Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I/Der Schneider im Himmel

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Die kluge Else Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I von Johannes Bolte, Jiří Polívka
35. Der Schneider im Himmel
Tischchen deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack
Für verschiedene Auflagen des Märchens der Brüder Grimm siehe Der Schneider im Himmel.

[342]

35. Der Schneider im Himmel. 1856 S. 64.

1819 nr. 35, eingesetzt für 1812 nr. 35 ‘Der Sperling und seine vier Kinder’ (s. unten nr. 157), nachdem in der Göttinger Zeitschrift Wünschelruthe 1818, 50 das ‘Märchen vom Schneider, der in den Himmel kam’, gedruckt worden war. – Nach den Erzählungen in Freys Gartengesellschaft 1556 nr. 109 ‘Von einem hinkenden Schneider, wie der in den Himmel kam’, in Kirchhofs Wendunmut 1, nr. 230 (1563) ‘Von einem hinkenden Schneider’ und der in Nebendingen etwas abweichenden Zusatzerzählung zu Wickrams Rollwagenbüchlein (um 1558. Wickram, Werke 3, 138 nr. 110) ‘Wie ein Schneider in Himmel kumpt und unsers Herrgotts Fußschemel nach einer alten Frauen herabwirft’.[1] Diese aber gehen alle drei [343] zurück auf Bebels lateinische ‘Fabula cuiusdam sarcinatoris’ v. J. 1508 (Facetiae 1, nr. 19. Wesselski 1907 1, 12). Aus Bebel schöpfen auch Gast (Convivales sermones 1543 Bl. R 8a = 1554 1, 258) und Viviennus (De officio probae matris familias 1563 lib. 3, c. 6 = Weiberspiegel, deutsch von J. Barth 1565 Bl. b 5a), während Hulsbusch (Sylva sermonum iucundissimorum 1568 p. 96) das Rollwagenbüchlein überträgt. Wend-Vnmuth (um 1690) S. 156.

Auch mit andern Motiven verwandter Art ward das Märchen verbunden. Hans Sachs, der es 1550 in einem Meisterliede ‘Der Schneider im Himmel’ (Schwänke 5, 121 nr. 682) schlicht wiedergegeben hatte, stellte ihm 1563 in seinem Spruchgedicht ‘Der Schneider mit dem Panier’ (Folio 5, 3, 380b = Schwänke 2, 472 nr. 334) den ebenfalls schon früher (Schwänke 5, 74 nr. 648) von ihm gereimten Schwank von der Lappenfahne[2] vorauf, die der Teufel dem todkranken Schneider zur Mahnung an seine Unterschlagungen entgegenhält. Frey weist mit seinem Schlußsatze, daß der aus dem Himmel gewiesene Schneider nach Beiteinweil zu den Landsknechten gewandert sei, auf Bebels ‘Fabula de lanceariis’ (Facetiae 1, nr. 84) hin, die er selber in Cap. 44 verdeutscht hatte. Und dieselben beiden Stücke Bebels verknüpfte 1518 der Pilsener Arzt Johann Franta in seiner čechischen Schelmenzunft ‘Frantova práva’ (ed. Zíbrt 1904 S. 7; vgl. Spina, Beiträge zu den deutschslawischen Literaturbeziehungen 1909 S. 131) zu einer Geschichte [344] vom Schmiede Paška im Himmel und in der Hölle, die zugleich Züge aus dem Spielhansel (nr. 82) verwertet. Paška, der nur einmal im Leben einem armen Gesellen eine alte Schmiedschürze als Almosen gegeben hat, klopft nach seinem Tode mit dem Hammer an das Himmelstor, wird aber vom hl. Matthäus fortgewiesen. Wie er zornig lärmt, öffnet auf Gottes Befehl endlich Petrus die Tür; durch die Spalte erblickt der Schmied sein Almosen, die Schürze, und überlistet den Himmelspförtner, indem er ihm Wein anbietet und einen Schluck in die Augen spritzt; schnell drängt er sich hinein, setzt sich auf das Schurzfell als auf sein Eigentum und beschämt den scheltenden Petrus durch den Hinweis auf seinen einst an Christus begangenen Verrat. Wie er dann nach einer diebischen Wäscherin Gottes Fußschemel schleudert, wird er zwar aus dem Himmel gestoßen, aber wieder eingelassen, als er in der Hölle die Teufel zur Freilassung der armen gepeinigten Seelen zu nötigen weiß. Noch ausführlicher erzählt die um 1570 in Westfalen (?) gereimte ‘Historia von Sancto’, die Bolte in der Zs. f. dt. Philologie 32, 349 aus einer Berliner Hs. abgedruckt hat. Auch hier disputiert der Held mit den Heiligen im Paradiese, denen er wie Hans Pfriem (nr. 178) ihre Sünden vorhält, und beruft sich auf die früher den Armen in Christi Namen gespendeten Kleider und verscherzt sich dann durch den vorwitzigen Schemelwurf nach einer Brot stehlenden Frau den gewährten Aufenthalt; doch wandert er nicht nach Beiteinweil, wo er vorher eingekehrt war, oder nach der Hölle, sondern der barmherzige Gott stellt dem Verzweifelnden drei Wünsche frei; durch diese bannt Sanctus gleich dem Spielhansel (nr. 82) den Tod auf den Pflaumenbaum und erlangt endlich Aufnahme ins Himmelreich.

Daß es aber auch eine Erzählung gab, in der Petrus den gleichen vorwitzigen Eifer zeigte wie der Schneider, geht aus einer Äußerung Luthers in den von Mathesius aufgezeichneten Tischreden hervor (Analecta Lutherana et Melanthoniana hsg. von Loesche 1892 S. 204 nr. 317): ‘Aber ich lehre und meister unsern Herrgott, wie S. Petrus getan hat; wenn das Regiment in mein Hand kommt, so mach ich, daß Schemel und Stühl umfallen’. Noch deutlicher ist Fischarts Anspielung im Flöhhatz 1577 v. 344:

Gleich wie man von Sant Peter saget,
Der, als er Herrgott war ein Tag
Und Garn sah stehlen eine Magd,

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Wurf er ihr gleich ein Stuhl zum Schopf,
Erwies also sein Peterskopf.[3]
Hätts solcher Gstalt er lang getrieben,
Es wär kein Stuhl im Himmel blieben. –

In einem serbokroatischen Märchen bei Novaković im Srbski ljetopis 1862, Bd. 105 S. 151 = Krauß 2, 288 nr. 128 wird Elias, der an Gottes Statt vom Himmel hinabblickt und auf einen Dieb sofort Donner und Blitz schleudert, ebenso von Gott gescholten wie der Schneider.[4] In einem andern (Bos. Vila 3, 206) hält Gott die blitzschleudernde Hand des Elias noch zurück. Dies scheint aus dem apokryphen griechischen Bericht vom Tode Abrahams herzustammen, der auch ins südslawische, russische und rumänische Schrifttum eindrang (Archiv f. slav. Phil. 18, 116): als Abraham vom Himmel auf die Erde hinabschaute und die Menschen sündigen, buhlen, rauben und morden sah, sandte er harte Strafen auf sie; da fürchtete Gott, Abraham möchte das ganze Menschengeschlecht ausrotten, und ließ ihn durch Michael auf die Erde zurückbringen. J. Grimm, Mythologie ³ S. 124f. erinnert dagegen an Odins Thronsitz Hliðskialf, von dem er alles sah, was auf Erden vorging, und auf den sich zuweilen andere setzten, wie z. B. Freyr von da aus die schöne Gerðr erblickte. Er verweist auch auf ein Gedicht Bruder Werners (MSH 3, 15a nr. 17):

der nû den himel hât erkorn,
der geiselet uns bî unser habe.
ich vürhte sêre, unt wirt im zorn,
den slegel wirft er uns her abe.

W. Grimm, Die Himmelsstürmer (Zs. f. dt. Mythol. 2, 2 = Kl. Schriften 4, 342) sucht zu zeigen, daß der Schneider sich eigentlich in feindlicher Gesinnung in den Himmel eindrängt.

Die Fortdauer des Märchens bezeugt J. Möser (Vermischte Schriften 1798 1, 332. 2, 235 = Sämtliche Werke 1843 5, 38. 10, 238), bei dem der Schneider durch die Öffnung vor dem Thron guckt und einen Kameraden eine Elle Tuchs beiseit legen sieht; er reißt [346] ein Bein vom Thron und wirfts ihm auf den Kopf. Gott spricht: ‘Wanne, wanne, wenn ich so hastig wäre wie du, wie würde es dir auf Erden ergangen sein!’ Langbein, Gedichte 2, 29 (1820) ‘Theophan’. v. Ditfurth, Alte Schwänk und Märlein 1877 S. 23 ‘Der Schneider im Himmel’. Merkens, Was sich das Volk erzählt 2, 27 nr. 30. Aus Schwaben bei Meier nr. 35 ‘Der Schneider im Himmel’. Aus dem Böhmerwald Zs. f. Volkskunde 17, 103 nr. 7 ‘Der Schneider im Himmel’. Aus Rügen bei Haas, Rügensche Sagen 1903 nr. 213 ‘Der Schneider im Himmel’. Vom Niederrhein bei Wolf, DMS. nr. 16 ‘Jan im Himmel’ (eingerahmt von einem Lügenmärchen). Im Schweizer Märchen bei Rochholz, Schweizersagen 2, 305 = Sutermeister nr. 15 ‘Ein spanischer Chasseur’ läßt sich der von Petrus zurückgewiesene Schneider als Kavallerist von einem alten Weiblein in den Himmel tragen. – Französisch bei Orain p. 83 ‘Le tabouret du paradis’. – Ungarisch bei Sklarek 1, 207 nr. 24 ‘Der Zigeuner im Himmel und in der Hölle’.

Kleinrussisch aus Galizien im Etnograf. Zbirnyk 12, 83 nr. 100: Gott setzt einen braven Schmied für einen Tag auf seinen Thron, aber dieser vermag nicht ruhig zu bleiben, sondern schreit laut auf und fällt herab. In einer andern Fassung ebd. 13, 40 nr. 240 wirft der neben Gott auf dem Throne sitzende Schmied ein sündiges Weib zu Tode. Ebd. 13, 52 nr. 245 darf ein alter Soldat, der mit Paulus, Petrus und dem Herrgott Karten spielt und gewinnt, auf Gottes Thron steigen, kann es aber dort nicht aushalten. In einer weißrussischen Erzählung bei Romanov 4, 184 nr. 44 vermag ein gerechter Greis, dem Gott seine Macht überläßt, seinen Zorn nicht zu bezwingen und muß auf die Erde zurückkehren.


  1. Vgl. Hamann, Die literarischen Vorlagen 1906 S. 98.
  2. Vgl. dazu Abr. a Sancta Clara, Sämtliche Werke 13, 111. 11, 519. A. Keller, Die Handwerker im Volkshumor 1912 S. 121. 177. Philander, Zeitverkürzer 1702 S. 200 nr. 318. Der junge Antihypochondriakus 1773 S. 142. Merkens, Was sich das Volk erzählt 2, 134 nr. 164 (aus Köln). Wossidlo, Reuter S. 139. Jahn, Volkssagen nr. 693. Dunbar, Poems ed. Baildon 1907 p. 67, auch bei Clouston, Popular tales 2, 81. John Harrington, ‘Of a precise tailor’ ebd. 2, 80. Wesselski, Die Schwänke des Pfarrers Arlotto 1, 151 nr. 65 ‘Wie der Pfarrer einem diebischen Schneider einen Traum deutet’, dazu 1, 221. Nieri, Racconti popolari lucchesi 1891 p. 157 nr. 43 ‘Patron Bandiera’. De la Monnoye, Oeuvres choisies 2, 186 (Fuit Tolosae vestiarius sutor). Spectres (c. 1860) p. 13 ‘Le drapeau de St. Michel’. Deulin, Cambrinus 1874 p. 31 ‘Le drapeau des tailleurs’. Moisant de Brieux, Coutumes anciennes 2, 167 (1874). Strauß, Die Bulgaren 1898 S. 60. Cardonne, Mélanges de la litt. orientale 2, 82. Loiseleur-Deslongchamps, Les 1001 jours 1836 p. 663 ‘Rêve extraordinaire d’un tailleur’ (aus dem Latifé-nameh des Türken Lâmi’ î, †1531). Decourdemanche, Nasr-eddin 1878 nr. 123 = Wesselski, Nasreddin 1, 103 nr. 190. Chauvin 3, 38.
  3. D. h. seine wunderliche, hitzige Art. Vgl. R. Köhler, Aufsätze über Märchen 1894 S. 68 und Kleinere Schriften 2, 105; dazu Greff, Osterspiel 1542, Bühnenanweisung: ‘Petrus sonderlich sal seinen Peterskopff ymmer und besser sehen lassen, wie ers nicht gleube, das Christus erstanden’; Druida, Spiegel gottseliger Eltern 1572 Bl. C 6a: ‘Du magst mir wol ein Peterskopff sein.’
  4. Vgl. dazu Schott S. 375 ‘Der Zorn des Elias’. Zs. f. dt. Mythologie 1, 178. Anthropophyteia 1, 413 nr. 314.
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