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An unsere Leser

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Rudolf Lavant
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Titel: An unsere Leser!
Untertitel:
aus: Berliner Volksblatt: Organ für die Interessen der Arbeiter / Illustrirte Sonntags-Beilage
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: J. H. W. Dietz in Stuttgart
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: Scan
Kurzbeschreibung:
Berliner Volksblatt, 6.12.1884 Jg. 1, Nr. 1, Seite 1
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[1]

An unsere Leser!



Ein halber Mann, dess‘ Tage schwinden
In selbstischer Befangenheit . . .
Du sollst im Busen mitempfinden
Den hohen Wellenschlag der Zeit!

5
Ein schlechter Mann, dem da gelassen

Durch das Geäder schleicht das Blut . . .
Du sollst voll tiefen Ingrimms hassen
Und lieben mit der Seele Glut!

Du sollst zur Linken oder Rechten

10
Dich schlagen ― das ist Pflichtgebot!

Du sollst mit blanker Waffe fechten,
Getreuen Muths, in Glück und Noth!
Der Fahne treu, die du erkoren,
Sollst du, gebeugt von keiner Pein,

15
Ein Kind der Zeit, die dich geboren,

In jedem Athemzuge sein!

Das drängt und treibt! Ein flüchtig Stocken
Hemmt selten nur den raschen Gang.
Wirf dich mit Jauchzen und Frohlocken

20
Hinein in all den Sturm und Drang!

Du lebst in einer Zeit der Wunder:
Was heute gleißt in goldnem Schein,
Fliegt morgen zu verjährtem Plunder ─
Versuch׳ es, ihrer werth zu sein!

25
Sei ganz, was deine Pflichten fordern,

Was diese große Zeit begehrt!
Laß hell die Gluth, die heil’ge, lodern,
Und lächle, wenn sie dich verzehrt!
Und wenn im Kampf die Jahre schwanden,

30
Sei stolz auf deines Hauptes Schnee;

Du hast in Reih und Glied gestanden
Mit den Soldaten der Idee! ─

Doch sieh, es kommen stille Stunden,
In denen du aufs Schwert dich lehnst

35
Und dich nach Balsam für die Wunden,

Nach Ruhe unaussprechlich sehnst;
In denen sich mit sanftem Mahnen
In deiner Brust ein Flüstern regt,
In denen dich ein Friedensahnen

40
Im tiefsten Herzensgrund bewegt.


Laß diese sanften Stimmen tönen!
Wie weit du auch von ihm getrennt ─
Es giebt ein heitres Reich des Schönen,
Das Wandel nicht und Schranke kennt;

45
In dem mit gütiger Geberde

Von ihrem Thron die Göttin steigt,
Das dem enttäuschten Sohn der Erde
Die lächelnde Vollendung zeigt.

Und eine stille Wunderblüthe

50
Ließ jede Zeit in ihm erstehn ─

Sie duftet lieblich im Gemüthe,
So lang der Erde Vesten stehn.
Ein Klingen steigt empor und Rauschen
Aus diesen Welten des Gefühls,

55
Doch mußt du wohl hinunterlauschen,

Entrückt dem Lärmen des Gewühls.

Du sollst sie stets vor Augen haben,
Des Schönen leichtverwischte Spur ─
Du sollst an seinem Reiz dich laben

60
Im Reich der Kunst, in der Natur.

Es ist ein Trost, ein milder Segen,
Und wer sie jemals voll empfand,
Der fühlt‘ es auf die Stirn sich legen
Wie eine weiche Frauenhand.

65
Nur einen Tag von sieben träume ―

Doch diesen einen halte werth!
Ein Tempel sind die engsten Räume
So oft er lächelnd wiederkehrt.
Hat er vom Staub des Kampfgefildes

70
Die müde Seele rein gemacht ―

Dann frisch zurück in rauhes, wildes,
Erbittertes Gefühl der Schlacht!
                                                            Rudolf Lavant

Anmerkungen (Wikisource)

[Bearbeiten]
  • Auszüge aus dem Gedicht befinden sich in: „Die Philosophie Spinoza’s“. Erstmals gründlich aufgehellt und populär dargestellt von J. Stern. Stuttgart J.H.W. Dietz Verlag, 1890, Seite 176.
  • Das Gedicht erschien 1917 mit nur vier Strophen unter dem Titel „Aufforderung“ in der Zeitschrift „Der Wahre Jacob“.