Am Sarge eines großen Volksmannes

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Autor: A. Bernstein
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Titel: Am Sarge eines großen Volksmannes
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 352–356
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[352]

Am Sarge eines großen Volksmannes.

Von Dr. A. Bernstein.

 1.0 Schulze-Delizsch’s Geist, Thatkraft und Charaktergröße.

Geist, Thatkraft und Charaktergröße sind in harmonischer Verbindung die Grundbedingungen eines großen Schaffers. Auf die glückliche Vereinigung dieser drei Eigenschaften in der Seele des herrlichen Mannes hinzuweisen, dessen Tod wir tief beklagen, erachten wir für eine bessere Kennzeichnung seines Wesens, als eine flüchtige Lebensbeschreibung, wie sie bereits in sämmtlichen Tageszeitungen gegenwärtig zu finden ist.

Nur wenige Zeitgenossen hatten Gelegenheit, den tiefen, ernsten und seelenreinen Geist Schulze’s in seiner ganzen Fülle kennen zu lernen. In allen Punkten seines politischen Wirkens ragte er zwar hervor aus der Reihe seiner Genossen und wurde auch zu allen Zeiten als Einer der Begabtesten an Geist und begeisterndem Rechtssinn anerkannt; aber mehrere Männer gleich edlen freiheitlichen Strebens standen ihm zur Seite, die das Verdienst des tapferen Kampfes für Volksrecht mit ihm theilen. Sein eigenartiges und tieferes Wesen liegt verborgen in seinen Tagebuchblättern aus den Vorzeiten der politischen Bewegung. Die einzelnen Freunde, welchen er bruchstückweise hieraus Mittheilungen machte, die nahmen wahr, wie viel tiefer das ist, was er in aller Stille der Seele zur eigenen Klärung der Gedanken niedergeschrieben, als Alles, was die Tage der politischen Kämpfe ihn zwangen in öffentlicher Discussion darzuthun.

Der Mann, der praktisch so Großes wie Keiner vor ihm in gewerblichen Kreisen geschaffen, er war ein Dichter im würdigen Sinne des Wortes. Davon legte bereits sein „Wanderbuch, ein Gedicht in Scenen und Liedern“ im Jahre 1838,[1] also ein volles Jahrzehnt bevor er auf der politischen Tribüne seine Rednergabe darzuthun den Beruf fühlte, ein sprechendes Zeugniß ab. Wir begnügen uns damit, nur ein einzelnes Frühlingsgedicht von ihm hier unseren Lesern mitzutheilen, weil dies allein schon darthut, wie die Prosa der wirthschaftlichen Probleme und der oft erbitternde Parteikampf der politischen Streitfragen sich in einer edlen Natur auch mit einer poetischen lebendigen Naturanschauung vereinigt.

Das Gedicht lautet folgendermaßen:

 Lenzgesang.
Wonnedurstig, frühlingskräftig
Zieh’ ich durch die graue Flur,
Ueberall der Lenz geschäftig,
Junger Triebe frische Spur.

[354]

Auf der Wiese, leise, lose,
Wankt das Blümchen her und hin,
Möchte selbst mit Lustgekose
Frei, ein Frühlingslüftchen, zieh’n!

Und es freut der ird’schen Hülle
Sich der Geist in Jugendbraus,
Strömet seiner Wonne Fülle
In die Muskeln schwellend aus.

Auf den Scheitel möcht’ ich häufen
Alle Kränze, die jetzt blüh’n,
Nach dem Höchsten möcht’ ich greifen,
Es zur Erde niederzieh’n.

In der Erde sollt’ es treiben,
Sollt’ es blühen lenzgeweckt,
Ob die gold’nen Früchte bleiben
Ewig auch dem Blick versteckt.

[353]

Schulze-Delitzsch’s Leichenzug auf der langen Brücke in Potsdam.
Für die „Gartenlaube“ gezeichnet von Albert von Roeßler.

[354] Von viel tieferem geistigem Zuge sind die Blätter seiner Tagebücher aus den Jahren 1841 bis 1844 erfüllt. In diesen erhebt sich ein Geistesbild zu lichter Anschauung über Menschen, Geschichte und Religionsentwickelung. Schulze besaß ein tief religiöses Gemüth. Freilich nicht im Sinne der Märchen-Gläubigen der Dogmen-Orthodoxie, wohl aber im Gefühl und Bewußtsein, daß das geläuterte Menschenwesen sich am deutlichsten auspräge in der stets wachsenden Veredlung der Gottesidee in der Menschheit. Lange Zeit bevor Bunsen in seinem Buche „Der Gott in der Geschichte“ diesen Gedanken eines stets mit der Geistesbildung der Menschheit wachsenden Gottesideals darlegte, sprach bereits Schulze in seinem bisher noch nicht veröffentlichten Tagebuch auf der Reise nach Italien die Grundzüge dieses Gedankens aus. Die poetische Intention und die Klarheit seines Denkens führen wir unseren Lesern in folgendem Auszuge vor.

Auf seiner Ferienreise in Italien treibt ihn die rege Liebe zur Natur nach Sicilien, um dort den Aetna zu besteigen. Es ist Nachts, wo er auf dem Meere die Ueberfahrt von Neapel aus unternimmt. Er schildert, wie es still ist im Schiffe. Die Schläfer ruhen in der Kajüte. Auf dem nächtigen Meer schwebt der Schimmer des Mondes. Schulze breitet seinen Mantel aus und sucht sein Lager auf dem Verdeck.

Da gewinnt das Meer im Geräusch der sich brechenden Wogen am Kiel und im Rasseln des Takelwerkes Laut und Leben, und vor seinem Geist taucht die Zeit des Alterthums auf, in welchem diese Küsten, diese Felsen und diese Haine belebt waren durch die Heldenlieder der griechischen Volkssagen, in welchen Cyklopen, Circe, Sirenen und die Abenteuer des Odysseus besungen wurden.

In Betrachtung des wachsenden Geistes der Menschengeschlechter ergeht er sich nun vom grauen Alterthum in die Blüthezeit der griechischen Kunst und in die Göttergestaltungen, die sie in unsterblicher Schöne geschaffen. Er spricht hierbei Gedanken aus, die von der Tiefe seiner historischen Auffassung ein sprechendes Zeugniß ablegen.

„Die Gottheit einer geschichtlichen Epoche ist deren jedesmalige höchste Idee. Wie die Menschheit im Ganzen vorschreitet, wie sich ihr Ideenkreis im Allgemeinen erweitert und klärt, so wächst auch die Gottheit mit und in ihr fort, und immer reiner und gediegener tritt der Begriff aus den abfallenden Schlacken veralteter Erkenntnißformen. Die alten Götter hatten darum zu ihrer Zeit so gewiß, so wesenhaft Existenz und Macht, wie die der heutigen. Aber der Versuch, sie zu fixiren und somit abzuschließen mit irgend einer Culturperiode, welcher von Priesterkasten von jeher versucht worden ist, mußte an dem unaufhaltsamen Wachsthum der Menschheit noch immer scheitern. Nur ein solcher ist der lebendige Gott, dessen Hauch die geistige Atmosphäre einer ganzen Generation durchdringt und erfüllt, Anfang und Ende aller höhern Bestrebung und Erkenntniß in ihr. Ist aber das Ziel erreicht, der Standpunkt geändert, dann zerfällt er mit dem Geschlecht selbst, dessen Product er war, wie jede Form, von welcher der lebendige Geist gewichen. Denn freilich sind das Alles nur Formen der Gottheit, wie die verschiedenen Generationen Formen der Menschheit sind, welche erscheinen und zerfallen, indem sie der ewige Begriff selbst in steter Beweglichkeit schrittweise von sich abstreift. So entwickelt sich die Gottheit fort und fort aus sich selbst heraus im unbegrenzten All, und Völker und Zeiten sind nichts weiter als die Träger einzelner Gottesgedanken, welche, sobald sie ihr Wesen nach seiner Eigenthümlichkeit entwickelt und so Blüthe und Frucht getragen haben, organisch zerfallen, mit dem Staube ihrer Verwesung den Boden für eine neue Vegetation befruchtend.

Mag der freie Menschengeist sich in seine eignen Tiefen versenken, mag er schweifen im Unermeßlichen umher, überall sucht und findet er Gott. Nicht länger in dem Versteck der Tempel und heiligen Haine, nicht in den Schulen der Priester liegt die Erkenntniß gefesselt, nicht in heiliger Ueberlieferung von Schrift und Wort. Der mündig gewordene Gedanke bedarf keiner sinnlichen Bilder, keiner Formeln und Symbole mehr, an die er sich anklammern müßte, um bei seinem Aufschwunge nicht in das Schrankenlose zu versinken. Wenn ich aufschaue zu den Sternen droben, nicht mehr drängt es mich, gleich jenen Menschen einer frühen Vorzeit, sie in phantastische Bilder nach Willkür zu ordnen, um mich nicht zu verirren in dem zahllosen Heere. Kernen Orion suche ich mehr, keinen himmlischen Schwan, nicht das Haar der Berenice oder die Leier, den Bären nicht und Himmelswagen – Welten sehe ich, bald lichtbeseligt um die eigene Achse, bald strahlendürstend um andere kreisen, alle von ewigen Kräften bewegt, nach ewigen Gesetzen in bestimmten Bahnen wandelnd. Aber der Menschengeist hat sie in seinem hohen Schwunge begriffen, diese Urkräfte, hat diese Urgesetze erkannt, diese unabsehbaren Bahnen gemessen. Hält doch ihn die gleiche Kraft in stets fluthender Bewegung, trägt er doch in sich selbst das Weltgesetz, das nothwendige Maß aller Dinge, die ewige Vernunft, in ihr das Bewußtsein des Alls. Und wie ich mich in den Gedanken versenke, überkommt meine Seele eine heilige Stille, tief wie das Meer; den Pulsschlag der ganzen, weiten Schöpfung gühle ich in meinem Herzen, meine Schläfe rührt der Odem der Ewigkeit, wie ein verlispelnder Hauch.“

Von solchen religiös poetischen und philosophischen Gedanken getragen war der Mann, der den Beruf in sich fühlte, in den politischen Kampf für Recht und Freiheit und in die damals noch ganz ungebahnten Probleme der wirthschaftlichen Fortschritte erfolgreich einzugreifen.

Ist dieser Auszug aus den noch nicht veröffentlichten hinterlassenen Schriften Schulze’s ein Zeugniß seines regen edlen Geistes, so bedarf es vor den Augen unserer Zeitgenossen keiner weiteren Zeugnisse seiner großen Thatkraft auf dem praktischen Gebiete. Die Genossenschaften, die er anfangs in ganz kleinen Kreisen unter den drückendsten Umständen der Reaction zu schaffen begonnen und bis zu der jetzigen Höhe empor getragen hat, sie sind eine Erscheinung, welche bekundet, daß auch im deutschen Vaterlande ideale Bestrebungen und reale Schöpfungen in auserwählten Geistern vereint auftreten und wirken können. Es gereicht dem Vaterlande zu hohem Ruhme, daß aus allen älteren Culturstaaten dem deutschen Manne Bewunderung gezollt und von den besten Geistern seine Werke gerühmt und nachgeahmt werden. Im praktischen England wird die Exactität angestaunt, mit der Schulze durch dreißig Jahre unausgesetzten Fleißes den großen Umfang seiner Wirksamkeit geregelt und in Schriften und Jahresberichten übersichtlich dargelegt hat. In Frankreich und Italien strebt man ihm nach und nimmt seine Statuten und gesetzgeberischen Ausarbeitungen als Muster, um in gleicher Weise eine gesunde sociale Bewegung im Volke anzuregen. Im deutschen Theile von Oesterreich sind Genossenschaften nach dem Vorbilde der Schulze’schen Schöpfungen bereits zahlreich vorhanden, und selbst in slavischen Kreisen bemühen sich ernste Männer, auf gleichem Wege die Bahn des wirthschaftlichen Fortschrittes zu ebenen.

Von noch höherer Tragweite ist Schulze’s Thatkraft dadurch, daß es ihr gelungen ist in der deutschen Nation einen Kreis von praktischen Männern heranzubilden, die sein Werk in seinem Geiste fortführen. An der Spitze von dreiunddreißig Provinzialverbänden der Genossenschaften stehen Männer aus den verschiedensten Berufsclassen, gemeinsam getragen von den Ideen und Zielen, die Schulze entwickelt und verwirklicht hat. Unter ihrer Leitung wirken mehr als 3500 Genossenschaften unter localen Directoren, die eine Gesammtzahl von fast anderthalb Millionen Mitgliedern repräsentiren. Es ist eine Thatsache, daß es kein Institut weiter giebt, das an Mitgliederzahl und an Ausdehnung ihres Wirkens in gleich imposanter Weise von einem einzigen Schöpfer und Träger freien privaten Charakters in’s Leben gerufen worden ist. Aus den Notizen, welche bis jetzt den Stand der Angelegenheiten darthun, ergiebt sich, daß in den gesammten Genossenschaften der Geschäftsumfang sich auf mehr als 2000 [355] Millionen Mark beläuft und ihr eigenes angesammeltes Kapital mehr als 180 Millionen Mark beträgt.

Erfolgreicher aber noch als dieser herrliche Triumph eines großen Strebens steht der Grundgedanke desselben vor Aller Augen da. In einer Zeit, in welcher sich die sociale Pfuscherei in der Kunst versucht, Volksbeglückungen durch Staatsactionen hervorzurufen, ist die bereits in aller Stille und ohne jede staatliche Autorität durchgeführte sociale Hülfe durch die Genossenschaften ein glänzendes Zeugniß für die Theorie der Selbsthülfe.

Die Entwickelung dieser Theorie geht über die Grenzen dieser Betrachtung weit hinaus. Wir führen deren glückliche Erfolge nur an als ein Zeugniß des großen Segens, den Schulze durch seine ganz beispiellose Thatkraft in’s Leben gerufen hat.

Die glückliche Verbindung von Geist und Thatkraft, wie sie in Schulze sich verwirklicht hat, gehört zu den größten Seltenheiten in der Welt. Man hat nicht mit Unrecht besondere Geistesbegabung und tiefe Seelenempfindung als den Gegensatz des praktischen Wirkens betrachtet. Dichterische Neigungen und philosophische Anschauungen werden in der Regel von bedeutenden Praktikern als störende Eigenthümlichkeit betrachtet, die zu unausführbaren Unternehmungen verleiten. Nannte man ja selbst die Deutschen eine Nation der Denker und meinte damit ihre praktische Thatenlosigkeit in der Geschichte erklären zu können. Daß gleichwohl in Einzelnen Geistesstärke und Thatkraft sich vereinigen könne, das lehrt ein ernster Blick auf den echten Sohn des deutschen Vaterlandes: Schulze-Delitzsch.

Alles überwiegend aber ist seine Charaktergröße.

Es steht sein ganzes nun abgeschlossenes Leben so rein und licht von jedem Schatten des Eigennutzes und der Selbstsucht vor Aller Augen da, daß selbst die Gegner seiner politischen Grundsätze und des wirthschaftlichen Wirkens nicht umhin können, sein Lob zu verkünden. Es waltet auch in haßverbissenen Gemüthern gegenüber der allgemeinsten Theilnahme, die sein Tod auf’s Neue wachgerufen, ein Schweigen ob von jeder Art von Verleumdung, mit welcher man durch ein ganzes Menschenalter seinen Charakter zu trüben versuchte. Ein sprechendes Merkmal der allgemeinen Verehrung giebt sich auch in den Worten kund, mit welchen der conservative Präsident des deutschen Reichstags, Herr von Levetzow, die Todeskunde in der Sitzung vom 30. April dieses Jahres dem versammelten Hause mittheilte. Es lauteten diese Worte wie folgt:

„Ich habe dem hohen Hause die schmerzliche Mittheilung zu machen, daß unser verehrter Kollege Schulze-Delitzsch, Abgeordneter für den Wahlkreis Wiesbaden-Rheingau, nach längerem Leiden gestern früh in Potsdam gestorben ist. Der Verstorbene gehörte dem Reichstage ununterbrochen seit 1867 an. Wie er sein ganzes Leben der öffentlichen Wohlfahrt gewidmet hat, auf genossenschaftlichem Gebiete unter Aufstellung neuer Gesichtspunkte der Schöpfer war hochbedeutungsvoller, weit über die Grenzen Deutschlands hinausragender Institutionen und Organisationen, deren Berather und Förderer, deren Seele mit voller Hingebung und Frische er blieb bis an seinen Tod, so gilt er auch im Reichstage als ein Muster treuer Pflichterfüllung, auf allen Seiten hoch geschätzt, bei allem Eifer stets sachlich und bereit, auch mit den Gegnern seiner Ansichten sich zu verständigen. Er empfand es sehr schmerzlich, daß seine körperlichen Kräfte ihm in der letzten Zeit nicht gestatteten, unseren Sitzungen regelmäßig beizuwohnen. Wir werden den liebenswürdigen, ehrwürdigen Collegen nimmer vergessen, und zu Ehren seines Andenkens bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.“

Das Haus erhob sich als Zeichen seiner Zustimmung zu dem Urtheile seines Präsidenten. Die achtbarsten Mitglieder aller Parteien fanden sich bei dem feierlichen Begräbnisse des verehrten Mannes in Potsdam ein, wie wir dies in einer Beschreibung des Leichenbegängnisses unseren Lesern noch näher ausführen. Wir aber können diese Charakteristik des Verstorbenen nur mit den Worten schließen:

„Heil dem Vaterlande, wenn nach dem schweren Verluste, der es betroffen, edle Nachfolger des Mannes erstehen, die ihm an Geist, an Thatkraft und Charakterreinheit nachstreben!“


 2.0 Schulze-Delitzsch’s Begräbnißfeier.

Der große Schmerz und die in allen Theilen Deutschlands tiefgefühlteste Trauer, welche der Tod des treuen Volksvertreters Schulze-Delitzsch am 29. April 1883 allen deutschen Herzen bereitet hat, fand durch die zahlreiche Theilnahme an seinem Leichenzuge einen sprechenden Ausdruck.

Das sonst so friedliche Potsdam zeigte am Begräbnißtage, den 3. Mai, dem Fest der Himmelfahrt, schon früh ein ungewöhnlich reges Leben, und dieses wuchs von Stunde zu Stunde, denn aus allen deutschen Gauen strömten Tausende, durch die traurige Kunde vom Tode ihres Schulze-Delitzsch tiefbewegte Männer herbei, um ihren Freund, Berather und Beschützer zur letzten Ruhestatt zu begleiten. Alle beeilten sich, ihre Namen in eine aufgelegte Condolenzliste einzutragen und ihre Kränze und Palmzweige, deren Atlasschleifen mit Widmungen versehen waren, am Sarge des geliebten und verehrten Dahingeschiedenen niederzulegen, welcher, über und über bedeckt mit den lieblichsten Kindern des Frühlings, zur ewigen Ruhe gebettet auf der Bahre lag.

Um 12 Uhr fanden sich die Mitglieder des Reichstages ein, um der häuslichen Feier beizuwohnen, etwa 150 Mitglieder aller Fractionen. Der Trauerfeier, welche im Gartensaale stattfand, wohnten ferner bei der Oberbürgermeister von Forckenbeck aus Berlin, der Vorsitzende der Berliner Stadtverordneten Dr. Straßmann, eine Deputation der städtischen Behörden Potsdams, der Polizeipräsident und Andere. Am Kopfende des von Blumen fast erdrückten Sarges hatte die trauernde Wittwe mit den beiden Söhnen, der Tochter und den übrigen Verwandten des Hauses Platz genommen, Der Chor der Friedenskirche eröffnete die Feier mit dem Gesange: „Wenn ich einmal soll scheiden.“ Daran schloß sich die Leichenrede des Hofpredigers Rogge. Der Geistliche sprach mit Liebe und Wärme von dem Dahingeschiedenen als Familienvater und wußte dessen weltgeschichtliche Bedeutung so verständniß- und liebevoll zu Gehör zu bringen, daß die Rede einen erhebenden und nachhaltigen Eindruck auf die Trauerversammlung nicht verfehlte.

„Auch für ihn,“ sprach der Geistliche, „gilt das Psalmwort: ‚Unser Leben währt siebenzig Jahre und wenn es hoch kommt achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.‘ Mühe und Arbeit ist auch der Grundgedanke seines Lebens gewesen, und von jeher hatte ihm dies als Aufgabe und Inhalt eines Menschenlebens vorgeschwebt. Er hat nicht darnach gestrebt sein Leben in thatenloser Behaglichkeit, im Besitz der Lebensgüter zu verbringen, ihm war es vielmehr verliehen, die Gaben, die ihm Gott gegeben, auszunützen für die Allgemeinheit, seine Kräfte dem Ganzen dienstbar zu machen. – Der Geschichte bleibt es vorbehalten, ein abschließendes Urtheil über seine Bestrebungen zu fällen, aber ein Zeugniß sind wir diesem Sarge schuldig, und wir sprechen es aus dem Herzen des ganzen Volkes, und namentlich der 3500 Vereine, die an ihm einen Berather und Beförderer verloren: bei allen Bestrebungen hat ihm nur Eins vor Augen gestanden, das war die Wohlfahrt seines Volkes und seines Vaterlandes.“

An die tief ergreifende Trauerrede schloß sich der Segensspruch, und während der Chor eine Motette sang, wurde der Sarg mit der sterblichen Hülle des treuen Volksmannes hinausgetragen auf den vierspännigen Leichenwagen.

Sodann setzte sich der riesengroße, mehr als 10,000 Menschen umfassende Leichenzug in Bewegung. Im langsamen Schritt bewegte sich der Zug durch die Stadt über die lange Brücke hinaus (von wo aus das Bild ihn darstellt), dem alten Kirchhofe zu. Unzählige Menschen standen auf den Straßen, und an der langen Brücke hatten Tausende Stand gefaßt, die den Zug sehen wollten, welcher von hier aus einen imposanten Anblick darbot. Die Trauerweisen dreier Musikcorps mischten sich mit dem Geläute der Kirchenglocken und verbreiteten in der ganzen Stadt einen wehmüthigen Ernst. Dem Zuge voran schritt das Musikcorps des ersten Garderegiments, den Trauermarsch Chopin’s weithin schallen lassend. Dann folgten die Gewerkvereine Potsdams, Berlins und anderer Städte, der Berliner Arbeiterverein mit seiner florumhüllten Fahne und der Berliner Verein Waldeck kostbare Kränze an schwarzen Stäben tragend.

Ein zweites Musikcorps schritt dem mit Blumen geschmückten vierspännigen und von Reichstagsdienern escortirten Leichenwagen voraus. Unmittelbar dahinter folgten die Söhne und andere Verwandte des Verstorbenen. Dahinter wurden die Kränze des Großherzogs von Hessen und des Reichs- und Landtagspräsidiums getragen. Es folgten die Abgeordneten des Reichs- und Landtages, etwa hundertfünfzig an der Zahl, darunter die beiden Präsidenten von Levetzow und Ackermann, das gesammte Bureau [356] der Fortschrittspartei, unter Anderen Virchow, Eugen Richter, Ludwig Löwe, von Bunsen, Neßler, Albert Traeger und Rademacher. Von anderen Parteien von Bernuth, von Bennigsen, von Benda, von Maltzahn-Gültz, Dr. Hartmann, Dr. Lieber, die Socialdemokraten Frohme und Rittinghaus, und viele Andere. Ihnen folgten die städtischen Behörden Potsdams und Berlins in Amtstracht, der engere Ausschuß der Genossenschaften und Deputationen derselben aus allen deutschen Gauen. Ferner die Vertreter der Genossenschaftsbank und die Vertreter anderer Banken und gewerblichen Institute, zahlreiche kaufmännische Vereine, dazu die Vertreter der Berliner und auswärtigen Presse in sehr großer Anzahl, Kränze und Palmzweige tragend.

Wieder unterbrach ein Musikcorps die Reihen und diesem folgten Deputationen der Volksbildung-, Handwerker-, Gewerbe-, der politischen und communalen Vereine aus Berlin, Spandau, Charlottenburg, Delitzsch, Stralsund, Magdeburg, Stettin, Burg, Aschersleben, Wittenberg, Tangermünde, Hamburg, Görlitz, Eisleben, Wiesbaden, Lissa, Rudolstadt, Herzberg, Meiningen, Dennstedt, Gardelegen, Frankfurt, Brandenburg, Prenzlau, Kassel, Coblenz, Zeitz, Barmen, Breslau und vielen anderen Orten, um ihrem Begründer und Schöpfer das letzte Geleit zu geben. Delegirte des akademischen Vereins „Marchia“ in vollem Wichs schlossen sich diesen an, und ihnen folgten zahlreiche Berliner Bezirksvereine und sämmtliche fortschrittliche Wahlvereine mit Fahnen und Bannern, welche mit Florstreifen umhüllt waren. Potsdam machte den Beschluß. Darauf schloß sich eine Reihe von Wagen an, deren vordere den Reichs- und Landtagsmitgliedern gehörten.

Von nah und fern waren viele Freunde des Verewigten herzugeeilt, um mit der Potsdamer Bevölkerung ihren Freund und großen Mitbürger scheiden zu sehen. Schweren Herzens sahen sie dem Zuge nach, der ihren Stolz und treuesten Freund hinausführte auf den stillen Friedhof. Als der Zug dort angelangt war, empfing der Schärtliche Gesangverein den Sarg mit dem Liede: „Ueber allen Wipfeln ist Ruh“, und während man den Sarg in die Gruft hinabließ, sprach Hofprediger Rogge den Segen.

Der Bürgermeister Nizze aus Ribnitz, Vorsitzender des engeren Ausschusses der deutschen Genossenschaften, trat an die offene Gruft, dem Verstorbenen ein mit innigem Dankgefühl tiefbewegtes „Ruhe sanft!“ nachzurufen und mit folgenden Worten einen Kranz auf das Grab zu legen: „Du alter, braver Schulze, Du treuester Freund des deutschen Volkes, Du Wohlthäter von Millionen, als Zeichen unbegrenzter Liebe, Verehrung und Dankbarkeit lege ich diesen Kranz auf Dein Grab. Dein Geist leuchte uns auch ferner voran, Deine Asche ruhe in Frieden!“

Hierauf trat Herr Professor Möller an die Gruft, schilderte das Wirken Schulze’s auf dem politischen und volkswirthschaftlichen Gebiete und schloß mit dem Dichterworte:

„Wer den Besten seiner Zeit genug gethan,
Der hat gelebt für alle Zeiten.“

Nach Herrn Professor Möller sprach der Abgeordnete Wißmann aus Wiesbaden den Dank der Stadt Wiesbaden, die Schulze im Reichstage vertreten hat, in schönen, herzlichen Worten aus und legte einen prachtvollen Kranz auf das Grab.

Während der Gesangverein das „Auferstehen“ sang, schloß sich das Grab über dem Unvergeßlichen, die Menge zerstreute sich ernst und schweigend, und es wurde still auf dem Friedhofe, auf welchem das deutsche Volk einen der besten Männer seiner Vergangenheit und Gegenwart zur Ruhe gelegt hatte.


  1. Erste Auflage bei Brockhaus in Leipzig, zweite Auflage 1859 bei Flemming in Glogau.