ein besseres Rechenbuch aus Hamburg kommen, um es dem Knaben zu geben. Auch den Vater ließ entweder Büttner oder ein gewisser Bartels zu sich rufen, ihm die sorgsamste Erziehung des jungen Genius an das Herz zu legen. Den Einwürfen, woher die Mittel zum Studium zu nehmen seien, wurde mit der Versicherung begegnet, die Unterstützung hochgestellter Gönner werde sich gewinnen lassen, und so wurde dem widerwillig Nachgebenden auch noch abgerungen, daß der Knabe nicht mehr wie sonst allabendlich eine bestimmte Menge Flachs spinnen müsse. Es heißt Gauß’s Vater habe, von der Unterredung nach Hause kommend, der Abmachung getreu sogleich angeordnet, daß das kleine Spinnrad in den Hof getragen und zu Küchenholz gespaltet wurde.

Statt des Spinnrades wurden jetzt mathematische Bücher die Abendbeschäftigung von G. Für ihre Anschaffung sorgte, bei ihrer Einprägung unterstützte der damals 18jährige Gehilfe Büttners, der vorgenannte Johann Martin Christian Bartels. Bartels, in Braunschweig am 12. August 1769 geboren, widmete sich selbst der Mathematik. Er besuchte seit 1788 das Collegium Carolinum seiner Vaterstadt, kam dann als Professor der Mathematik erst nach Reichenau in der Schweiz, später nach Kasan in Rußland, endlich nach Dorpat, wo er pensionirt am 19. December 1836 gestorben ist. Seine Tochter verheirathete sich mit dem Astronomen Struve. Als Schriftsteller trat Bartels mit gesammelten Abhandlungen über Funktionenlehre (1822), mit einem Aufsatze über analytische Geometrie des Raumes in den Berichten der Petersburger Akademie (1831) und mit Vorlesungen über mathematische Analysis, Band I (einziger 1833) auf. Außerdem übersetzte er Bailly’s Geschichte der Astronomie ins Deutsche. In demselben Jahre 1788, in welchem Bartels die Hilfslehrersteller bei Büttner aufgab, um in das Collegium Carolinum zu treten, kam G. aus der Elementarschule in das Gymnasium. Die dem Vater ertheilte Zusicherung war Wahrheit geworden. Hochstehende Gönner, besonders der Geheime Etatsrath von Zimmermann, waren G. gewonnen, hatten sich für ihn bei Herzog Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig verwandt. 1791 wurde G. als Primaner bei Hofe vorgestellt, und von dieser Vorstellung datirt eine bleibende Fürsorge des Fürsten für das aufkeimende, sich immer deutlicher entwickelnde Talent. Auf Kosten des Herzogs durfte G. zunächst seit 1792 am Collegium Carolinum, dann in Göttingen fertig studiren, auf seine Kosten sich nach beendetem Studium der Wissenschaft als solcher widmen, ohne einen eigentlichen Beruf zu wählen. Der ihm ausgesetzte Jahresgehalt betrug schon 1801 die damals zum Unterhalt ausreichende Summe von 400 Thalern und wurde zu Anfang 1803 noch vor der 27. Geburtstagsfeier des nun bereits weitberühmten Gelehrten abermals erhöht auf 600 Thaler nebst freier Wohnung.

G. war 1795 zur Universität Göttingen abgegangen. Aber der Abiturient hatte schon in Braunschweig in astronomischen Rechnungen sich geübt, hatte im letzten Jahre seines Aufenthaltes in der Vaterstadt die „Methode der kleinsten Quadrate“ erfunden, jene Methode Beobachtungen so in Rechnung zu bringen, daß die unvermeidlichen Beobachtungsfehler dem Ergebnisse möglich geringsten Schaden bringen, daß vielmehr die Abweichungen der schließlich gewonnenen Werthe von den erfahrungsmäßig gefundenen im Ganzen und im Einzelnen so klein als möglich ausfallen. Zu derselben Methode scheint auch Daniel Huber in Basel gekommen zu sein. Ebenso erfand sie selbständig Adrien Marie Legendre [432] (1752–1833), und dieser veröffentlichte sie 1805 in seinen Nouvelles méthodes pour la détermination des orbites, während die Gauß’sche Ableitung erst 1809 im Drucke erschien. So erwarb sich nach der üblichen Sitte das Datum der Veröffentlichung einer Entdeckung als das der Entdeckung selbst gelten zu lassen Legendre allerdings das Erstlingsrecht, wogegen G. unter allen Umständen das Verdienst zukommt durch Zusatzabhandlungen aus den zwanziger Jahren, die Methode gegen alle Einwände gesichert und für den Gebrauch so bequem zugerichtet zu haben, daß sie jetzt erst ihre volle Nutzbarkeit entfalten konnte, und daß seit dieser Zeit an eine Anwendung irgend einer anderen Combinationsweise von Beobachtungen nicht mehr zu denken ist.

Gleichfalls auf der Schule 1792 oder 1793 hat G. auch bereits dem Gesetze der Primzahlen, d. h. ihres immer selteneren Auftretens in der Reihe der natürlichen Zahlen nachgeforscht. Auf der Schule hat er die Schriften eines Euler, eines Lagrange, eines Newton in sich aufzunehmen gewußt, den Ersteren sich zum Muster für den Inhalt, den Letzteren für die Form der eigenen Arbeiten wählend, jenem also nacheifernd in Untersuchungen über die sogenannte höhere Zahlenlehre, diesem in der Strenge der Beweisführung, welche nur meistens leider den Weg verhüllt, auf welchem die großartigen Entdeckungen ursprünglich gewonnen wurden.

G. bezog also die Universität, ausgerüstet mit einem Wissen und zu einer Geistesreife gediehen gleich denen, mit welchen viele beim Verlassen der Hochschule sich begnügten. Andere Schüler bedürfen anderer Lehrer. Die mathematischen Vorlesungen eines Kaestner vermochten G. nicht zu fesseln. Nicht als ob wir an der fast gewohnheitsmäßigen Unsitte theilnähmen in Abraham Gotthelf Kaestner (s. d.) eine wissenschaftliche Null zu erblicken, aber einem G. gegenüber war das breite am Liebsten keinerlei Kenntnisse voraussetzende Verweilen bei ziemlich niedrigen Dingen, welches wir aus Kaestner’s Schriften kennen, nicht am Platze. Ihm waren die elementaren Gegenstände, welche in den Göttinger Vorlesungen über Mathematik allein zur Sprache kamen, und welche nicht etwa eine Eigenthümlichkeit Göttingens waren, sondern für das mathematische Studium an allen deutschen Universitäten um die Wende und in dem ersten Viertel unseres Jahrhunderts den gleichen seichten Stand darstellten, bereits überwundene Dinge. Jede Vorlesung mußte G. mit der Ueberzeugung erfüllen, daß er hier nichts mehr lernen könne, und verglich er dieses ihn überkommende Gefühl der Geringschätzung mit der verhimmelnden Bewunderung, die man von anderer Seite Kästner entgegenbrachte, so mußte wohl ein Zweifel in ihm wach werden, ob er selbst zum Lehrer der Mathematik, dieser Mathematik sich ausbilden solle, so mußte ein Widerwille gegen mathematischen Unterricht überhaupt bei ihm entstehen.

Dieser Widerwille gepaart mit der Freude, welche ihm die gleichzeitig gehörten, ihn geistig anregenden Vorträge Heyne’s bereiteten, hätten G. fast der ganzen Mathematik abtrünnig gemacht und der Philologie zugeführt, für welche er stets auch in späteren Jahren eine wahre Neigung besaß, wenn nicht bei den arithmetischen Forschungen, denen er selbständig sich hingab, ihm Fund auf Fund geglückt wäre, so im März 1795 der Satz, daß quadratischer Rest der Primzahlen von der Form , quadratischer Nichtrest der Primzahlen von der Form sei und ein Jahr später, am 30. März 1796, die Entdeckung der Einzeichnung eines regelmäßigen Siebzehnecks in einen gegebenen Kreis. Das war eine unerwartete Bereicherung eines mehr als 2000 Jahre für abgeschlossen gehaltenen Capitels der Geometrie, des Capitels von den mit Hilfe von Zirkel und Lineal construirbaren regelmäßigen Vielecken, als welche man bis dahin nur Dreiecke, Vierecke, Fünfecke und solche Vielecke vermuthete, deren Eckzahl durch fortgesetzte Verdopplung der Zahlen 3, 4, 5 entstand. Und die Bereicherung kam von einer Seite her, wo Niemand sie zu suchen gedacht hatte. Ein ganz [433] neues arithmetisch-geometrisches Gebiet war aufgeschlossen, die Lehre von der Kreistheilung, wie man heute sagt, war begründet. Von dieser Entdeckung war G. in höchstem Grade befriedigt, und nun war es für ihn entschieden, daß er bei der Mathematik bleibe. Nicht Lehrer aber Gelehrter zu sein, das war das Lebensziel, welches er sich stellte, und wenn doch eine äußere Berufsthätigkeit dazu nöthig wäre, dachte er sich am Liebsten als Vorsteher einer Sternwarte. Nicht als ob er jemals sonderliche Freude an eigentlich beobachtender Astronomie gefühlt hätte, aber in dieser Stellung durfte er sich versprechen am Wenigsten mit Lehrvorträgen seine Zeit zersplittern, vergeuden zu müssen, wie er es auffaßte, und auf dem theoretischen Gebiete war für ihn Manches zu thun, diese Ueberzeugung hatten ihm seine Untersuchungen über die Berechnung von Beobachtungen hinterlassen.

Solche Wünsche im Herzen verließ G. im Herbste 1798 Göttingen und kehrte nach Braunschweig zurück, dort zunächst schriftstellerisch thätig zu sein und die Gedanken in Worte zu fassen, die ihm so verschiedenartig, so mächtig zuströmten, daß es ihm nach seiner eigenen späteren Aussage geradezu unmöglich war alle, auch nur in flüchtigen Umrissen, zu Papier zu bringen. An Göttingen dachte er dabei mit geringer Anhänglichkeit zurück. Nur zwei Commilitonen hatte er dort gefunden, welche er sich ebenbürtig erachtete und mit denen er im persönlichen Verkehre Gedanken über die höchsten Probleme der Philosophie der Mathematik auszutauschen liebte: Johann Joseph Anton Ide aus Braunschweig, der sich in den astronomischen Wissenschaften einen geachteten Namen erwarb, und ganz besonders Wolfgang Bolyai. Der Name dieses Mannes, der in Maros Vásárhely in Siebenbürgen ein lange unbekanntes stilles Dasein geführt hat, ist gegenwärtig für alle Zeiten mit dem der absoluten Geometrie verknüpft. Es ist nicht möglich jetzt noch zu ermitteln, wie viel Antheil G. an dem Lebenswerke seines Freundes gebührt. Sicher ist, daß schon in Göttingen die Grundlagen der Geometrie einen Gegenstand ihrer Gespräche bildeten. Sicher ist, daß G. von der Möglichkeit einer antieuklidischen Geometrie (dieses war sein eigener Ausdruck) neben der euklidischen überzeugt war, d. h. einer solchen, in welcher die bekannten Sätze über grade Parallellinien in einer Ebene und die Winkel, welche sie mit einer gleichfalls graden Schneidenden bilden, Sätze, welche unbewiesen, möglicherweise unbeweisbar bald in dieser, bald in jener Form, bei Euklid in Gestalt des berüchtigten XI. Axioms erscheinen, nicht als richtig anerkannt werden. Daß jenes Axiom nicht von selbst einleuchte, daß es ein Lehrsatz sei, der bewiesen werden müsse, hatte man schon vielfach, hatte schon der große Astronom Ptolemaeus in der Mitte des zweiten Jahrhunderts eingesehen, aber von diesem Zweifel an der Zulässigkeit eines axiomatischen Aussprechens bis zu dem Zweifel an der nothwendigen Wahrheit des Satzes lag ein Schritt von erschreckender Kühnheit, den vor Bolyai und G. kein Mathematiker wagte, und welchen noch heute gar Manche scheu vermeiden.

Wir sagten, daß G. für Göttingen damals keine Anhänglichkeit besaß, und so mag nicht blos die geringere Entfernung der Universität Helmstädt von Braunschweig die Veranlassung geboten haben, daß G. die dortige Bibliothek bei seinen Arbeiten zu Rathe zog, daß er sogar 1799 für einige Zeit seine Wohnung dort aufschlug und zwar in dem Hause des tüchtigen Mathematikers Johann Friedrich Pfaff, der seit 1788 der dortigen Professur der Mathematik vorstand. Ein Verhältniß von Lehrer zu Schüler bildete sich zwischen den beiden Männern nicht aus, eher ein solches von Freund zu Freund, wenn es auch keineswegs unwahrscheinlich ist, daß G. bei den anregenden Gesprächen auf ihren gemeinsamen Abendspaziergängen – mag er immerhin häufiger der Gebende als der Empfangende [434] gewesen sein – bereut haben dürfte nicht sofort von der Schule aus nach Helmstädt gegangen zu sein, wo er einen seiner Geistesrichtung mehr zusagenden Lehrer gefunden hätte als in Göttingen.

Die Früchte des Helmstädter Aufenthaltes waren mannichfaltig. Als erste schickte G., nach Braunschweig zurückgekehrt, noch im gleichen Jahre 1799 eine Abhandlung an die philosophische Facultät in Helmstädt ein, auf welche hin ihm der Doctorgrad in Abwesenheit ertheilt wurde. War Letzteres auch keineswegs ein irgendwie ungewöhnliches Ereigniß, die Abhandlung selbst war es im höchsten Grade. Doctordissertationen auch der größten Gelehrten haben nur selten mehr als vorübergehenden Werthes sich erwiesen, ganz anders die von G. Die Grundlage der ganzen Lehre von den Gleichungen wird durch den Satz gebildet, daß jeder als Summe von Potenzen einer und derselben Unbekannten mit positiven ganzzahligen Exponenten geordnete Ausdruck in reelle Factoren ersten oder zweiten Grades bezüglich jener Unbekannten zerlegbar sei. Dieses Fundamentaltheorem der Algebra war längst bemerkt worden. Viele Schriftsteller hatten vermeintlich strenge Beweise desselben veröffentlicht. G. zeigte nun in einem ersten Theile, einem Muster historischer und kritischer Darstellung, daß alle jene früheren Beweise nur Scheinbeweise, nur mißglückte Versuche waren, und in einem zweiten Theile seiner Dissertation von tadelloser dogmatischer Schärfe ließ er dann einen unanfechtbaren Beweis des wichtigen Satzes folgen. G. hat später im December 1815, im Januar 1816 einen zweiten und dritten gleich strengen, von dem ersten durchaus verschiedenen Beweis geliefert. Er ist 1849 bei der Feier seines 50jährigen Doctorjubiläums wiederholt in einer Abhandlung, der letzten, die er überhaupt selbst dem Drucke übergab, auf den Gegenstand zurückgekommen. Der Beweis von 1849 ist im Wesentlichen nur die Ausarbeitung eines in der Doctordissertation schon angedeuteten Gedankens. Welcher Beweis als der eigenthümlichste, als der schönste angesehen werden soll, ist Geschmacksache, und es spricht gewiß für sämmtliche, wenn von verschiedenen Schriftstellern bald diesem, bald jenem das höchste Lob gespendet wird. Was übrigens den ersten Beweis betrifft, so muß, ohne den anderen zu nahe treten zu wollen, hervorgehoben werden, daß in ihm bereits eine Auffassung zu Tage tritt, welche seitdem den Werth einer Methode erlangt hat: die Abgrenzung gewisser Theile der Zeichenebene durch eine Figur und die Unterscheidung von Punkten innerhalb und außerhalb des abgegrenzten Stückes.

Weit umfangreicher als die Doctordissertation war ein anderes Werk, an dem G. seit dem Herbste 1797 schrieb, welches während des Helmstädter Aufenthaltes fertig gestellt wurde, aber verschiedener Druckhindernisse wegen erst 1801 mit einer Widmung an den fürstlichen Gönner, den Herzog von Braunschweig, unter dem Titel der „Disquisitiones arithmeticae“ die Presse verließ. Wir haben die Kreistheilung schon oben als ein ganz neues von G. geschaffenes Capitel der Mathematik bezeichnet. Sie findet sich in den Disquisitionen (wie man das merkwürdige Buch gewöhnlich in abgekürzter Benennung bezeichnet) als siebenter und letzter Abschnitt behandelt. Aber sechs andere Abschnitte gehen voraus, in welchen gehäuft erscheint, was viele Jahrhunderte von Diophant bis G. auf dem Gebiete der Zahlenlehre zu schaffen vermochten, was aber thatsächlich, auch wenn es früheren Schriftstellern nicht entgangen war, größtentheils von G. selbständig nacherfunden wurde, der erst hinterdrein mit den Veröffentlichungen der Petersburger und der Berliner Akademie bekannt worden war, die ihm als Quellen hätten dienen können. Hier ist nicht der Ort auf den Gegenstand der Disquisitionen oder auch nur auf die zahlreichen Einzelheiten, welche G. wirklich angehören oder von ihm in ganz neuer Darstellung behandelt wurden, einzugehen. Fast zufällig heben wir aus dem reichen Schatze zwei Dinge heraus: [435] die Lehre von den quadratischen Formen, und den Namen der Determinanten, der zuerst von G. eingeführt worden ist. Anderes wird noch bei anderer Gelegenheit zu erwähnen sein. „Die Mathematik“, äußerte sich G. einmal, „sei die Königin der Wissenschaften und die Zahlenlehre die Königin der Mathematik.“ Wenn dieses Wort wahr ist, so kann man es dahin fortsetzen, daß man die Disquisitionen die Magna Charta der Zahlenlehre nennt. Das war der Vortheil, den die Wissenschaft aus der noch häufig zu beklagenden allzuzögernden Veröffentlichungsweise von G. gezogen hat; was er in Druck gab, ist heute wahr und wichtig wie am ersten Tage; es sind Gesetzbücher, darin den menschlichen Anordnungen überlegen, daß nie und nirgend ein Fehler darin nachgewiesen worden ist. So kann man auch das stolze Urtheil verstehen und billigen, welches G. am Abende seines Lebens über die erste größere Jugendarbeit fällte: „Die Disquisitiones arithmeticae gehören der Geschichte an!“

G. blieb den zahlentheoretischen Untersuchungen, wenn auch mit langjährigen Unterbrechungen, getreu. Abhandlungen über die biquadratischen Reste erschienen 1817 und 1831. Aus seinem Nachlasse sind werthvolle Bruchstücke eines achten Abschnittes der Disquisitionen, sogenannte Congruenzen höherer Grade behandelnd, herausgegeben. Als die Disquisitionen 1801 herauskamen, fanden sie auf dem zahlentheoretischen Gebiete bereits ein Werk ebendesselben Verfassers vor, der bezüglich der Methode der kleinsten Quadrate schon als Nebenbuhler von G. genannt werden mußte. Legendre’s Théorie des nombres war 1799 erschienen. Sie war französisch geschrieben, die Gauß’schen Disquisitionen bedienten sich, gleich den meisten Abhandlungen desselben Verfassers, der lateinischen Sprache. Es war ein classisches Latein, zu dem Ausspruche Gelegenheit gebend, Cicero, falls er Mathematik verstanden hätte, würde an der Gauß’schen Latinität nichts auszusetzen gefunden haben, als vielleicht einige Mathematikern gewohnte sprachliche Unarten, deren G. sich vollkommen bewußt bediente. Aber es war immer Latein und darum nur einen engeren Kreis von Lesern anmuthend. Die Disquisitionen zeigen ferner die Eigenthümlichkeit in höchstem Grade, welche wir oben als durch das Studium Newton’s hervorgerufen zu erklären suchten: sie sind bei der größten Strenge nur in geringem Maße durchsichtig. Sie lassen einen Einblick in die Geisteswerkstatt des Verfassers nicht zu. Sie geben nicht zu erkennen, wie die einzelnen Sätze gewonnen wurden, deren Beweise unter Umständen nach fünf und mehr Methoden geführt stets neue Wahrheiten aufdecken, aber deren Ursprung nur um so mehr in Dunkel hüllen. So begreifen wir, daß der Erfolg der Disquisitionen ein nur sehr allmählicher war, fast zusammentreffend mit dem Erscheinen der späteren zahlentheoretischen Abhandlungen. Fast nur die Construction des Siebzehnecks erwarb sich rasche, allgemeine Bewunderung, das Uebrige blieb durch Jahrzehnte für die meisten Mathematiker ein Buch mit sieben Siegeln. Materielle Vortheile waren für den Verfasser der Disquisitionen mit dem Erscheinen derselben nur so weit verbunden, als die Petersburger Akademie ihn unter dem 31. Januar 1801 zum correspondirenden Mitgliede ernannte und Herzog Carl Wilhelm Ferdinand seinen Dank für die Widmung in die Gewährung des schon erwähnten Jahresgehaltes von 400 Thaler kleidete, welche G. zu der seine Bescheidenheit kennzeichnenden Aeußerung veranlaßte: „Aber ich habe es ja nicht verdient, ich habe noch nichts für das Land gethan.“

Die Leistung, welche seinem Namen die größte Bekanntschaft in Gelehrten- wie in Laienkreisen sichern sollte, stand vor der Thüre. Der sicilianische Astronom Piazzi hatte am 1. Januar 1801 und an verschiedenen darauf folgenden Tagen des gleichen Monats einen Stern beobachtet, den er zuerst für einen Kometen hielt, dann als Planeten erkannte. Es war Ceres, die erstentdeckte der jetzt (1878) in einer Anzahl von weit über 150 bekannten Asteroïden. Zur Wiederauffindung [436] des neuerdings unsichtbar gewordenen kleinen Himmelskörpers mußte aus den wenig zahlreichen Beobachtungen Piazzi’s eine muthmaßliche Planetenbahn berechnet werden, welche die Himmelsgegend, innerhalb deren man den Flüchtling bei dem nächsten Wiedererscheinen aufzusuchen haben würde, annäherungsweise zum Voraus bestimmte. Die damalige theoretische Astronomie war nur im Stande unter der Voraussetzung einer kreisförmigen, oder einer von der Kreisform sehr wenig sich entfernenden elliptischen Bahn der Aufgabe zu genügen. Solche Bahnen wurden berechnet. Aber es zeigte sich, daß die meisten Beobachtungen Piazzi’s diesen vermutheten Bahnen sich nicht einfügen ließen. Statt nun den Fehler in den Bahnelementen zu suchen, beschuldigte man lieber Piazzi schlecht beobachtet zu haben. G. allein schlug das entgegengesetzte Verfahren ein. Er hatte schon neue theoretische Methoden zur Bestimmung einer elliptischen Bahn aus wenigen Beobachtungen, hatte schon jene Methode der kleinsten Quadrate ersonnen, welche die wahrscheinlichste Verbindung und Verwerthung der theoretisch überzähligen Beobachtungen ermöglichte. Daß diese beiden unerläßlichen Vorkenntnisse damals in seinem Besitze waren, glauben wir nicht nur seinem Worte, wiewohl auch dieses, das Wort eines der Lüge unfähigen Ehrenmannes, vollauf genügen würde, wir glauben es insbesondere den Thatsachen. G. erfuhr erst spät von diesen Dingen, und sobald er im Spätsommer 1801 durch Vermittlung von Geh. Etatsrath Zimmermann Piazzi’s Beobachtungen erhielt, beschloß er auf Grund seiner eigenen Methoden die Planetenbahn zu ermitteln. Das Endergebniß wiederholt vorgenommener Annäherungen veröffentlichte G. im December 1801 in der Monatlichen Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde, welche Freiherr Franz von Zach damals herausgab. Es waren elliptische Bahnelemente der Ceres, welche sämmtliche Beobachtungen Piazzi’s als wirkliche Bahnpunkte in sich schlossen, von den anderen Berechnungen aber sich ungemein weit enfernten. Zu dieser Leistung war, auch mit Anrechnung einer riesenhaften Arbeitskraft, nur der Besitzer noch ungekannter Methoden befähigt, nur der Besitzer derjenigen Kunstgriffe, welche es ihm ermöglichten binnen einer Stunde eine Kometenbahn zu ermitteln, zu deren Ausrechnung Euler nach den alten Methoden drei volle Tage gebraucht hatte, deren Anstrengung ihm die Sehkraft eines Auges kostete. „Freilich“, sagte dann G., „würde ich auch wol blind geworden sein, wenn ich drei Tage lang in dieser Weise hätte fortrechnen wollen“.

Der Mühe des Berechners wurde der Lohn. Olbers in Bremen fand am 1. Januar 1802 den verlorenen Planeten genau an der Stelle des Himmels, an welcher er nach der Berechnung von G. sich befinden mußte, und erklärte öffentlich, unter Benutzung der von Anderen berechneten Bahnen würde die Auffindung geradezu unmöglich gewesen sein. So war mit einem Schlage Piazzi’s Beobachtungskunst gerechtfertigt und die praktische Werthprobe der neuen Theorien geliefert; der Name ihres Erfinders lebte in aller Munde. Jetzt gelangte an G. ein Ruf aus St. Petersburg, wo man ihn mit einem Gehalte von 2400 Rubel bei freier Wohnung als Director an die Sternwarte wünschte. Jetzt brachte Olbers seine Ernennung zum Director der freilich erst geplanten neuen Göttinger Sternwarte in Vorschlag, und die daraufhin mit G. angeknüpften Unterhandlungen bestimmten denselben, die Petersburger Anträge, welche ohnedies den Herzog von Braunschweig sehr verstimmt hatten, abzulehnen. Jetzt trat auch in Braunschweig jene weitere Gehaltserhöhung auf 600 Thaler ein. Der Plan zu einer in Braunschweig zu errichtenden Sternwarte wurde gefaßt. G. fühlte sich anerkannt und gehoben.

Eines fehlte noch seinem Glücke. Er hatte die Bekanntschaft eines wohlerzogenen Bürgermädchens von Braunschweig, der „Demoiselle Johanne Osthoff“ [437] gemacht. Monate lang verehrte er sie still. Der Brief vom 12. Juli 1804 ist erhalten, in welchem er ihr seine Neigung gestand. Die Einfachheit, die Anspruchslosigkeit, welche in diesem Briefe laut werden, rechtfertigen einen Abdruck der Hauptstelle. G. schrieb: „Ich kann Ihnen zwar jetzt nicht Reichthum, nicht Glanz anbieten. Doch Ihnen, Gute – ich kann mich in Ihrer schönen Seele nicht geirrt haben – sind ja Reichthum und Glanz ebenso gleichgültig wie mir. Aber ich habe mehr als ich für mich allein brauche, genug um zweien genügsamen Menschen ein sorgenfreies, anständiges Leben zu bereiten, meiner Aussichten in die Zukunft gar nicht einmal zu gedenken. Das Beste, was ich Ihnen anbieten kann, ist ein treues Herz voll der innigsten Liebe für Sie.“ Rasche Erhörung fand indessen G. nicht. Es währte bis zum 22. November bis die Verlobung stattfand, und fast ein weiteres Jahr verging, ehe am 9. October 1805 der glückliche Ehebund geschlossen wurde.

Inzwischen hatten die Unterhandlungen mit dem Curatorium der Universität Göttingen zu einem ersprießlichen Ergebnisse zu führen nicht vermocht. Es ist freilich nicht unwahrscheinlich, daß der Herzog, eifersüchtig auf den Ruhm den jungen Gelehrten seinem Lande erhalten zu haben, wie bei der Petersburger Berufung seine Unzufriedenheit mit einer Lösung des bisherigen Verhältnisses kundgab, und daß man in Hannover auf diese fürstliche Verstimmung Rücksicht nahm. Manches andere kann mitgewirkt haben. So war vielleicht die Bemerkung, welche Olbers in seinem Empfehlungsbriefe der Wahrheit getreu ausgesprochen hatte, „G. hege entschiedene Abneigung gegen eine mathematische Lehrstelle“ übel aufgenommen worden. Vielleicht hoffte man auch, nachdem die Wettbewerbung Petersburgs nicht mehr drohte, G. doch zur Uebernahme von Lehrverpflichtungen nöthigen zu können. Klargestellt ist der Verlauf der Unterhandlungen keineswegs, und sicher ist nur, daß 1805 nicht G., sondern Harding als außerordentlicher Professor der Astronomie nach Göttingen berufen wurde, daß die Ernennung von G. zum Director der Sternwarte und zugleich zum ordentlichen Professor der Mathematik erst 1807 nach dem Tode des Herzogs Carl Wilhelm Ferdinand erfolgte.

Große politische Veränderungen hatten stattgefunden. Die Schlacht von Jena war geschlagen, das preußische Heer vernichtet. Der Herzog von Braunschweig, der unglückliche Befehlshaber des geschlagenen Heeres, war tödtlich verwundet in seine Hauptstadt zurückgekehrt. Er hatte in trauriger Flucht vor schnöder Gefangenschaft sich weiter retten müssen, er war am 10. Nov. 1806 in Ottensen seinen Wunden erlegen. G. hatte von seinem Fenster aus dem Wagen nachgesehen, der langsam und düster einem Leichenzuge gleich seinen unglücklichen Wohlthäter aus Braunschweig entführte. Tiefer Schmerz bemächtigte sich seiner, zugleich Groll gegen den Besieger Deutschlands, in welchem er auch den Feind des geliebten Fürsten haßte. Persönliche Gründe zur Erbitterung gegen Napoleon traten bald hinzu. G. war eben erst in Göttingen angestellt und hatte noch keinen Pfennig Besoldung eingenommen, als der Stadt eine hohe Brandschatzung auferlegt wurde, welche, unter die Einwohner vertheilt, G. mit 2000 Franken betraf. So schwer ihm die Aufbringung einer für seine Verhältnisse so hohen Summe fiel, wies er doch eine Sendung des Betrages von Olbers dankend zurück. Mit Stolz lehnte er ab auf die Mittheilung von Laplace sich zu berufen, die von ihm geforderte Summe sei bereits in Paris eingezahlt. Ein ohne Name des Absenders ihm zugehender Geldbrief – man hat nachmals erfahren, daß er vom Fürstprimas von Frankfurt stammte – machte erst der Verlegenheit ein Ende. Die Erbitterung, welche G. im Inneren empfand, mußte während der folgenden Jahre verstummen. Göttingen gehörte nunmehr zum Königreich Westphalen, und das Gedeihen der Universität, insbesondere der [438] Sternwarte, die noch zu erbauen war, hing vollständig von der guten Laune des Eroberers ab. Als aber in den Befreiungskriegen das Joch abgeschüttelt wurde, begrüßte G. mit Tausenden jubelnd die Wiederkehr des alten Regimentes. In den Worten eines Geschichtsschreibers: „Die Deutschen mußten zuerst der Fremdherrschaft im eigenen Lande sich erwehren, mochten auch die politischen Verhältnisse dadurch noch viel beklagenswerther werden, als sie nach dem Pariser Frieden wirklich geworden sind“, fand er seine eigenste Ansicht ausgesprochen. Entbehrung verleiht einen glänzenden Schein, der das Auge blendet und für die Abwechslung von Licht und Dunkel unempfindlich macht. Das war der Ursprung so mancher mehr als conservativen Denkart, welche in Deutschland in den beiden ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts der in mancher Beziehung freisinnigeren und geradezu besseren Verwaltung der Eindringlinge gegenüber sich befestigte, und daher stammt auch wol die politische Richtung von G., der er zu allen Zeiten treu blieb und die ihm jeglicher Unbill von Seiten eines Monarchen die Entschuldigung beifügte, es sei doch der rechtmäßige Monarch, dem man sich füge.

Inmitten der Unruhe der Uebersiedelung nach Göttingen wurde die Niederschrift der neuen Theorie der Berechnung von Planeten- und Kometenbahnen aus drei Beobachtungen unter Anpassung an beliebig viele weitere Beobachtungen fertig. Olbers bot das Buch in Gauß’ Auftrage dem bedeutendsten Verleger der damaligen Zeit, Friedrich Perthes in Hamburg, an. Perthes antwortete erst abschlägig, aber einige Wochen später kam er auf das Anerbieten zurück. Andere Unternehmungen, auf die er sein Kapital zu verwenden gedachte, seien der Zeitumstände wegen verschoben „und ich entrire nun gern auf das Gauß’sche Werk. Wollen Sie die Güte haben mich näher mit dem Werk in Hinsicht des Druckes zu unterrichten (mir etwa ein Buch zu nennen, mit welchem es gleichförmig gedruckt werden soll); mir zu schreiben, ob der Text lateinisch ist, was ich für gut halte und endlich wie die Bedingungen des Herrn Verfassers sind?“ Von letzteren wissen wir nichts, so interessant nach mancher Richtung eine solche Kenntniß wäre. Wol aber wissen wir, daß die Bewegungslehre in deutscher Sprache verfaßt war, daß sie vermuthlich der Andeutung des Verlegers folgend erst in die lateinische Sprache übertragen werden mußte – zu einer französischen Herausgabe, die G. zugemuthet worden sein soll, war er nicht zu bewegen – und daß dadurch eine Verzögerung bis 1809 eintrat. Nach den Anfangsworten des Titels nennt man das Werk die: „Theoria motus.“ Sie gilt als heute noch maßgebend für die rechnende Astronomie. Sie hatte sich den Anspruch auf diese Geltung schon vor dem Erscheinen erworben, denn nicht blos die Bahn der Ceres, auch die der Pallas, der Juno, der Vesta, jener Taschenplaneten, um einen Ausdruck Alexanders von Humboldt in einem Briefe an G. von 1837 zu gebrauchen, von welchen Pallas und Vesta 1802 und 1807 durch Olbers, Juno am 1. September 1804 durch Harding entdeckt worden waren, wurden den Vorschriften dieses Werkes gemäß durch G. selbst, dem sämmtliche übrige Astronomen diese Arbeit als Ehrenpflicht überließen, berechnet, und ihre Berechnung hatte umgekehrt wieder den Erfolg die Theorie zu klären und zu vervollkommnen.

Der Lalande’sche Preis der Pariser Akademie, den G. sich jedoch nicht auszahlen ließ, sondern, vermuthlich um aus Frankreich kein Geld annehmen zu müssen, zum Ankauf einer pariser Pendüle verwandte, eine Denkmünze der Londoner Akademie, die Ernennung zum auswärtigen Mitgliede der berliner Akademie bekunden das Urtheil der gelehrten Welt über das in seiner Bedeutsamkeit sofort erkannte Werk. Berlin suchte den Verfasser persönlich zu gewinnen. Das amtliche Schreiben, welches Wilhelm von Humboldt im Namen der Section für den öffentlichen Unterricht im Ministerium des Inneren unter dem 25. April 1810 an G. richtete, bot ihm 1500 Thaler nebst der Stellung als anwesendes ordentliches [439] Mitglied der Akademie. „Sie werden zum Lesen von Collegien auf keine Weise verbindlich gemacht, nur ersucht werden, der hier zu stiftenden Universität Ihren Namen als ordentlicher Professor zu leihen und, so viel es Ihre Muße und Gesundheit zulassen, von Zeit zu Zeit eine Vorlesung zu halten.“ In einem begleitenden Privatbriefe fügte Wilhelm von Humboldt noch ausdrücklich hinzu: „Bei der Universität entbinde ich Sie, wie Sie es wünschen, jeder Verpflichtung, und es gibt daher nichts, was Sie auf dem Wege stiller, abgezogener und ruhiger Forschung aufhalten könnte.“ Weßhalb G. auf diese seinen wissenschaftlichen Neigungen so sehr entsprechenden Vorschläge nicht einging, ist zweifelhaft. War die Verlockung, die Fertigstellung der Göttinger Sternwarte leiten zu dürfen, für welche die westphälische Regierung eben erst eine Summe von 200,000 Franken ausgeworfen hatte, überwiegend? Hatte er etwa bindende Verpflichtungen übernommen während des Baues Göttingen nicht zu verlassen? War eine mit Mißtrauen gegen die preußische Regierung gepaarte Abneigung gegen den Berliner Aufenthalt bei ihm vorhanden? Hatte er persönliche Gründe Göttingen gerade jetzt nicht verlassen zu wollen? Alle diese Momente können zusammengewirkt haben. Unter den persönlichen Gründen verstehen wir folgende: Johanna G., die ihrem Gatten bereits zwei Kinder, einen Sohn Joseph (gestorben 1873 als Oberbaurath in Hannover) und eine Tochter Minna (gestorben 1840 in Tübingen als Frau des berühmten Orientalisten Heinrich Ewald), geschenkt hatte, starb am 11. October 1809 in Folge der Geburt eines Söhnchens, welches die Mutter nur etwa 5 Monate überlebte. Das frische Grab des Kindes mochte die Sorge um die beiden Ueberlebenden erhöhen, mochte G. die Nothwendigkeit, diesen eine Mutter zu geben klar vor Augen führen. Am 1. April 1810 verlobte, am 4. August desselben Jahres vermälte sich G. mit Minna Waldeck, einer nahen Freundin der Dahingegangenen, welche ihre übernommenen Pflichten auf’s Schönste zu erfüllen und G. auf’s Neue den Frieden einer glücklichen Häuslichkeit zu bereiten wußte, bis auch sie nach 21jähriger Ehe im September 1831 der tief trauernden Familie, zu der jetzt auch Kinder der zweiten Ehe gehörten, entrissen wurde. Gerade in die Zeit der Vorbereitungen zur zweiten Ehe fällt aber der Brief Wilhelms von Humboldt, wie die Vergleichung der Daten sofort ergibt.

Das war übrigens nicht der letzte Versuch, der angestellt wurde G. für Berlin zu gewinnen. Neue Verhandlungen begannen 1821. Frau Hofrath Waldeck, die Schwiegermutter von G., schrieb unter dem 14. Mai 1821 an Olbers einen höchst eigenthümlichen Brief: „Unser trefflicher Gauß ist in seinem hiesigen Verhältniß so unglücklich wie möglich, – theils durch seine collegialischen Verhältnisse, mit dem der ihm so nahe ist, weil er nicht die kleinste Hilfe hat, und da Sie mein theurer Herr Doctor wissen – daß tiefes Denken und Rechnen sein Lieblingsstudium ist, so fühlt er sich schon dadurch nicht an seinem Platz; nun kommt das Uebrige dazu, daß er Ihnen aufrichtig gesagt – wegen der Zukunft große Sorgen hat.“ Die offenbar etwas schwatzhafte, in der Wahl ihrer Ausdrücke weder allzuvorsichtige noch logische Frau hat gewiß stark übertrieben, immerhin geht aus den angeführten Worten hervor, daß ein Mißverhältniß zwischen G. und Harding obwaltete. Harding war, wie wir uns erinnern, 1805, also nicht lange nach der Entdeckung der Juno, nach Göttingen berufen. Das Jahr 1812 brachte seine Ernennung zum ordentlichen Professor. Sicherlich erfolgte diese Beförderung unter der Beistimmung von G., wie auch dessen Anzeige der ersten Lieferung von Harding’s neuem Himmelatlas in den Göttinger Anzeigen von 1809 im wohlwollendsten Geiste geschrieben ist. Kürzer und fast geschäftlich gehalten sind die Anzeigen der späteren Lieferungen eben dieser Sternkarten, vielleicht eine mittelbare Bestätigung der Andeutungen von Frau Waldeck, [440] daß Harding, wie er nichts in die Leitung der Sternwarte zu reden hatte, auch Arbeiten für die Sternwarte als solche verweigerte und dadurch oder über irgend welche Befugnißfragen bei G. Verstimmung erzeugt hatte. Olbers theilte das ihm anvertraute Geheimniß, G. sei jetzt geneigter als früher Göttingen zu verlassen dem Geheimenrath von Lindenau, damals Sachsen-Gothaer Minister, früher Director der Sternwarte auf dem Seeberge, mit. Dieser wandte sich an General von Müffling, den besonders um Gradmessungen hochverdienten, einflußreichen Chef des großen Generalstabs in Berlin. Nun begannen Unterhandlungen. G. verlangte bei freier Wohnung einen Jahresgehalt von 2400 Thalern. Man machte ihm nach fast vierjährigem Feilschen und Zaudern, nach Schreibereien ohne Ende, im November 1824 folgenden an sich annehmbaren Gegenvorschlag: Er solle 1700 Thaler als ordentliches Mitglied der Akademie beziehen, 300 Thaler als Secretär ihrer mathematischen Klasse, 600–700 Thaler von Seiten des Ministeriums für Gutachten in allen auf das mathematische Studium bezüglichen Fragen. Wir glauben nicht, daß, wie gesagt worden ist, gerade die letzte Clausel unangenehm auf G. wirkte. Das Anerbieten eines so gut wie unbedingten Einflusses auf die Ernennung von Lehrern seines Lieblingsfaches, auf Anordnungen, welche das Studium desselben, Prüfungen etc. betreffen, als Abschreckungsmittel aufzufassen, dazu reicht unsere Psychologie nicht aus. Auch der Verweigerung freier Wohnung können wir ein entscheidendes Gewicht nicht beilegen. Uns ist am Glaublichsten, daß G. durch das lange Hinausziehen der Angelegenheit sich verletzt fühlte. Ihm gegenüber wäre Minister Altenstein, „bei dem Alles etwas langsam geht“, wie Müffling bei dieser Gelegenheit geschrieben hat, doch besser weniger bedächtig gewesen. Nicht den Antrag als solchen, den verspäteten Antrag lehnte G. ab unter Vorschützung zweier Beweggründe, deren zweiter wenigstens den Stempel des bloßen Vorwandes an der Stirne trägt: die hannoversche Regierung nämlich habe ihm selbst eine bedeutende Zulage, seinem ältesten Sohne den Eintritt in das Artilleriecorps bewilligt. Damit war auch in Berlin die Geneigtheit, G. zu berufen, verschwunden, trotzdem Alexander von Humboldt, wie aus Briefen desselben an Schumacher hervorgeht, in den J. 1828–36 sich unverdrossen bemühte neue Unterhandlungen in Zug zu bringen.

Wir haben mit der Erzählung der Vorgänge von 1821–24 der Darstellung derjenigen Forschungen, durch welche G. seit 1809 seine schon so bedeutenden Verdienste um die Wissenschaft vermehrte, vorgegriffen. Wir müssen, ohne sämmtliche Ergebnisse aufzählen zu dürfen, um welche er die reine wie die angewandte Mathematik bereicherte, das Wichtigste nunmehr nachholen, wobei wir theils chronologisch theils dem Inhalte nach Zusammengehöriges vereinigen werden.

Der Zeit nach steht in erster Linie die auch ihrem Inhalte nach höchst bedeutende Abhandlung, welche 1811–13 entstanden unter dem Namen „Disquisitiones circa seriem“ jedem Mathematiker bekannt ist. Nicolaus Bernoulli I. hatte schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts gesunde Ansichten über die sogenannte Convergenz der Reihen geäußert (vgl. Allg. deutsche Biographie Bd. II, S. 476–477). Aber auch er und seine übrigen großen Zeitgenossen, die Euler, d’Alembert, Lagrange waren, sofern es sich darum handelte zu entscheiden, ob eine gegebene unendliche Reihe convergire oder divergire, über allgemeine Redensarten oder über gradezu irrige Behauptungen nicht hinausgekommen. Gemeiniglich datirt man die auf diesem Felde Genüge leistenden Untersuchungen von Cauchy’s 1821 erschienener Analyse algébrique. Man sollte die um 10 Jahre ältere Abhandlung von G. nicht vergessen, in welcher zum ersten Male eine strenge Ableitung von Convergenzmerkmalen gegeben ist, die allerdings zunächst nur eine einzige besondere Reihenform betreffen, in welcher [441] aber fast sämmtliche in der Analysis vorkommende Reihen enthalten sind, so daß es uns nicht mehr als billig erschiene, wenn dem gewöhnlichen Gebrauche entgegen in den Lehrbüchern der Analysis den Gauß’schen Kriterien vor denen Cauchy’s und noch späterer Schriftsteller ein Platz eingeräumt würde. Die Convergenzuntersuchungen selbst bilden erst einen Theil und zwar den kleinsten Theil der Disquisitiones circa seriem, deren übriger Inhalt jedoch in einem kurzen Auszuge nicht leicht verständlich gemacht werden kann.

Dem Gebiete der Analysis gehört ferner eine Abhandlung von 1814 über näherungsweise Auswerthung von Integralen an und eine Anzahl von Sätzen über das sogenannte arithmetisch-geometrische Mittel, welche letztere aus seinem Nachlasse zum Druck befördert noch manchem Mathematiker Anlaß zu schwierigen Untersuchungen bieten werden. Eben dahin gehören auch die Arbeiten über elliptische und lemniscatische Integrale. Eine Stelle des Einleitungsparagraphen zum 7. Abschnitte der Disquisitiones arithmeticae beweist, daß G. schon 1801 die lemniscatischen Integrale der Untersuchung unterworfen hatte, daß er in einem besonderen Werke darauf zurückzukommen, die Lemniscatentheilung der Kreistheilung gegenüber zu stellen gedachte. Eine Abhandlung bot G. Gelegenheit eine seitdem nach ihm benannte Umformung elliptischer Integrale zu veröffentlichen, und nachgelassene Fragmente aus dem Jahre 1808 bestätigen, was gesprächsweise schon während des Lebens von G. verlautet hatte, was er auch 1828 brieflich gegen Schumacher äußerte, daß er Abel und Jacobi um ein Vierteljahrhundert zuvorgekommen war, und daß nur seine Abneigung, irgend Etwas zu veröffentlichen, was ihm nicht nach Form und Inhalt abgeschlossen erschien, ihm das Erstlingsrecht in diesen schwierigen Theorien geraubt hat. Der Ruhm selbständiger Erfindung bleibt G. unter allen Umständen, und sein Biograph hat das Recht, welches der Geschichtschreiber der mathematischen Wissenschaften nicht hat, in den Lorberkranz seines Geisteshelden auch die Blätter mit einzuflechten, welche die Aufschrift der elliptischen Integrale führen.

Durften wir soeben des ersten Paragraphen des 7. Abschnittes der Disquisitionen gedenken, so hat die heutige Mathematik dem dritten Paragraphen desselben Abschnittes den Buchstaben als Zeichen für entnommen, welcher ungewöhnlich rasch in Uebung kam. G. gehören auch die Namen complexe und laterale Zahl an, und wenn die geometrische Deutung derselben ihm gewiß nicht zuerst eigenthümlich war, so datirt eben so gewiß die Verbreitung dieser Betrachtungsweise von einer jener Selbstanzeigen in den Göttinger Anzeigen von 1831, wie sie G. so gedrungen und inhaltvoll zu schreiben wußte.

Eine beim Rechnen mitunter Erleichterung verschaffende Tabelle der Additions- und Subtractionslogarithmen hat man mit Unrecht nach dem Namen von G. benannt. G. hat zwar eine solche Tafel hergestellt und in Zach’s Monatlicher Correspondenz 1812 veröffentlicht. Er bezieht sich aber mit gewohnter Gewissenhaftigkeit auf Leonelli, welchem der Gedanke angehöre, und der in der That schon 1802 Aehnliches herausgab.

In den Jahren 1821–25 fand die hannöverische Landesvermessung statt, welche G. Gelegenheit gab, während aller Stadien der Vorbereitung und Ausarbeitung in der langen Zeit von 1818 bis gegen 1848 Untersuchungen der vielfältigsten Art anzustellen, die ihn zum ersten Geodäten der Welt machten, ihn auch in persönliche Beziehung zu den Fachgenossen z. B. zu dem oben genannten General von Müffling brachten. Man ist in der Lebensgeschichte von G. so oft in der Lage sein Bedauern aussprechen zu müssen, daß dieses oder jenes in Aussicht genommenes Werk gar nicht oder nur in Bruchstücken zur Ausführung kam, daß wir kaum wissen ob wir hier ohne einförmig zu werden des Gauß’schen nicht erfüllten Vorhabens gedenken dürfen, ein zusammenhängendes großes [442] geodätisches Werk zu schreiben, in welchem alle die Gegenstände im Systeme vorkommen sollten, welche, nachdem G. von jenem Vorhaben leider abstand, in zusammenhangslosen, dem Anscheine nach nicht einmal zusammengehörigen Einzelabhandlungen sich zersplitterten, dem Theoretiker fast mehr Belehrung bietend als dem Praktiker, wie G. selbst die Praxis der Landesvermessung zwar mit vor ihm nie gekannter Genauigkeit leitete, sie aber doch hauptsächlich als Ausgangspunkt eigentlich mathematischer Forschungen betrachtete. Der Geodät stellt vielleicht die Erfindung des Heliotrops (1821) am Höchsten, welche übrigens auch G. mit gerechtem Stolze erfüllte. Seit Gemma Frisius 1533 die Zerlegung der zu vermessenden Gegenden in Dreiecke lehrte, welche sich aneinander anschließen und sich gegenseitig sichern, hatte die Triangulation große Fortschritte gemacht. Man wußte bereits, daß es vortheilhaft sei bei umfassenden Vermessungen ein Grunddreieck mit möglich großen Seiten sich zu verschaffen. Bei einem solchen Dreiecke waren aber die unmittelbaren Winkelmessungen davon abhängig, daß man ein Fernrohr auf einen Meilen weit entfernten Punkt einstelle, der wirklich als Punkt gelten könne, nicht als Körper, wie z. B. eine Kirchthurmspitze oder dergleichen. Einen solchen Punkt deutlich sichtbar zu machen, bildete die große Schwierigkeit, deren man nur in geringem Maße mit Hilfe der verschiedenartigsten Lampen bei nächtlicher Beobachtung Herr werden konnte. Da fiel es G. ein, das Sonnenbild auf einem kleinen Spiegel als bei Tage sichtbaren Lichtpunkt zu verwenden, und diesen Gedanken fertig im Kopfe tragend erkannte er an dem Blitzen der Fensterscheiben eines Hamburger Thurmes, welches er auf dem Michaelisthurme in Lüneburg wahrnahm, die Ausführbarkeit seines Gedankens. So wurde das bekannte Kinderspielwerk ungesehen und aus sicherer Ferne Andere mittels eines Spiegelstückchens zu blenden, die Grundlage des Apparates, ohne welchen keine größere Vermessung mehr stattfindet. Das Heliotrop ermöglicht auf eine Entfernung von 70 Kilometern Winkelmessungen von einer Genauigkeit, die man sonst nur für astronomische Beobachtungen in Anspruch zu nehmen wagte. Allerdings war jetzt auch eine um so genauere Kenntniß der Theorie der Fernröhre, der brechenden Wirkung von Linsensystemen nothwendig.[WS 1] Ihr widmete G. seine dioptrischen Untersuchungen (1843), aus welchen wir nur die Einführung der sogenannten Hauptpunkte und Hauptbrennweiten nennen wollen.

Der Mathematiker wird mit größerem Vergnügen bei den Abhandlungen von 1821, 1823 und 1826 über die Methode der kleinsten Quadrate verweilen, bei der von der Kopenhagener Akademie gekrönten Abhandlung von 1825, über Darstellungen, bei welchen die Abbildung dem Abgebildeten in den kleinsten Theilen ähnlich wird, conforme Abbildung, wie man heute mit einem von G. gebildeten Namen sagt. Er wird den Untersuchungen über Gegenstände der höheren Geodäsie von 1843 und 1846 seine Aufmerksamkeit schenken. Er wird insbesondere eine Abhandlung von 1827 Disquisitiones generales circa superficies curvas studiren, und sollte dabei ja nicht vergessen, daß eine allgemeine Lehre von den Flächen, insbesondere das Krümmungsmaß derselben, vor jener Abhandlung für die Wissenschaft so gut wie nicht vorhanden war.

Wieder eine andere Gruppe von Arbeiten bilden solche, welche der Mechanik angehören. Aus ihr sei der kurze Aufsatz über ein allgemeines Grundgesetz der Mechanik genannt, welcher 1829 erschien. Der Erfinder der Methode der kleinsten Quadrate zeigte hier, daß auch die Natur dieser Methode huldigt, daß die Gleichungen, welche die Bewegungserscheinungen unseres Weltalls regeln, durch analytische Umformung in eine Gestalt gebracht werden können, deren Uebertragung in ein Gesetz dahin lautet, die Summe gewisser quadratischer Größen müsse immer so klein als möglich werden. Dem Gebiete der Mechanik gehören [443] auch die Untersuchungen über die Capillarität (1830), die Lehrsätze „Ueber die im umgekehrten Quadrate der Entfernungen wirkenden Kräfte“ (1839) an.

Letztere bilden für unsere Darstellung den Uebergang zu den gemeinsam mit Wilhelm Weber ins Werk gesetzten großartigen Arbeiten über den Erdmagnetismus. Der Anfang derselben fällt in eine für G. besonders schwere Zeit. Wir wissen, daß er im September 1831 die zweite Lebensgefährtin durch den Tod von seiner Seite gerissen sah. G. suchte in erhöhter geistiger Thätigkeit ein Gegengewicht gegen die erschlaffende Wirkung gemüthlicher Zerrüttung. Krystallographische Studien des Sommers 1831 wurden zwar, so aussichtsvoll sie waren, unterbrochen; vielleicht erinnerten sie zu sehr an die Verlorene, während deren letzten Krankheit sie entstanden waren. Aber neugeschaffene Probleme erfüllten das Denken der schlaflosen Nächte, und an diesen Problemen hatte der an Stelle des Ende November 1830 verstorbenen Tobias Mayer eben in Göttingen eingetroffene neue Professor der Physik, Wilhelm Weber, seinen hälftigen Antheil. „Der Stahl schlägt an den Stein.“ Mit diesen Worten bezeichnete G. später sein persönliches Zusammenwirken mit Weber, und wahrlich niemals sprühten glänzendere Funken des Geistes, als die welche die 6 Bände durchleuchten, die unter dem ziemlich unscheinbaren Namen: „Resultate aus den Beobachtungen des magnetischen Vereins von 1836–1841“ erschienen sind. Wir wagen hier nicht anzudeuten, welche Verdienste die Erfindung des Bifilar-Magnetometers der Wissenschaft geleistet hat, insbesondere seit Poggendorff die Spiegelablesung an ihm einrichtete. Wir nennen nur im Vorübergehen die allgemeine Theorie des Erdmagnetismus, welche die Möglichkeit gewährte, alle bisher nicht zu vereinigenden Eigenschaften der Magnetnadel, ihre Declination, ihre Inclination, ihre nach Zeit und Ort sich ändernde Schwingungsdauer, aus einer Quelle mathematisch herzuleiten. Wir bemerken, daß die Sätze über die im umgekehrten Quadrate der Entfernungen wirkenden Kräfte den Resultaten angehören. Wir betonen am Lautesten das, was theoretisch nicht das Wichtigste praktisch die höchste Bedeutung gewonnen hat: G. und Weber legten im Winter 1833 auf 34 zwischen der Sternwarte und dem physikalischen Cabinette den ersten elektromagnetischen Telegraphen an, dessen in nahezu alle Verhältnisse des staatlichen wie des bürgerlichen Lebens tief einschneidende Wirkungsfähigkeit G. sofort erkannte und würdigte.

Das Schicksal spielte grausam mit G. Den Freund, den er gewonnen, mit dem er Hand in Hand gegangen war auf gemeinsam gebahnten Wegen, sollte er verlieren. Im September 1837 war noch das 100jährige Bestehen der Universität Göttingen mit großem Glanze gefeiert worden. Alexander von Humboldt war unter Anderen zugegen, so einen Besuch ziemlich spät erwidernd, den ihm G. 1828 bei Gelegenheit der in Berlin stattfindenden Naturforscherversammlung erstattet hatte. G. und Weber gehörten zu den gefeiertsten Persönlichkeiten bei jenem Feste, welches die Georgia Augusta sich selbst und den Lehrern gab, die ihr zum Ruhme gereichten. Nur zwei Monate später brach über Hannover jene politische Krise aus, welche in der Biographie Dahlmann’s (Allg. deutsche Biogr. Bd. IV, S. 697) geschildert ist, und welche Göttingen sieben seiner hervorragendsten Professoren kostete. Unter den Abgesetzten war Ewald, war Weber, der Schwiegersohn[1], der Freund von G. Gauß selbst, eine durch und durch conservative Natur, wie schon hervorgehoben wurde, war bei den Ereignissen, die zu jener Gewaltmaßregel führten, nicht betheiligt, mit ihm übrigens die große Mehrheit der Göttinger Professoren. In einem Briefe an Alexander von Humboldt erbat G. dessen Vermittelung bei dem Könige von Hannover, um den beiden ihm so nahe stehenden Männern das Bleiben in Göttingen zu ermöglichen. Alle Bemühungen waren fruchtlos, und während Ewald bereits 1838 [444] in Tübingen eine neue Stellung fand, blieb Weber bis 1843 von jeder Professur ausgeschlossen.

Wir haben noch eine Arbeit zu erwähnen, durch welche G. 1845, man möchte fast sagen, die 50jährige Erinnerung an die Erfindung der Methode der kleinsten Quadrate beging. Seine erste Entdeckung hatte der Wahrscheinlichkeitsrechnung angehört. Demselben Gebiete entstammte die Abhandlung von 1845. Die Professoren-Wittwen-Casse der Universität Göttingen war durch Mangelhaftigkeit der Statuten, welche nur eine allmähliche Steigerung der Pensionen vorsah, ohne dabei die Möglichkeit zu berücksichtigen, daß bei Zunahme der Wittwenzahl deren Jahresgehalt sich einer Schmälerung werde unterwerfen müssen, in bedenkliche Zustände gerathen. G. war der geborene Berichterstatter in dieser arg verfahrenen Angelegenheit, und er hat mit bewunderungswürdiger Klarheit den Gegenstand nach allen Seiten so beleuchtet, daß er auch für den Nichtmathematiker vollständig durchsichtig werden mußte, und daß dieser aus dem Nachlasse zum Drucke gelangte Bericht als Leitfaden für alle künftigen Einrichtungen ähnlicher Kassen dienen kann, welche gleich der Göttinger den doppelten Charakter einer auf Beiträgen beruhenden Genossenschaft und einer auf Vermächtnisse gegründeten milden Stiftung theilen. Dem Berichte sind gewisse Tabellen beigefügt, deren Herstellung freilich an anderweitig gegebene statistische Aufzeichnungen anknüpft, welche aber eine Fülle von Arbeit, von Zahlenrechnung erforderten, deren in seinem 68. Lebensjahre nur ein Mann fähig war, welcher wie G. auch dem Rechnen eine höhere Seite abzugewinnen wußte, indem er der mannigfaltigsten Kunstgriffe sich bediente. Es war ihm dadurch ein Vergnügen was den meisten Menschen eine oft unabweisbare aber stets langweilige Pflicht bildet, und es war einiger Ernst in den scherzhaften Worten, deren wir selbst uns aus einer Vorlesung von G. über die Methode der kleinsten Quadrate entsinnen, daß eine gewisse Poesie in der Berechnung von Logarithmentafeln liege. Denselben Vorlesungen gehört die Erinnerung an, daß G., der überall, auch in seinen Vergnügungen, als Mann der Wissenschaft sich fühlte, bei jahrelang fortgesetztem regelmäßigem Whistspiele mit den gleichen Freunden stets aufzuschreiben pflegte, wie viele Asse Jeder bei jedem Spiele in der Hand gehabt hatte, um an diesen Aufzeichnungen eine erfahrungsmäßige Bestätigung des sogenannten Gesetzes der großen Zahlen in der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu gewinnen. Aehnliches bezweckten ohne Zweifel seine Aufzeichnungen der täglichen Coursschwankungen gewisser Staatspapiere an den Hauptbörsen, wenn auch nicht in Abrede gestellt werden will, daß das nächste Interesse beim Vergleichen der Course überhaupt ein persönlich finanzielles gewesen sein mag, da die Gewandtheit, mit welcher G. sein Vermögen zu verwalten wußte, fast sprichwörtlich war.

Wissenschaftliche Leistungen zweier Art können bei den meisten Gelehrten unterschieden werden, ihre Schriften und ihre Lehrthätigkeit. Von der Scheu Gauß’ gegen letztere haben wir schon sprechen müssen. Wir haben sie zum Theil durch den Eindruck zu begründen gesucht, den Kaestner’s Vorträge auf ihn gemacht hatten, durch die Ueberzeugung, die er an sich selbst gewonnen hatte, daß Mathematik auch aus Büchern ohne jeden Lehrer studirt werden könne. Spätere Erfahrungen mußten den vorgefaßten Widerwillen steigern. Wenn man weiß, wie sehr bis etwa zum J. 1830 der mathematische Unterricht an deutschen Hochschulen darniederlag, in wie dürftiger Vorbereitung Studirende auch höherer Semester damals den Vorträgen folgten, so findet man das sonst Unbegreifliche natürlich: daß ein G. Vorlesungen, die er seiner selbst und der Wissenschaft für würdig hielt, kaum vor einer Handvoll junger Leute zu Stande brachte, während wenige Straßen davon entfernt ein Thibaut vor mehr als 100 Zuhörern über Buchstabenrechnung las. So konnte und mußte eine etwa vorhandene [445] Lehrfreudigkeit verkümmern. Später als die nach kräftigerer Kost verlangenden Studirenden den Vorlesungen eines G. gern gefolgt wären, war er deren bereits so entwöhnt, daß man ihn gleichsam nöthigen mußte, ab und zu einmal die Vorlesung wirklich zu halten, die er mit geringer Abwechslung in den Gegenständen anzuzeigen pflegte. Hatte er ein Colleg einmal begonnen, so schien es ihm selbst Vergnügen zu machen, aber mit dem Schluß des Semesters hörte diese kurze Lust wieder auf. Die Folge davon war, daß man von einer Gauß’schen Schule in der Mathematik nicht reden kann. Wol haben hervorragende Mathematiker unseres Jahrhunderts in allen Ländern an den Schriften von G. gelernt, aber in das persönliche Verhältniß des näheren Schülers zum Lehrer ist kaum Einer eingetreten, und dieser Eine war ein solcher, der als Schüler schon Meister war: Bernhard Riemann. Dagegen darf man die Bezeichnung einer Gauß’schen Schule in der Astronomie allerdings für eine gewisse Zeit aufrecht erhalten. Schumacher eröffnete 1808 den Kreis, dann waren es 1810 die Encke, Gerling, Möbius, Nicolai, welche an der Göttinger Sternwarte theoretische und praktische Ausbildung suchten und fanden. Aber auch diese Lehrthätigkeit hörte allmählig auf, und es ist fast als vereinzeltes Vorkommen zu erwähnen, daß Winnecke (gegenwärtig Director der Sternwarte in Straßburg im Elsaß) 1853–56 in Göttingen studirend dem greisen Astronomen auf Stunden sich nähern durfte.

Um diese Zeit nahm die Krankheit, welche G. lange mit sich herumschleppte, ein Herzleiden, so zu, daß er sich endlich bequemte in die bisher von ihm stets zurückgewiesene Zuziehung eines Arztes zu willigen. Die sorgsamste Pflege konnte das Ende seiner Lebenslaufbahn nicht hinausschieben. Er starb den 23. Februar 1855 fast 78 Jahre alt.

Die 100. Wiederkehr seines Geburtstages am 30. April 1877 gab Gelehrten und Laien der ganzen Welt Gelegenheit zu einem Gaußstandbilde beizusteuern, welches in Braunschweig errichtet werden wird. Die Göttinger königliche Gesellschaft der Wissenschaften hat ein anderes Denkmal schon früher vollendet, die siebenbändige Gesammtausgabe seiner Werke. Außerdem sind Correspondenzen von G. mehrfach herausgegeben: sein „Briefwechsel mit Schumacher“ in 6 Bänden (Altona 1860–65), mit Alexander von Humboldt (Leipzig 1877), mit Nicolai (Karlsruhe 1877). Die Veröffentlichung des Briefwechsels mit Bessel steht bevor. Eine biographische Arbeit „Gauß zum Gedächtniß“ (Leipzig 1856) veröffentlichte schon im Jahre nach dem Tode des großen Gelehrten einer seiner nächsten Freunde, W. Sartorius von Waltershausen. Ebenderselbe hatte auch das Ehrenrecht in Anspruch genommen, seine Biographie für dieses Sammelwerk schreiben zu dürfen. Nur dessen Tod vor Einsendung des zugesagten Beitrages hat dem Unterzeichneten die unerwartete aber angenehme Pflicht auferlegt, des hochverehrten Mannes hier zu gedenken, der sicherlich während seines Lebens und noch lange darüber hinaus das war, als was ihn eine 1856 zu seinem Gedächtniß geprägte Münze preist: Princeps mathematicorum.

Vgl. außer der Schrift von Sartorius von Waltershausen und den Briefwechseln eine große Anzahl von Reden, Aufsätzen und dergleichen, welche zur Jubiläumsfeier 1877 erschienen sind. Uns dienten eine Rede von Stern (Göttingen 1878), eine Broschüre von Winnecke (Braunschweig 1877) und zwei Aufsätze von Lüroth und dem Unterzeichneten selbst in der Augsb. allgem. Zeitung (Beilagen zu Nr. 55 und 156 des Jahrgang 1877). Endlich konnten wir noch ganz zuletzt die interessante Schrift: Karl Friedrich Gauß. Zwölf Kapitel aus seinem Leben von Ludwig Hänselmann, Stadtarchivar in Braunschweig (Leipzig 1878) benutzen.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 443. Z. 7 v. u. l.: der Schwiegersohn, war Weber etc. [Bd. 8, S. 796]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Punkt fehlt in der Vorlage.