An das deutsche Volk (1885)

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Autor: Robert Hamerling
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Titel: An das deutsche Volk
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 216
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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An das deutsche Volk.

Zur 70. Jahresfeier der Geburt des Fürsten Bismarck (1. April 1885).

Wir schauten die größte germanische That, von der die Geschichte berichtet,
Das größte der Wunder, wie es nur im Traum vorahnend die Muse gedichtet:
Germanische Kraft mit zermalmender Wucht zu germanischem Werke verbündet,
Germanias Größe gefestet zum Ring, zur funkelnden Krone geründet!

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Gewalt’ges vollbringt ein gewaltig Volk. Doch wer ist’s, der zum Heile sie wendet,

Die gewaltige That? wer ist’s, der sie plant? und wer ist’s, der sie vollendet?
Wer ist’s, der Verworr’nes, der Ziele bewußt, mit ordnendem Geiste gestaltet;
Zu lebendiger Blüthe der Wirklichkeit, was Jahrhunderte träumten, entfaltet?

Der Genius ist es, der Heros, traun! in welchem zum lichten Gedanken

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Das Ringen, das dumpfe, des Volkes wird, das gegährt in beengenden Schranken,

Und Leben gewinnt und feste Gestalt, und vor dem staunenden Blicke
Der Mitwelt streitbar tritt in die Bahn, zu entscheiden die großen Geschicke.

Auch dir, o deutsches Volk, auch dir ist solch ein Mittler erstanden,
Ein Führer und Lenker, so kühn als klug, ein Held in germanischen Landen,

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Der, wie Keiner vor ihm, der Räthselsphinx der germanischen Zukunft begegnet,

Mit Kraft von Natur, mit Macht vom Geschick, mit Glück vom Himmel gesegnet!

Du feierst ihn heut – zujauchzest du ihm! Doch – willst du am schönsten ihn ehren,
O deutsches Volk, so gedenke du heut auch ein in dich selber zu kehren,
Und frage dich still: Ist gesichert nunmehr für immer uns, was er geschaffen,

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Geschaffen mit waltender Geisteskraft, und ersiegt im Sturme der Waffen?


O Festtag, werde zum Schicksalstag für alle germanischen Gaue,
Daß sinnenden Blicks anheut, wie zurück, auch vorwärts Jeglicher schaue,
Anflehend der Schicksalsmächte Gunst, daß über dem Reiche sie walten,
Wenn heimgegangen die Starken sind, die wie Säulen es heben und halten!

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Die Stämme, die Gaue der Deutschen, o seht, im weiten germanischen Reiche,

In einander gewachsen sind sie noch nicht wie die Aeste im Wipfel der Eiche:
Vereint sind sie, zusammengefügt nur erst wie ein Bündel von Speeren,
Nun kämpfend vereint – um aufs Neue vielleicht sich gegen einander zu kehren?

Weh dir, o deutsches Vaterland, wenn deinen sämmtlichen Söhnen

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Das Heiligste nicht vor Allem du selbst! wenn sie der Treu’ sich entwöhnen,

Wenn ihnen nicht ewig als Leitstern gilt in unvergänglicher Reinheit
Des Vaterlands Ehre, des Vaterlands Glück, des Vaterlands Größe und Einheit!

O weckt ihn nicht auf, den alten Fluch, den Fluch der germanischen Erde,
Daß nicht zu grollender Nachbarn Spott, zum Tummelplatze sie werde

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Gesättigter Rache, schnöden Verraths – daß den Herd des heimischen Lebens

Nicht schände die Schmach barbarischen Thuns und zerfahrenen wüsten Bestrebens!

Die Bäume rauschen im Niederwald – sie flüstern aus jüngsten Tagen
Eine schaurige Mähr, voll warnenden Sinns – sie rauschen und flüstern und sagen:
„Nicht fremde Hand wird stürzen das Mal, das stolz hier schaut in die Lande:

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Doch wehe, wenn einstens des Ruhms Denkmal sich zum Denkmal wandelt der Schande!“


Der Lorbeer, geflochten der deutschen That – er deckt grauschimmernde Haare!
Den Helden, den heute wir feiern, wir sehn ihn gedrückt von der Bürde der Jahre!
Doch – ob auch erschöpft von den Mühen des Kampfs und dem Schweiße gewaltiger Thaten,
Darf nun er auf seinen Lorbeern ruh’n, und können wir seiner entrathen?

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Nein, heg’ ihn, o Deutschland, so lang’ ihn noch die himmlischen Mächte dir gönnen!

Nie mag im gewaltigen Drange der Zeit erlahmen sein Wollen und Können,
Und niemals komme der Tag, wo nicht, wie bisher, zu gedeihlichem Werke
Aus des Volkes Vertrau’n er schöpfe den Muth, aus dem Heimathboden die Stärke.

Wie Columbus erschloß er durch Fahr und Noth die Bahn zu verheißenen Küsten,

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Wie Moses fand er des Auswegs Spur für sein irrendes Volk in den Wüsten;

Wie Jenem, ist es vielleicht ihm versagt, dort, wo er sä’te, zu ernten,
Wie Dieser, blickt er sterbend vielleicht nach Gefilden, weit noch entfernten –

Doch – ist es noch nicht errungen ganz, wofür er kämpfte und lebte,
Und schwebt es noch in den Lüften halb, das Deutschland, das er erstrebte,

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So gönnet ihm doch, nicht wolkenverhüllt, nicht umdräut von finsterem Grauen,

Nein, winkend in rosigem Zukunftslicht es mit brechendem Auge zu schauen.
  Robert Hamerling.