Auf Leipzigs Schreber-Plätzen

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Autor: E. Stötzner
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Titel: Auf Leipzigs Schreber-Plätzen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 368–373
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[368]

Auf Leipzigs Schreber-Plätzen.

Endlich, nach langem Zögern, ist der Frühling zu uns gekommen. In den großen Städten freilich merkt man nur wenig davon, und der weite ermüdende Weg durch die langen Straßen mit ihrem harten Pflaster hält gar Viele ab, ihn in seiner vollen Herrlichkeit in Wald und Flur zu bewundern. Und gerade die Alten und Kranken, denen die reine Frühlingsluft die beste Arznei wäre, und dann die Kinder, die jungen Menschenpflanzen, denen frische Luft und warmer Sonnenschein zum fröhlichen Gedeihen so nothwendig sind – gerade sie erhalten oft am wenigsten davon.

Was müssen doch die Kinder großer Städte entbehren!

Auf die Straßen und staubigen Plätze angewiesen, haben viele von ihnen kaum eine Ahnung von Wald und Flur. Sie kennen die bunte Wiese, das wogende Saatfeld nur aus dem Bilderbuche, und das Trillern der Lerche, den vielstimmigen Vogelgesang haben sie nie gehört. Ihr Auge sieht nur das Nahe, ihr Ohr ist betäubt von dem Getöse der Großstadt, in deren inneren Straßen sogar das Rollen des Donners von dem Rollen der Wagen übertönt wird. Fast alle Naturerscheinungen – außer Regen und Schnee – gehen an diesen Kindern, deren ungeübte Sinne sie nicht zu beobachten vermögen, spurlos vorüber.

Ist das nicht zu viel gesagt?

In Berlin hatten von 100 neu in die Schule eintretenden Kindern nur 17 Schilf gesehen, 18 den Gesang der Lerche, 31 den Ruf des Kukuks gehört, 24 eine Erntethätigkeit, 26 das Pflügen, 26 eine Eiche, 31 den Aufgang der Sonne, 32 einen Berg, 34 ein Dorf, 36 einen Wald, 39 eine Schafheerde, 41 ein Aehrenfeld, 46 eine Wiese, 46 den Sonnenuntergang, 53 ein Kartoffelfeld, 59 Wolken, 60 einen Schmetterling, 63 das Abendroth, 78 einen Regenbogen beobachtet. In anderen weniger großen Städten ist es natürlich besser; aber ähnliche Erfahrungen hat man auch dort gemacht. Wohl sucht nun die Schule durch ihren Anschauungsunterricht Klarheit in die kleinen Köpfe zu bringen, soll namentlich auch den Sinn für Naturbeobachtung anregen; aber die paar Schulspaziergänge im Jahre können dies nicht erzwingen, und Schulgärten giebt es zur Zeit nur wenige. Je älter aber das Kind wird, desto mehr wird es von der Schule in Anspruch genommen, und die leidigen Privatstunden verbittern ihm vollends die wenigen freien Stunden. „Umgang mit der Natur und auf Grund desselben dauernde Freundschaft mit der Natur, das ist das Glück, welches keinem Kinde vorenthalten werden darf.“ Wie weit bleibt man doch hinter dieser Forderung des Jenenser Pädagogen Stoy zurück!

Aber es kommt noch schlimmer!

Dadurch, daß man die Kinder fast den ganzen Tag an das Schul- und Arbeitszimmer fesselte und so die körperliche Ausbildung in schlimmster Weise vernachlässigte – die wenigen, oft nicht einmal in richtiger Weise ertheilten Turnstunden sind kein Gegengewicht gegen die übermäßige geistige Anstrengung – dadurch erzog man jene brillentragende, schwächliche, bleichsüchtige Jugend, die einem heutzutage auf Schritt und Tritt begegnet.

Nun sollen die Lehrer an Allem schuld sein!

Sind es denn aber nicht die Eltern selbst, die nicht müde werden, von der Schule mehr zu verlangen, die Ziele derselben immer höher zu schrauben? Giebt es nicht viele Väter, denen die Ferien als ein Gräuel, jeder Schulspaziergang als eine Bummelei, jeder wegen Hitze freigegebene Nachmittag als unnöthige Zeitverschwendung erscheinen? Da erklärt hier ein Vater: „Wenn’s meinem Sohne auch sauer wird, den Berechtigungsschein zum Freiwilligendienst muß er mir bringen, und sollte er halbe Nächte durch über den Büchern liegen müssen;“ und hier spricht eine Mutter: „Clavierspielen und Zeichnen muß meine Tochter lernen, das Bischen Sitzen wird ihr nichts schaden.“ In unserer schnelllebigen Zeit will man baldige Erfolge sehen, nach einer naturgemäßen Entwickelung fragt man nicht. Ein spielendes Kind ist solchen Eltern ein Aergerniß, sie jagen es zurück hinter die Bücher und sehen es nicht, daß ihr Kind dabei schief, halb blind und elend wird. Wahrhaftig, daß es unter solchen Umständen noch immer gesunde Kinder giebt, ist ein Beweis für die Unverwüstlichkeit und Zähigkeit der menschlichen Natur. Aber hohe Zeit wurde es, daß energische Männer, wie der Düsseldorfer Amtsrichter Hartwich, Einsprache erhoben, daß die Spitzen der maßgebenden Behörden selbst, wie der sächsische Cultusminister von Gerber und der preußische von Goßler, ihr gewichtiges Veto aussprachen. Nun gingen auch Denen die Augen auf, die vorher nicht sehen wollten, und man beklagte allgemein die mit geistiger Arbeit überbürdete Jugend, die um ihre schönsten Lebensjahre betrogen würde. Man wies auf England hin, wo fast überall großartige Spielplätze angelegt sind und die körperliche Ausbildung der Jugend in vorzüglicher Weise gepflegt wird. Aber auch in unserem Deutschland ist schon seit Jahren hier und da in dieser Beziehung ein erfreulicher Anfang gemacht worden. In turnerischen Kreisen sind die von Gutsmuths, Jahn und anderen Meistern gepflegten Turnspiele zeitweilig wohl zurückgedrängt, aber nie ganz vergessen worden, und einsichtige Aerzte und Pädagogen haben immer das alte Wort: „In einem gesunden Körper wohnt eine gesunde Seele“ zur Geltung zu bringen gesucht.

Als ein Ausgangspunkt solcher gesunder Bestrebungen muß Leipzig bezeichnet werden, wo Männer wie Roßmäßler, Bock, Schreber, Hauschild und Andere mit Erfolg für eine naturgemäße Jugenderziehung wirkten. Die ersprießliche Thätigkeit der erstgenannten [370] Männer ist wiederholt von der „Gartenlaube“ gewürdigt worden, hier möge nur der Verdienste der Letzteren um unsere Kinder gedacht werden.

[369] 

Auf dem Schreber-Platze der Südvorstadt Leipzigs.
Originalzeichnung von G. Sundblad.

[370] Daniel Gottlieb Moritz Schreber ward am 15. October 1808 in Leipzig geboren. Nachdem er die Thomasschule besucht, bezog er, achtzehn Jahre alt, die Universität seiner Vaterstadt, um daselbst Medicin zu studiren. Bei seinem Eintritte in die Universität war Schreber schwächlich organisirt und von dürftiger Gestalt. Aber seine Ausdauer in körperlichen Uebungen machte aus ihm einen kräftigen Mann, einen ausgezeichneten Turner, einen tüchtigen Schwimmer und Reiter, kurz, einen Meister in jeder ritterlichen gymnastischen Uebung.

Diese Erfahrung an sich selbst ward der fruchtbringende Ausgangspunkt alles dessen, was er in Wort, Schrift und That auf den Gebieten des Turnens und der Heilgymnastik, der Jugenderziehung gewirkt hat. 1833, nach Beendigung seiner Studien und Erlangung der Doctorwürde, begleitete Schreber einen russischen Edelmann als Arzt auf dessen Reisen durch Deutschland und Rußland, besuchte sodann behufs weiterer wissenschaftlicher Ausbildung die Universitäten Wien, Prag und Berlin, ließ sich dann 1836 als praktischer Arzt in Leipzig nieder und habilitirte sich zugleich als Privatdocent an der Universität. Die bisher geltenden Ansichten auf dem Gebiete der Heilkunde entsprachen nicht immer seinem Denken und Forschen, er ging eigene Wege, wie viele seiner Schriften beweisen. So unter anderen „Das Buch der Gesundheit“ (1839), „Die Kaltwasser-Methode“ (1843) und anderes. Er wollte eine Kinderheilanstalt errichten, seine Bemühungen waren aber erfolglos, sowie die 1843 an Regierung und Stände eingereichte Schrift: „Das Turnen vom ärztlichen Standpunkte, zugleich als eine Staatsangelegenheit dargestellt“.

Schreber ließ sich dadurch nicht irre machen, im Jahre 1845 gründete er im Verein mit den Professoren Bock und Biedermann den noch heute blühenden Turnverein, dem er lange Jahre hindurch als Turnrath und Vorsitzender angehörte. Das Jahr vorher übernahm er von Professor Carus eine orthopädische Heilanstalt, erweiterte und vergrößerte dieselbe und führte auf diesem Gebiete eine Anzahl wichtiger, segensreicher Reformen ein. Eine Reihe vortrefflicher Schriften über Turnen und Heilgymnastik, von denen manche vielfache Auflagen erlebten, gingen aus diesen Studien und Beobachtungen hervor. Die orthopädische Heilanstalt besteht noch heute unter Leitung von Dr. Schildbach, dem Freunde und ehemaligen Mitarbeiter Schreber’s, und hat sich immer ihren guten alten Ruf, trotz vieler Concurrenz, zu bewahren gewußt.

Im Jahre 1858 endlich erschien Schreber’s Hauptwerk: „Kallipädie oder die Erziehung zur Schönheit des Körpers und Geistes durch harmonische Veredelung der ganzen Menschennatur.“ Dieses in jeder Hinsicht ausgezeichnete Werk ist seltsamer Weise ziemlich unbekannt geblieben. Es mag dies seinen Grund in dem fremd klingenden Titel haben. Vor Kurzem ist es von dem Leipziger Professor Dr. Hennig in zweiter Auflage herausgegeben worden.[1] Es behandelt die gesammte körperliche und geistige Ausbildung, „die harmonische Durchbildung des Menschen nach Geist und Charakter und physischer Vollkraft“; da ruft Schreber aus: „Körperliche Gesundheit vor Allem, denn sie bedingt die Gesundheit der Seele: den Frohsinn. Dieser aber öffnet die Seele allen guten Eindrücken und Aeußerungen, selbst den größten Kraftäußerungen edler Willenskraft. Er ist die Lebenssonne, unter welcher allein alle edlen Keime der kindlich-geistigen Grundkräfte emporkommen und gedeihen, unter welcher sie leichter der erzieherischen Entwickelung zugängig sind, während umgekehrt körperlicher Druck die Entwickelung der Keime der geistigen Schatten – und Giftgebilde fördert. Dem kindlichen Alter fehlt noch die Kraft, sich trotz körperlicher Noth über diese hinaus zur Höhe des Frohsinns zu erheben, wie es dem gestählten Charakter eines gereiften Menschen zuweilen gelingt. Alle Fehler der körperlichen Erziehung erschweren, ja untergraben daher zugleich die geistige Erziehung.“

Gar scharf weist er die Eltern auf ihre Pflichten hin.

„Die Frage: Wo und von wem wird im Allgemeinen die Erziehung am besten vollführt werden? könnte fast überflüssig erscheinen, da die Antwort: von wem anders als von den Eltern, als eine so natürliche, selbstverständliche der Frage auf dem Fuße folgt. Und doch scheint in unserer Zeit gerade der umgekehrte Brauch immer mehr und mehr einzureißen. In gefährlicher, die eigene Schwäche zu bemänteln suchender Selbsttäuschung schieben die Eltern fast die ganze Last, Verpflichtung, Verantwortlichkeit der Erziehung erst den Lehrern zu, die doch hauptsächlich für Unterricht zu sorgen haben, dagegen, besonders in den Schulen, die Möglichkeit der Erziehung des Körpers, des Charakters, des Gemüths in einem auch nur nothdürftig ausreichenden Grade gar nicht mehr in den Händen haben, obschon auch ihre unterstützende Mitwirkung zur Erziehung unentbehrlich ist. Oder man entfernt die Kinder möglichst bald aus dem elterlichen Hause, um sie Pensionaten, Lehr- und Erziehungsanstalten vollständig zu übergeben, in der Meinung, so das Seinige gethan zu haben, ungünstigen Falles wenigstens – seine Hände in Unschuld waschen zu können. Sagen wir es kurz: die elterliche Erziehung droht aus der Mode zu kommen, auch in unserem deutschen Vaterlande, welches doch den Ruhm der Innigkeit des Familienlebens sich noch am meisten gewahrt hat. Wir meinen hier natürlich nicht diejenigen Fälle, wo durch unvermeidliche Nothwendigkeit die Erziehung den Händen der Eltern entwunden wird; nein, es ist hier die Rede von den leider in zunehmender Häufigkeit auftretenden Fällen, wo die Scheingründe, hinter denen sich die Schwäche, Bequemlichkeit, Vergnügungssucht, blasirte Modelaune und wohl noch manches andere Unedle der Eltern verbirgt, die Kinder um den Segen der elterlichen Erziehung bringen.“

Dann richtet Schreber ein ernstes Wort an die Väter, denen er die Hauptschuld des Verfalles der heutigen Familienerziehung vorwirft.

„Sind es nicht Schwächen, wenn wir Väter Dieses oder Jenes von häuslichen Angelegenheiten, was gemeinschaftlich getragen oder durchgeführt werden sollte, auf den Schultern der Frau oder anderer Glieder des Hauses allein liegen lassen; oder wenn wir im Hause stets und auch in Nebendingen auf Kosten höherer Rücksichten unser Ich, unsere persönliche Neigung, Bequemlichkeit u. dergl. obenan gestellt wissen wollen; oder wenn wir aus Zerstreuungssucht, aus vermeintlich socialen Rücksichten ernstere Pflichten gegen die Familie hintansetzen, die Früchte der Erziehung nur genießen, nicht aber auch entwickeln und ausbilden helfen wollen? Wer von uns Vätern könnte sich von allen diesen Schwächen vollkommen freisprechen? Blicke jeder auf sein Leben zurück, und – die Hand auf’s Herz – wir müssen alle mehr oder weniger ein derartiges ‚Schuldig‘ über uns aussprechen.“

Das sind Worte, welche die Zustände unseres heutigen Familienlebens, unserer heutigen Kindererziehung bis in’s Innerste treffen. Als Arzt und als Pädagog entwirft nun Schreber in eingehender Weise in diesem Werke ein allgemeines, dabei aber immer auf alle Fälle anwendbares Bild des Erziehungsganges vom Säuglingsalter an bis zum Uebergange zur Selbstständigkeit, also bis etwa zum zwanzigsten Lebensjahre, dabei die körperliche Seite und die geistige Seite gleichmäßig behandelnd. Der Herausgeber der neuen Auflage erklärt in Beziehung auf diese Schrift:

„Das Streben Schreber’s, ein gesundes, unsere Vorfahren abspiegelndes Geschlecht heranzubilden, sein geistiges Wohl und sein Gemüthsleben gleichmäßig wie das körperliche zu bedenken, wird von wenigen Erziehungsschriften erreicht, von keiner übertroffen.“

Allen Eltern, Erziehern und Lehrern muß dies Werk als ein Hausschatz köstlichster Art empfohlen werden. In dem unermüdeten Streben, ein gesundes Geschlecht heranzuziehen, wandte sich Schreber auch an die „Gartenlaube“. Im Jahre 1860 (S. 414) erschien darin sein berühmter Aufsatz: „Die Jugendspiele in ihrer gesundheitlichen und pädagogischen Bedeutung“, in welchem der wackere Mann goldene Worte zu den Herzen des deutschen Volkes sprach, aber sie verhallten zunächst erfolglos. Dr. Schreber hat es nicht erlebt, daß sich seine Ideen verwirklichten. Am 10. November 1861 starb er im kräftigsten Mannesalter. Aber die Saatkörner, die er so reichlich ausgestreut, sollten gute Frucht bringen. Die Gegenwart wird ihm gerecht, denn alle seine Forderungen fingen an sich zu verwirklichen.[2]

[371] Es konnte nicht fehlen, daß namentlich unter den Leipziger Lehrern das Wirken Dr. Schreber’s von Erfolg war. In den Lehrern erkannte er seine besten Mitarbeiter und dadurch, daß er verlangte, die Erziehung müsse auf genauer Kenntniß der Physiologie und der Psychologie sich aufbauen, suchte er der Erziehungskunst eine feste, wissenschaftliche Grundlage zu geben. Lehrer waren es auch, die in Leipzig den ersten Schreber-Platz schufen. Der erste, welcher die Hand an den Pflug legte, war der als tüchtiger Pädagog weithin bekannte Leipziger Schuldirector Dr. Ernst Innocenz Hauschild.

Auch er verdient es, daß wir hier seine Vergangenheit kurz berühren. Er wurde am 1. November 1808 in Dresden geboren. Dort erhielt er auch seine erste Schulbildung. Später besuchte er die Fürstenschule in Meißen und bezog 1826 die Universität Leipzig, um hier Philosophie, Philologie und Theologie zu studiren. Dann ging er in gleicher Absicht nach München, wo ihn namentlich neuere philologische Studien fesselten. Von 1830 ab ist er Lehrer und Leiter der verschiedensten Anstalten gewesen. Sein pädagogisches Wanderleben hat ihm viele Enttäuschungen, aber auch reiche Erfahrungen gebracht. Er gab verschiedene Lehrbücher in der französischen und englischen Sprache heraus, die vielfache Auflagen erlebten. In dem von ihm gegründeten „Modernen Gesammtgymnasium“ in Leipzig suchte er praktisch nachzuweisen, daß der Schüler vom Deutschen zunächst in die englische und französische und zuletzt erst in die lateinische und griechische Sprache einzuführen sei. Später, 1854, errichtete er eine höhere Töchterschule, die noch heute unter der Leitung eines seiner Schwiegersöhne, des Dr. Willem Smitt, blüht. Mehr und mehr fühlte er sich zur Volksschule hingezogen. Er ward 1862 Director der vierten Bürgerschule, in welcher Stellung er leider nur vier Jahre wirken sollte; bereits am 5. August 1866 starb er, zu früh für die Seinen, zu früh für die Schule.

Hauschild war ein echter Gesinnungsgenosse Schreber’s. Auch er suchte dem alten Satze: „Eine gesunde Seele in einem gesunden Körper“ volle Geltung zu verschaffen. Seine Schule wurde z. B. die erste in Leipzig, welche einen Turnsaal hatte, dann suchte er zwischen Haus und Schule eine innigere Verbindung herzustellen, um seine Ideale verwirklichen zu können. Am 30. April 1864 erließ er an die Bewohner der Westvorstadt, an seine „liebe Schulgemeinde“, einen Aufruf, in dem er zur Bildung eines „Eltern- und Lehrervereins“ aufforderte. Als eine Hauptaufgabe dieses Vereins stellte er die Beschaffung von Spielplätzen für die Jugend hin.

„Wie lange wird es dauern“ – schreibt er – „und unsere Kinder sind, wie die bedauernswerthen Kinder der inneren Stadt, mit ihren Spielen auf das unerquickliche und gefahrbringende Straßenpflaster, auf kleine Höfe, auf winzige Gärten angewiesen. Wollen wir nicht jetzt, so lange der Grund und Boden in unserer Vorstadt noch verhältnißmäßig wohlfeil zu erlangen ist, einen Spielplatz auf alle Zeiten für die Kinder auf der Westseite von Leipzig, für die Kinder der vierten Bürgerschule erwerben, einen großen Spielplatz, auf welchem man zugleich in einem Winkel einen hübschen ‚Kleinkindergarten‘ und in einem anderen Winkel für die Schule einen ganz bescheidenen kleinen botanischen Garten anlegen könnte? Ein Privatmann wird früher oder später einen solchen Platz als gute Baustelle losschlagen, oder seine Erben werden es wenigstens thun; die Schulgemeinde, welche durch ihren Schulverein diesen Platz erworben hätte, wird aber den Spielplatz für ihre Kinder nimmer sich feil machen lassen, so wenig als ein englischer Lord seinen Park in London aufgiebt, wenn auch ringsum die ungeheure Stadt ihm über den Kopf gewachsen ist.“

Hauschild hatte den rechten Augenblick erfaßt. Seine Idee fand solchen Anklang, daß kurz nachher ein solcher Verein in’s Leben trat, der alsbald auch vom Leipziger Rathe einen geeigneten Platz, wenn auch nicht kaufte, so doch pachtweise erwarb. Man wollte dem neuen Verein den Namen seines Gründers beilegen; aber der wackere Hauschild lehnte dies mit aller Entschiedenheit ab und gab in Erinnerung an die Bestrebungen seines verstorbenen Freundes dem jungen Verein den Namen „Schreber-Verein“ und dem Spielplatze den Namen „Schreber-Platz“. Am 29. Mai 1865 wurde dieser Schreber-Platz feierlich eröffnet, und Hauschild hielt die Weihrede, in welcher er dies Geschenk, womit die Eltern und Lehrer ihre Kinder erfreuten, mit einer Weihnachtsbescheerung verglich. Das Jahr darauf starb Hauschild. Sein Andenken lebt fort in seinen Schöpfungen und den Herzen aller derer, die ihn kannten. Auf dem ersten Schreber-Platze Leipzigs ist ihm ein Denkmal gewidmet, das immer bekränzt ist.

Das Beispiel der Westvorstadt reizte zur Nachahmung. Die Saat der beiden edlen Männer ging langsam auf. 1874 trat der Schreber-Verein der Südvorstadt, 1881 der der Nordvorstadt in’s Leben, und jeder Verein hat einen stattlichen Schreber-Platz für seine Kinder zur Verfügung. Die Einrichtungen sind bei allen dreien fast dieselben.

In den „Satzungen“ des südvorstädtischen Schreber-Vereins steht: „Der Zweck des Vereins ist, im Sinne des verewigten Dr. Schreber und Director Dr. Hauschild für die leibliche und geistige Erziehung der Kinder nach besten Kräften zu wirken. Für das leibliche Wohl der Kinder sorgt der Verein durch einen gesund gelegenen, mit Gärten umgebenen Spielplatz, sowie durch Förderung und Pflege geeigneter Spiele auf demselben. Er veranstaltet, soweit es die Verhältnisse gestatten, im Sommer gesellige Zusammenkünfte der Mitglieder mit ihren Kindern und ein großes Sommerfest. Im Sommerhalbjahre soll auch, soweit möglich, durch Pflege des Gartenbaues den Kindern Gelegenheit geboten werden zu einer nützlichen und belehrenden Beschäftigung. Zur Hebung und Förderung der geistigen Jugenderziehung veranstaltet der Verein im Winterhalbjahre möglichst allmonatlich eine Vereinsversammlung, in welcher praktische Erziehungsfragen durch Vorträge mit daran sich anschließender Besprechung erörtert werden.“

Und nun hinaus auf den Schreber-Platz!

Unser Bild führt uns den der Südvorstadt vor. Wir gehen auf dem Schleußiger Wege an der Rennbahn vorüber dem Walde zu. Am Waldrande breitet sich auf einem etwa fünf Acker großen Areal eine reizende Gartenanlage aus. Das ist der Schreber-Platz. Wir treten ein, gehen am Wächterhause vorüber und gelangen bald an eine mächtige Wiese, die, in der Mitte des Ganzen gelegen, von allen Seiten mit Gärtchen, circa 150, umgeben ist. Im Hintergrunde der Wiese erhebt sich die stattliche Spielhalle, die bei plötzlich eintretendem ungünstigem Wetter die Kinder aufnimmt.

Jetzt aber kann das Wetter nicht schöner sein, und das Herz geht uns auf bei dem köstlichen Anblick, der sich uns darbietet. Hunderte von Kindern aller Altersstufen spielen in größeren oder kleineren Gruppen auf der Wiese. Hier haschen sich welche, dort werfen andere mit dem Balle, jene Mädchen führen einen zierlichen Turnreigen aus, diese Knaben üben in Schlangenlinien einen Dauerlauf. Dort sitzen ganz kleine Kinder im Grase und spielen mit Blumen, etwas größere spielen Blindekuh, Katze und Maus und andere altbekannte Jugendspiele. Allen aber sieht man es an, wie glücklich sie sich fühlen; Frühling draußen, Frühling innen. Da lernt man Jean Paul’s Wort verstehen: „Ein Blick in ein frohes, heiteres Kinderherz ist ein Blick in’s Himmelreich.“

Hier und da sieht man auch Erwachsene an den Spielen der Kinder Theil nehmen. Das sind glückliche Eltern, die mit ihren Kindern wieder jung werden, oder Mitglieder der Spiel- und Aufsichtscommission, welche zusehen, daß Alles in rechter Weise geschieht. Sie ordnen die Spiele, sie schlichten den Streit. Diese Herren und Damen sind für den Verein von großer Bedeutung, denn sie verstehen die große Kunst, mit Kindern gut zu spielen. Sie sind aber auch in vortrefflicher Schule gewesen, der „alte Gesell“ war ihr Meister.

Wer vor fünf, sechs Jahren den Schreber-Platz besuchte, der bemerkte gewiß bald einen kleinen freundlichen Herrn mit silberweißem Haar und schwarzem Sammetkäppchen, der, fast immer von einer lustigen Schaar umringt, sich mit ganzer Seele den Kindern und ihren Spielen hingab (vergl. unsere Abbildung). Das war der alte Gesell, Leipzigs Spielvater. Der Mann erinnerte nicht nur in seiner äußeren Erscheinung an Pestalozzi, auch in der Art und Weise, wie er mit den Kindern verkehrte, in seinem ganzen Wesen zeigte er große Aehnlichkeit mit dem berühmten Schweizer Pädagogen. Er erinnerte auch an Fröbel – kurz, man sah es ihm auf den ersten Blick an, daß er ein großer Kinderfreund, ein geborener Lehrer war.

Und die Kinder! Sie fühlten sofort, daß dieser Mann mit den klaren, strahlenden Augen zu ihnen gehörte. So, wie er, konnte Keiner erzählen, so verstand Niemand zu spielen. Es [372] war der Zauber seines reinen kindlichen Gemüths, der sie zu ihm hinzog.

Karl Gesell war ein Schlesier, er wurde am 8. Juni 1800 zu Liegnitz geboren. Frühzeitig regte sich in ihm die Lust zu lernen und zu lehren. Seine Ausbildung erhielt er im Seminar zu Breslau, später besuchte er die Universität in Leipzig. Ihn jammerten besonders die verwaisten und verwahrlosten Kinder. Wo er nur konnte, nahm er sich ihrer an. In Dresden gründete er eine Beschäftigungsanstalt für sie, dann wurde er nach Dessau berufen, wo er eine ähnliche Anstalt errichtete. Von dort ging er nach Mecklenburg und organisirte dort Schulen nach seinem Systeme. Auch als Schriftsteller war er thätig, seine Volks- und Jugendschriften fanden viel Anklang. Gesell liebte heitere Kinder, darum spielte er viel mit seinen Zöglingen. Er wußte, daß ein freudig erregtes Herz guten Einflüssen am leichtesten zugänglich ist. Nach langer unermüdlicher Wirksamkeit in Dessau ließ er sich in Leipzig nieder und entfaltete hier am Waisenhause und in den Schreber-Vereinen eine segensreiche Thätigkeit. Auf den Schreber-Plätzen war er der Liebling von Jung und Alt. Er ordnete und leitete die Spiele und verstand es, die jungen Mitglieder des Vereins, namentlich Mädchen und Frauen, zu gleicher Thätigkeit anzuregen. Als im Herbste 1879 der alte Spielvater starb, da gaben ihm Hunderte von Kindern das letzte Geleite und dankten ihm thränenden Auges für seine Liebe und seine Treue. Er aber hatte für sie gesorgt, indem er eine Anzahl junger Leute aus allen Ständen herangezogen hatte, die nun in seinem Geiste und Sinne die Spiele ordneten und leiteten.

Schreber, Hauschild, Gesell – jeder in seiner Art – sind gewissermaßen die Standesheiligen der Schreber-Vereine geworden, deren Andenken nie erlöschen wird. Bei allen Festen wird ihrer pietätvoll gedacht und ihre Gedenksteine und Bilder werden bekränzt.

Wie schon oben bemerkt, sind die Einrichtungen der Schreber-Vereine und Schreber-Plätze in der Hauptsache einander gleich. Wahrhaft großartig sind die Kinderfeste, welche jeden Sommer mehrmals abgehalten werden. An solchen Tagen, wie am Johannis-Feste, am großen Sommerfeste, am Sedantage ziehen Tausende von Kindern nach ihren Spielplätzen. So waren am großen Kinderfeste 1880 auf dem Schreber-Platze der Westvorstadt über zweitausend Kinder zum festlichen Spiele versammelt. Da nun selbstverständlich auch die erwachsenen Angehörigen dabei sind, so entwickeln sich hier Volksfeste bester Art. Der Platz ist mit Fahnen und Standarten geschmückt, Musik und Gesang erschallt; überall – auf dem Platze und in den Gärten – tummeln sich fröhliche Menschen. Abends zumal, wenn bengalische Flammen und Lampions Alles beleuchten, bietet der Platz einen feenhaften Anblick. Aber diese Feste, so sehr sie gefallen, sind nicht die Hauptsache. Das Wichtigste ist, daß Hunderte von Kindern – es werden auch die nicht dem Vereine angehörenden zugelassen – täglich sich in frischer gesunder Luft unter guter Aufsicht erquicken und austummeln können. Um den Kindern aber auch im Winter die nöthige Erholung zu bieten, will man die Spielplätze in Eisbahnen verwandeln. Im vergangenen Winter hatte die Stadt für eine solche unentgeltliche Eisbahn gesorgt, die viel benutzt wurde.

Dr. D. G. M. Schreber.
Auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Im Winter versammeln sich die Vereine monatlich einmal. Mitunter treten sie zu gemeinschaftlichen Sitzungen zusammen. Es werden anregende Vorträge gehalten und edle Geselligkeit gepflegt. Da namentlich die Lehrer der in den betreffenden Bezirken gelegenen Schulen regen Antheil nehmen, so kommt in diesen Versammlungen das, was Hauschild wünschte, zur vollen Geltung: die Eltern treten mit den Lehrern ihrer Kinder in engere Verbindung und tauschen gegenseitig ihre Erfahrungen und Ansichten aus. Einmal im Winter, zum Weihnachtsfeste, werden auch die Kinder herangezogen und durch eine gemeinsame Bescheerung erfreut. So geht von diesen Vereinen das ganze Jahr hindurch Licht und Leben aus.

Auch auswärts beginnt man ähnliche Einrichtungen zu treffen, so in Magdeburg, Altona, Hamm etc., selbst aus England und Amerika kommen Anfragen. Da sei hier gleich mit bemerkt, daß über Geschichte, Organisation, Kosten etc. der Schreber-Vereine demnächst ein Werkchen von dem um die Weiterentwickelung dieser Angelegenheit verdienten Leipziger Lehrer Eduard Mangner erscheinen wird, auf das wir dann besonders aufmerksam machen werden.

Ob man auch auswärts den Namen Schreber-Verein annehmen wird? Wünschenswerth wäre es, der Einheitlichkeit wegen. Die Hauptsache ist und bleibt aber, daß Schreber’s Geist darin waltet, und daß vor allen Dingen – der Spielplatz nicht fehlt. In Leipzig hatte schon vor zehn Jahren auch die Ostvorstadt einen Schreber-Verein, aber das Wichtigste, der Spielplatz fehlte. Da faßte der junge Baum keine Wurzel und ging wieder ein. Hoffentlich tritt auch hier bald ein frischer Verein in’s Leben, aber mit einem Schreber-Platze; hoffentlich entstehen auch bald an vielen anderen Orten unseres Vaterlandes Schreber-Plätze. Aber man gehe nun weiter.

Voll und ganz wird Schreber’s Idee erst dann verwirklicht, wenn nicht nur die Kinder der Volksschule, wenn auch die Schüler der höheren Unterrichtsanstalten ihre Spielplätze erhalten. Dahin zielt auch der Erlaß des preußischen Cultusministers von Goßler vom 27. October vorigen Jahres, in welchem die hohe Bedeutung der Jugendspiele treffend charakterisirt wird. In dieser Beziehung sind in Leipzig wohl schon Versuche gemacht worden, es fehlten aber bisher die entsprechenden Plätze. Jetzt wird ein solcher in der Nähe des von uns geschilderten Schreber-Platzes eingerichtet. Ein gutes Beispiel hat hier Braunschweig gegeben. Dort hat man schon seit einigen Jahren im Gymnasium die Einrichtung getroffen, daß die sämmtlichen Schüler von Quarta an bis Obersecunda im Sommer wöchentlich zweimal je zwei Stunden hindurch officiell spielen. Eingeführt sind neben deutschen Turnspielen, Cricket, Fußball etc., da diese sich besonders für eine größere Anzahl Spieler eignen. Außer diesen von der Schule eingerichteten Spieltagen kommen jede Mittwoch eine große Anzahl Schüler zu freiwilligem gemeinsamem Spiele zusammen. Gewiß hat man auch anderwärts schon ähnliche Einrichtungen getroffen. Der Erlaß des Ministers wird zum Heile unserer Jugend seine Wirkung nicht verfehlen.

Möchten doch unsere deutschen Gemeindebehörden bei Anlage neuer Schulen mit dem Platze nicht geizen, sondern möglichst Raum schaffen zu einem Schulgarten und einem Spielplatze! Möchten sie sich doch in dieser Beziehung die englischen Behörden [373] zum Muster nehmen. In England giebt schon seit 1847 ein Gesetz besondere Vorschriften über Anlage von öffentlichen Spiel- und Erholungsplätzen, viele Gemeinden gehen aber weit darüber hinaus und bringen die größten Opfer. London verwendet Millionen dafür; Bradford hat ebenfalls mit einem Kostenaufwand von fast drei Millionen Mark fünf große Spielplätze geschaffen, Leeds hat deren auch fünf, Birmingham neun, auch kleine Orte sind nicht zurückgeblieben. – Welch schöne Beispiele! Selbstverständlich müssen neben den Spielen das Turnen, Schwimmen, Schlittschuhlaufen, besonders auch gemeinschaftliche kleine Wanderungen eifrig gepflegt werden „Der Gewinn davon,“ schreibt Minister von Goßler, „kommt nicht der Jugend allein zu gut, sondern unserem ganzen Volk und Vaterland.“

E. Stötzner.

  1. „Das Buch der Erziehung an Leib und Seele. Für Eltern, Erzieher und Lehrer von Dr. D. G. M. Schreber. 2. Auflage durchgesehen und mit Rücksicht auf die Erfahrung der neueren Kinderheilkunde erweitert von Professor Dr. C. Hennig, Director der Kinderheilanstalt zu Leipzig.“ Leipzig, Friedrich Fleischer.
  2. Vergl. Eduard Mangner: Dr. G. M. Schreber, ein Kämpfer für Volkserziehung. Leipzig, C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung.