Am Fuße des Harras-Sprungs
Am rechten Ufer der Zschopau, eine halbe Stunde von der Stadt Frankenberg gegen Mittag gelegen, erhebt sich aus den bewaldeten Hügelreihen, welche den Fluß geleiten, ein malerischer Felsen. Jäh steigt er aus den Wellen, die seinen Fuß bespülen, bis zu einer Höhe von hundertfünfzig Fuß empor, während auf der andern Seite sanft ansteigende Waldpfade auf seinen Scheitel führen.
Ist’s der Liebreiz der Gegend allein, der so manchen Wanderer anlockt, seine Schritte auf diese Höhe zu lenken? Wohl bietet sich von hier aus ein ungemein anmuthiges Landschaftsbild den erfreuten Blicken. Unten im Thale zieht sich in sanften Windungen das breite blitzende Silberband des Flusses hin. Rechts erweitert sich die Aussicht. Dort liegt in gesegneten Fluren das freundliche Dorf Niederlichtenau; dahinter erheben sich Anhöhen, auf deren Kamme die Dampfwagen der Chemnitz-Riesaer Eisenbahn dahineilen. Kehrt das Auge von diesem Ausblicke in das enge Flußthal zurück, so verliert es sich in ein grünes Meer von dichten Baumkronen, welche die Ufer und die Abhänge der von ihnen aufsteigenden Hügel allenthalben schmücken. Zur Rechten, gegenüber, zur Linken, wo ein quer vorstehender Berg die Aussicht begrenzt – überall üppiges Laubwerk, besonders von mächtigen Eichen und reichästigen Linden, dazwischen auch dunkles Nadelholz. Kaum daß die Thürme und rothen Dächer des Schlosses drüben auf der Bergeshöhe und dort die Mühle im kühlen Grunde daraus hervorzuschimmern vermögen; kaum daß hie und da ein durch die Zweige leuchtendes helles Kleid verräth, wie unten auf dem lauschigen Uferpfade manche jugendliche Gestalt lustwandelt. Nur an einer Stelle hebt sich aus der Waldung das Grün einer Wiese hervor, die sich, immer schmaler werdend, am gegenüberliegenden Hügel hinanzieht.
Die Natur hat diese Höhe, indem sie vor ihr ein so liebliches Landschaftsbild ausgebreitet, besonders bevorzugt. Aber größer noch ist der Reiz, mit welchem die Sage diese Stätte überkleidet und für das ganze deutsche Volk denkwürdig gemacht hat.
Die Sage vom muthigen Springer Harras, die unser patriotischer Sänger Theodor Körner so anmuthig besungen, ist durch ihn jedem deutschen Schulkinde bekannt geworden. Wer hat nicht in früher Jugend mit Enthusiasmus die Verse gelesen:
Unbezwingbar nur, eine Felsenburg,
Kämpft Harras noch und schlägt sich durch,
Und sein Roß trägt den muthigen Streiter
Durch die Schwerter der feindlichen Reiter.
Und er jagt zurück in des Waldes Nacht,
Jagt irrend durch Flur und Gehege;
Doch flüchtig hat er des Weges nicht Acht,
Er verfehlt die kundigen Stege.
Da hört er die Feinde hinter sich drein,
Schnell lenkt er tief in den Forst hinein,
Und zwischen den Zweigen wird’s helle,
Und er sprengt zu der lichteren Stelle.
Da hält er auf steiler Felsenwand,
Hört unten die Wogen brausen;
Er steht an des Zschopauthals schwindelndem Rand
Und blickt hinunter mit Grausen.
Aber drüben auf waldigen Bergeshöhn
Sieht er seine schimmernde Veste stehn;
Sie blickt ihm freundlich entgegen,
Und sein Herz pocht mit lauteren Schlägen.
Ihm ist’s, als ob’s ihn hinüber rief,
Doch es fehlen ihm Schwingen und Flügel,
Und der Abgrund, wohl fünfzig Klafter tief,
Schreckt das Roß, es schäumt in die Zügel.
Und mit Schaudern denkt er’s und blickt hinab,
Und vor sich und hinter sich sieht er sein Grab,
Er hört, wie von allen Seiten
Ihn die feindlichen Schaaren umreiten.
Noch sinnt er, ob Tod aus Feindes Hand,
Ob Tod in den Wogen er wähle;
Dann sprengt er vor an die Felsenwand
Und befiehlt dem Herrn seine Seele.
Und näher schon hört er der Feinde Troß,
Aber scheu vor dem Abgrund bäumt sich das Roß;
Doch er spornt’s, daß die Fersen bluten,
Und er setzt hinab in die Fluthen.
Und der kühne, gräßliche Sprung gelingt,
Ihn beschützen höh’re Gewalten:
Wenn auch das Roß zerschmettert versinkt,
Der Ritter ist wohl erhalten,
Und er theilt die Wogen mit kräftiger Hand,
Und die Seinen stehn an des Ufers Rand
Und begrüßen freudig den Schwimmer. –
Gott verläßt den Muthigen nimmer.
Wo die „Seinen“ gestanden haben mögen, da beschattet eine uralte Eiche, die, wenn sie reden wollte, die beste Auskunft über das muthige Wagniß zu geben vermöchte, ein steinernes Denkmal, welches in alterthümlichen Buchstaben die Aufschrift trägt: „Ritter von Harras, der tapfere Springer.“
Und „die schimmernde Veste“ der Harras? Die alte Burg und das ritterliche Geschlecht, das sie bewohnte, ist längst zu Staub zerfallen. Ein Schloß aus dem vorigen Jahrhunderte, Lichtenwalde genannt, mit gastlich offenstehenden, vielbesuchten und bewunderten Garten- und Parkanlagen, majestätischen, sich domartig wölbenden Lindenalleen und bedeutenden, des Jahres oftmals sprudelnden Wasserkünsten (1869 erneuert), eine Nachbildung von Versailles im Kleinen, krönt jetzt jenen Hügel.
Auf diesen Schauplatz der aus dem Mittelalter herüberklingenden Sage ist der Leser gewiß schon einmal in rosiger Jugendzeit durch Theodor Körner’s allbekanntes Gedicht im Geiste geführt worden. Die nebenanstehenden Abbildungen stellen ihn nun in der Hauptansicht und den mittleren Seitenansichten naturgetreu vor das Auge. Das Kreuz, welches über dem Harrasfelsen oder Haustein hervorragt, ist von Bewohnern Frankenbergs jenem unter der Eiche bei Wöbbelin schlummernden Heldenjünglinge zu Ehren errichtet, der vor etwa sechszig Jahren von dieser Höhe in’s Thal hinabsah und die Harrasthat nicht nur besungen, sondern auch in edlerer Weise nachgeahmt hat, da er sich, getrieben von heiliger Vaterlandsliebe, in die wilden Strömungen des Befreiungskrieges hineinstürzte.
In solcher Umgebung wird die Seele des Wanderers, der sich da oben gelagert hat, gänzlich von der Vergangenheit hingenommen. Doch schon schreckt ihn die lärmende Gegenwart aus seinem Sinnen. Unten im Flußthale braust und rollt es daher. Ein Wagenzug kommt heran. Jetzt legt sich ihm der Haustein in den Weg. Ein gellender Pfiff und der Zug ist in dem Felsenleibe verschwunden, um erst nach einiger Zeit auf der entgegengesetzten Seite wieder zu Tage zu kommen. Die erst in vorigem Frühjahre eröffnete Hainichen-Frankenberger Eisenbahn, welche bei Wiesa in die Chemnitz-Annaberger Gebirgsbahn einmündet, hat durch die felsigen Thalwände ihren Schienenweg gebahnt. Fürwahr eine romantische Straße! Am Fuße eines Buchenhaines tritt sie von Wiesa her in das Lichtewalder Thal ein. Kühn überbrückt sie die Zschopau, passirt alsdann die Haltestelle Braunsdorf, Station für Lichtenwalde mit Schloß gleichen Namens, welch’ letzteres auf jenseitigem Ufer der Zschopau in seiner idyllischen Lage dem Auge sich darbietet, arbeitet sich in ziemlicher Höhe auf dem rechten Ufer durch Gneismassen, durchbricht in einem zweihundertachtzig Fuß langen, durch Grünstein gesprengten Tunnel den Haustein, verläßt den Fluß und zieht sich auf mächtigen Dämmen und von schlanken Pfeilern getragenen Brücken über reizende Thäler hin. Zwei Abbildungen lassen einen Blick in das Hammerthal diesseits und das vom Hopfenberge überragte Lützelthal jenseits des Frankenberger Bahnhofs hineinthun.
Vom letztern aus bietet sich eine entzückende Aussicht in die breite Sachsenburger Thalmulde. Das Landschaftsbild ist vollständig abgeschlossen. Der Rahmen wird von drei Höhenzügen gebildet. Links erheben sich, von einem Dorfe gekrönt, die Merzdorfer Höhen, rechts reichbewaldete Berge. Beide verbindet im Hintergrunde der breite Rücken des Treppenhauer, von welchem herab einst die Burg Gozne das Thal beherrschte. Vor dem Treppenhauer thront auf niedrigerem Felsenberge das Schloß Sachsenburg und neben diesem Wahrzeichen einer alten Zeit liegt unten im Thalwinkel das Wahrzeichen der neuen, ein stattliches Fabrikgebäude von C. G. Reichelt.
Das also eingerahmte Thal ist recht eigentlich der Lustgarten der Frankenberger. Der am Flusse hinlaufende, am Schilfteiche und an prächtigen Wiesen vorüberführende Dammweg ist, wie auch der Künstler auf der Abbildung andeutet, ihr Lieblingsspaziergang. Er führt an der Spinnerei links in das Krumbacher Thal ab, wo die Zschopau, die schmucke Tochter des Fichtelberges, sich mit immer neuen Reizen schmückt. Nicht minder angenehm ist ein Gang durch die frischen Wälder, welche zur Rechten des Thales die Höhen bedecken. Zahlreiche Vögel lohnen für den Schutz, den sie dort finden, durch hellen Gesang, und in der Dämmerung huschen Rehe mit elfenleichten Sprüngen über die Waldschneußen.
Am Ausgange des Waldes gelangt man nach Schloß Sachsenburg. Früher im Besitze der Herren von Schönberg, wurde es im Anfange des siebenzehnten Jahrhunderts vom Kurfürsten Johann Georg dem Ersten als Kammergut gekauft und diente der Wittwe seines Nachfolgers, Magdalena Sibylle, als Aufenthalt. Gegenwärtig sind die Gebäude zu landwirthschaftlichen Zwecken bestimmt und seit dem Jahre 1867 ist eine Besserungsanstalt für jugendliche Sträflinge daselbst eingezogen. Die freundliche Schloßschänke gewährt eine herrliche Fernsicht auf die Höhen des Erzgebirges, auf die weithin über die Lande glänzende Augustusburg und Lichtenwalde.
Und unten im Thalgrunde, zwischen dem Lichtenwalder und Sachsenburger Thale mitten inne, da liegt, wie eine Perle in der Muschel, die Stadt Frankenberg mit Neubau und Gunnersdorf. Der Bergbau, früher in nächster Umgebung von Frankenberg gefördert, hat sich nur noch in dem etwa eine Stunde entfernten Schönborn und Dreiwerden erhalten. Seine Bedeutung verdankt es dem Handel, der Fabrikation und dem Gewerbfleiße. Schon seit zweihundert Jahren hat hier der Handel mit dem Auslande geblüht, und seit nahezu sechszig Jahren hat sich der Groß- oder Zwischenhandel mit Manufacturwaaren hier niedergelassen, welcher jetzt in zwölf bedeutenden Geschäften einen großen Theil Deutschlands mit Kleiderstoffen aller Art versorgt. Im Jahre 1784 zog die Kattundruckerei in die Stadt ein; unter den jetzt bestehenden sieben Etablissements dieser Branche befindet sich die größte sächsische Druckwaarenfabrik der Herren Uhlemann und Lantzsch. Eine Seidenwaarenfabrik, Firma Behr und Schubert, welche glatte Kleiderstoffe und hauptsächlich schwere Möbeldamaste liefert, hält allem diesen Fabrikationszweig in Sachsen aufrecht. Sechs Cigarrenfabriken, zum Theil über ein Vierteljahrhundert bestehend, beschäftigen gegen neunzehnhundert Einwohner. In und unmittelbar vor der Stadt liegen drei Spinnereien.
Das Hauptgewerbe aber ist die Weberei. Diese ist wahrscheinlich schon bei der in das erste Jahrhundert des jetzigen Jahrtausends zu setzenden, vielleicht durch hessische Ansiedler erfolgten Gründung der Stadt hier eingezogen. Im Jahre 1585 schickte Brigitte von Schönberg, geborene Pflug, einen Frankenberger Weber Namens Thomas Rockardt nach Brabant, um das Grobgrünmachen und Färben zu erlernen. Außer der Kenntniß hiervon brachte Rockardt das Modell einer Zwirnmühle mit zurück, nach welcher er eine größere fabricirte. Er lehrte nun auch Andere die Zwirnfabrikation. Als der Kurfürst Vater August davon hörte, soll er gesagt haben: „Wollt’ Gott, ich hätt’ ein ganzes Schock solche Zwirnmüller in meinem Lande.“ Jetzt bestehen in der Stadt sechszehn größere Weberwaarenfabriken und etwa der sechste Theil der neuntausendfünfhundert Seelen zählenden Einwohnerschaft betreibt diesen Erwerbszweig. Die Maschinenfabrik von Uhland und Carstens steht mit Uhland’s Technicum, einer mehr und mehr aufblühenden technisch-mercantilen Lehranstalt in Verbindung, welche jetzt über hundertdreißig Zöglinge aus verschiedenen Ländern Europas und Amerika’s zählt.
Die neuerrichtete, die Stadt berührende Eisenbahnlinie führt ihr einen neuen Lebensnerv zu, eröffnet aber auch zugleich den bequemsten Zugang zu einem Stück deutscher Erde, dessen herzerfreuende Naturschönheiten nur in näheren Kreisen bekannt und bisher wenig aufgesucht sind.