Alte Dresdner Geschichten. Nr. 4. Der Einäugige

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Titel: Alte Dresdner Geschichten. Nr. 4. Der Einäugige
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 271, 272
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[271] Alte Dresdner Geschichten. Nr. 4. Der Einäugige. In den Abendstunden, während welcher sich die schöne Welt auf der Terrasse ergeht, d. h. zwischen sieben und neun Uhr im Hochsommer, konnte man noch vor wenig Jahren einen kleinen, seltsam gekleideten alten Herrn sehen, der auf einer bestimmten Bank sitzend, beide Hände auf den Stock gestützt, sich das Gedränge betrachtete. Er war in einen langschößigen grauen Rock gekleidet, mit grauen Beinkleidern, die in die Stiefel gingen, und einem grauen Hut, ungefähr in der Form, wie sie jetzt Mode ist, die aber damals Niemand trug. Sein mageres Gesicht, so viel man durch den breiten, beschattenden Rand des Hutes davon sehen konnte, zeigte nicht häßliche und nicht schöne Züge, aber in dem Auge lag Etwas, das auf den alten Herrn aufmerksam machte, wenn man ihn einmal angeschaut. Es war das Auge eines Falken, ein raubgieriges, unersättliches Auge, und es zeigte seine herausfordernde, streitsüchtige Kraft auch darin, daß es, gleichsam aus dem alten Schädel sich loslösend, dem Beschauer entgegendrang. Die dürftigen, rothen Ränder, die dieses Auge einfaßten, schienen einen überflüssigen Zierrath zu bilden, sie wurden nie gebraucht, wenigstens schien es so, als wachte dieses Auge stets und schliefe niemals.

Wir sprechen absichtlich von einem Auge, denn das andere war erblindet oder verschwunden, kurz, die Augenhöhle war mit einem schwarzen Pflaster zugedeckt. Wenn man den alten Herrn von dieser Seite sah, wo er gleichsam Frieden mit der Welt geschlossen hatte, so gewann man Vertrauen zu einer Physiognomie, die in ihrer Einfachheit und Ruhe nichts Abschreckendes hatte; geschah es aber, daß der alte Herr sich plötzlich umwendete, und nun sein sehendes Auge zeigte, dann war es um alle Hinneigung, um alles Vertrauen geschehen. Man konnte dieses Auge nicht vergessen, es führte eine so herausfordernde Sprache, daß, wer nicht auf den Moment dieses Anblickes gefaßt war, nicht anders konnte, als schnell seinen Blick niederschlagen oder hinwegwenden.

Eines Abends erlebten die Besucher der Terrasse einen sonderbaren Anblick. Der alte Herr gebrauchte sein Auge wie einen Dolch, wie eine Muskete, wie ein Wurfgeschoß, kurz wie eine tödtliche Waffe, mit der er einem Mann zu Leibe ging, der, der Himmel weiß, weshalb, seinen Zorn auf sich geladen hatte. Die Sache verhielt sich so:

Es war ein schwüler Abend, und erst um neun Uhr war es kühl geworden. Jetzt strömte Alles auf die Terrasse. Ein buntes Gedränge. Jeder Stand, jedes Alter, jede Gesellschaftsschicht hatte ihre Repräsentanten hinaufgeschickt, von dem Stutzer an bis zum Betteljungen, von der Dame, die mit einer Spitzenmantille im Werthe von tausend Francs prangte, bis zu dem Mütterchen, das die ererbten Fetzen aus der Lumpengarderobe ihrer Mutter auf dem gekrümmten Rücken zur Schau trug, von dem reichen Manne an, der durch eine rosenrothe Brille die Welt betrachtete, bis zu dem hinfälligen Alten, der keine Brille braucht, um das naheliegende Grab zu schauen. Es war schwierig, einen Platz zu erlangen. Wer vor dem Restaurationslocale einen Stuhl bezahlen konnte, beschaute sich das Gedränge mit Ruhe, wer aber auf die öffentlichen Bänke angewiesen war, und diese besetzt fand, mußte wandeln und wandeln, bis ihm die Kräfte versagten, und das Auge trübe wurde, von all dem Staube und dem Gedränge. Der graue Herr saß saß schon seit sieben Uhr auf seinem Posten. Es war die Bank, an der Alles vorbei mußte, um zu dem Pavillon am Ende der Terrasse zu gelangen. Er saß, die Kniee hoch hinaufgezogen, die Hände auf dem Stockknopf und nun, wie immer, das Auge starr auf die vorüber fluthende Menge gerichtet. Dem übrigen Personale der Bank schenkte er keinerlei Aufmerksamkeit; es waren drei Frauen und ein Mann und dann fünf Kinder, die um die Bank herumspielten und lärmten, während die Frauen sich die Neuigkeiten des Stadtviertels, aus denen sie herstammten, erzählten.

Plötzlich wird der Herr auf einen Gegenstand in dem Gedränge aufmerksam. Ist es die Frau, die mit ihrem Hunde im Arm und in der andern Hand ein aufgeschlagenes Buch haltend, in der vollen Wichtigkeit ihres Atlas- und Mousselinkleides vorüberrauscht, gefolgt von einem zwei Fuß hohen Jockei, der in saffrangelbes Tuch gekleidet ist? Ist es der kleine, niedliche, blondgelockte Herr, der zwei Damen führt und das Ansehen hat, wie ein Theelöffel zwischen zwei Kaffeetassen? Oder endlich ist es der vornehme Mann dort, der allein und mit großem Anstande durch das Gedränge sich Bahn bricht, als wollte er sagen: „welch’ unnütze und lästige Menschheit das! Wozu nur dieses unanständige Zuviel in der Welt! Man muß die Plätze absperren und bewachen, damit man allein sei!“ – Aber alle diese sind es nicht, das durchbohrende Auge des grauen Herrn trifft auf einen Mann, der, dem Anschein nach heiter und an keine Gefahr denkend, mit seinem Rohrstöckchen spielend, seinen Weg fortsetzt. Aber „der Blick“ legt sich ihm wie ein Schlagbaum quer über den Weg. Der graue Herr ist aufgestanden, hat stark und auffallend ein paar Mal gehustet, und nun steht er da, und läßt das Kartätschenfeuer seines Blickes auf jenen Mann spielen, der nun auch stehen bleibt, anfangs verwundert den Einäugigen ansieht, einen Augenblick, gleichsam wie auf alte Geschichten sich besinnend, das Haupt senkt und dann lächelnd und den Kopf schüttelnd seinen Weg fortsetzen will. Aber der graue Herr hat seine Beute gefaßt, und läßt sie nicht los. Er folgt jenem, immer sich ihm gegenüberstellend, immer ihn mit dem Blicke durchbohrend, wenn sein Gegner einen Augenblick steht oder, die herrliche Aussicht betrachtend, an das Geländer lehnt.

Endlich wird es diesem zu viel, er richtet verwundert eine Frage an den Einäugigen, dieser scheint den Moment nur erwartet zu haben und, unbekümmert um die Menge, die herum sich sammelt, ruft er laut:

„Ich kenne Sie! Entfernen Sie sich augenblicklich, verlassen Sie noch an diesem Abend die Stadt oder – Sie haben es mit mir zu thun!“

Diese Worte sind in einem befehlshaberischen Tone mehr geschrieen als gerufen, und – seltsam genug – der Fremde, ohne sich zur Wehre zu setzen, ja sogar ohne auch nur ein Wort zu erwidern, mischt sich unter die Menge und verschwindet. Der graue Herr bleibt stehen, dreht sich siegreich auf dem Absatze herum, mustert triumphirend die Menge, nickt ein paar Mal mit dem Kopfe, als wollte er sagen: „Habt ihr mich verstanden? Hab’ ich’s recht gemacht?“ und geht dann auf seine Bank zurück.

Des Fragens ist jetzt kein Ende. Wer war der Fremde? Wer ist der Einäugige? Was hatten Beide mit einander vor? Man will es wissen, man will von diesem sonderbaren Handel unterrichtet sein. Einige behaupten, der Fremde hätte sich feig benommen, er hätte bleiben sollen; Andere sagen, es wäre klug von ihm gewesen, einem Verrückten gegenüber ohne ein Wort der Erwiderung das Feld zu räumen, denn es liege klar am Tage, daß der Einäugige verrückt sei. Dies bezweifeln die, die so glücklich sind, über die Köpfe der andern herüber den Gegenstand des Streites, der noch immer ruhig auf der Bank sitzt, in’s Auge zu fassen. Man will gehört haben, daß Jener, der sich entfernte, irgend einmal und irgendwo dem Einäugigen etwas von Werth geraubt habe, etwa seine Frau, sein einziges Kind, sein Silberzeug, oder etwas dergleichen, und daß er jetzt in Gefahr komme, von dem Beraubten, der bis jetzt großmüthig geschwiegen, angezeigt und festgenommen zu werden. Ein Theil der Gesellschaft, die sich mit diesen Fragen ganz besonders eifrig beschäftigte, und nicht wenig ungehalten war, daß dem Einäugigen durchaus keine erklärende Rede abzugewinnen, hatte sich vor dem Pavillon zusammengesetzt und schwieg nach heftigen Debatten eben unmuthig und ermüdet, als ein bekannter Herr sich zeigte, der mit den willkommenen Worten seinen Gruß begleitete:

„Ich kann Ihnen, meine Herren und Damen, über den grauen Herrn Auskunft geben, denn zufällig kenne ich seine Geschichte.“

„Erzählen Sie!“ riefen die Herren und Damen, auf’s Höchste gespannt, und der gefällige Berichterstatter hub an:

„Die äußere Erscheinung dieses Mannes, wie Sie bemerkt haben werden, ist im höchsten Grade auffällig, und besonders ist es sein Auge. Dieses Auge spielt eine Rolle in seinem Leben, wie Sie sogleich hören werden. Er ist der Sohn eines Beamten in einer Nachbarstadt im Gebirge und er selbst nahm eine nicht unwichtige Stelle in einem der Verwaltungsbureau’s unserer Hauptstadt ein. Nie hatte man an dem Manne etwas Excentrisches wahrgenommen, er war frühe auf einem Auge erblindet, blieb unverheirathet, und das konnte nicht wunderbar erscheinen, wenn man seine Häßlichkeit in Betracht zog; er war überdies menschenscheu und aus diesem Grunde zählte er nicht viel Freunde und noch weniger Genossen seiner Einsamkeit; aber man achtete ihn, wie gesagt, als einen ehrlichen Mann und tüchtigen Arbeiter. Nun geschah das Seltsame: Als Napoleon in Dresden einzog, machte er mitten im Gedränge einen ihm sehr mißfälligen Gegenstand bemerkbar, und zwar zeigte er auf einen Mann, dessen Blick ihn verfolgte und dessen Erscheinung ihm zuwider war. Man eilte sogleich, dieses Geschöpf aus seiner Nähe zu verbannen, aber man konnte nicht verhindern, daß, wenn der Kaiser sich öffentlich zeigte, jener Unerquickliche, der Himmel weiß, wie, sich wiederum dicht in seiner Nähe befand und von Neuem den Blick unausgesetzt auf ihn richtete. Zuletzt ward dies ein Gegenstand des Gesprächs in der Umgebung des Kaisers, und da Napoleon, wie bekannt, abergläubisch war, meinte man zu bemerken, daß er auch an die Wirkung eines bösen Blickes glaubte und daß aus diesem Grunde der Zudringliche ihm besonders verhaßt sei. Genug, unser Einäugiger erhielt eine Wichtigkeit, die er sich wahrscheinlich selbst nicht hatte träumen lassen, die aber auf seine eigene Gemüthsstimmung nicht ohne Wirkung blieb. Von diesem Augenblicke sah er sich als einen persönlichen Feind des großen Weltbezwingers an und es stieg in ihm die hochmüthige Idee auf, daß er dazu ersehen sein könne, das Geschick der deutschen Stämme und vor allen seines Vaterlandes von den Ketten der Knechtschaft zu befreien. Wir haben Gründe, anzunehmen, daß er hierüber brütete und die Mittel erwog, die zur Erreichung eines so abenteuerlichen Zweckes dienen konnten.

„Mittlerweile ging der große Sieger seinen Weg unbehindert weiter. Doch sein Himmel trübte sich, sein Gestirn erlosch. Als Flüchtling kam er aus Rußlands Eisfeldern heim, und allein, ohne Armee kam er nach Dresden. Es sollte ein Geheimniß sein, daß er da war, und Wenige in der Stadt wußten auch um das Dasein dieses merkwürdigen Gastes in ihren Mauern. Einer gehörte zu diesen Wenigen, und dies war unser Einäugiger. Im Hause des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten ließ sich spät am Abend ein Mann melden, der die Excellenz unter vier Augen – diesmal unter drei – zu sprechen wünschte. Man ertheilte ihm Gehör, und nun entwickelte unser Mann einen fein angelegten und schlau berechneten Plan, Napoleon gefangen zu nehmen, um ihn auf den Königstein zu schaffen. Der Minister erstaunte über die Kühnheit dieses Plans und suchte seinen Supplikanten von der Unausführbarkeit desselben zu überzeugen. Doch Jener ließ sich nicht bedeuten, er erbot sich selbst zur Ausführung, wenn man nur von der nächsten Wache ihm einige resolute Bursche, die seinem Commando gehorchten, zugeben wollte. Es wäre Alles vorbereitet, er wüßte, in welchem Zimmer der Kaiser schliefe, welche Wege man nehmen müsse, um unbemerkt zu ihm zu gelangen, und – setzte er seiner Rede hinzu – „wenn nichts helfen sollte, so fange ich ihn mit diesem Auge, dessen Blick, wie der Vogel den Blick der Klapperschlange, er nicht ertragen kann.“ Natürlich geschah nichts von dem, was er forderte. Napoleon verließ ungehindert Dresden, aber man sagt, daß wie er das Thor passirt sei, jener Verhaßte, der ihm schon damals Unglück prophezeite, als er mitten im Glücke war, dicht am Wege gestanden und ihm höhnend einen Gruß nachgesandt habe. Man kann sich denken, daß die alten Geschichten von des Kaisers erster Anwesenheit nun wieder auftauchten, und als vollends der Sturz des Mächtigen ganz Europa erschütterte, gewann unser grauer Mann eine Art Bedeutsamkeit und wurde [272] eine Volksfigur. Man zeigte sich ihn, wenn er auf den Straßen erschien, und es entstanden Abbildungen und Verse über ihn. Sein „böser Blick“ wurde das Gespräch des Tages, und der unglücklich Berühmte wußte sich vor dem Gerede und den gehässigen Urtheilen seiner Amtsgenossen nicht anders zu retten, als daß er um seinen Abschied nachsuchte und sich tief in die Einsamkeit vergrub. Aus dieser ist er erst vor wenigen Jahren herausgetreten, und jetzt hätte man ihn und seine Periode der Berühmtheit längst vergessen, wenn er nicht von Zeit zu Zeit Auftritte, wie den eben erlebten, zu Stande brächte, die natürlich nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit wieder auf ihn zu lenken. Er wird nämlich von der fixen Idee beherrscht, daß er einen Widersacher habe, der alle seine Pläne, sie möchten sein, welche sie wollten, beharrlich durchkreuzt und der namentlich auch in jener Nacht, wo die Haftnehmung des Kaisers erfolgen sollte, den Minister gegen sein kühnes Unternehmen eingenommen habe, so daß dadurch das Wagestück habe unterbleiben müssen. Diesen Widersacher, den er nicht genau kennt, glaubt er nun bald in diesem, bald in jenem Fremden, der ihm zufällig begegnet, zu erkennen, und daher auch heute die Scene. Der Fremde that ganz wohl daran, sich ohne Geräusch und ohne sich zur Wehre zu setzen, zu entfernen. Der Zornige besänftigt sich von selbst und denkt weiter an keine Verfolgung.

„Hier haben Sie nun, meine Freunde, die Geschichte des grauen Herrn, der, wie er selbst behauptet, in den Befreiungskriegen mit gefochten hat, ohne sich dabei aus den vier Wänden seiner Stube zu entfernen, lediglich allein mit seinem Auge, das dem großen Kaiser unangenehmer und schädlicher gewesen sei, als eine ganze feindliche Armee.“