Auf dem Thurm der Hallenser Marktkirche

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Titel: Auf dem Thurm der Hallenser Marktkirche
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 351–352
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Erzählung über einen studentischen Trinkerkreis in Halle
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[350] Auf dem Thurm der Hallenser Marktkirche. Es war im Winter des Jahres 184* - da lebten unter den Commilitonen der ehrsamen Universität Halle sieben Studenten in engem Bund der Freundschaft und der Fidelität; sie verbrachten in Lust und Durst manch vergnügten Tag, und wenn die Seidel in munterer Runde kreisten, hätte man glauben können und sollen, daß diese Sieben einer und derselben Verbindung angehörten. Das war aber nicht der Fall; vielmehr waren sie Mitglieder drei verschiedener Verbindungen, der „Br.“, der „Westphalen“ und der „Thüringer“.

Diesen gleichgestimmten, gleichdurstigen sieben Kehlen, denen der § 11 als das höchste Gebot erschien, war es manchmal recht schwer geworden, an einem kaum „angebrochenen Abende“ das häusliche Lager aufzusuchen. Es gab sogar Abende, wo die hellen Thränen dem Aeltesten, Ehrwürdigen mit dem hölzernen Arm (auch Götz von Berlichingen genannt) über die gerötheten Wangen in den Bart liefen, wenn sie alle in stummer Verzweiflung bei hellem Mondenschein über den Markt zogen, „still“ zwischen dem Löwen-Brunnen und dem Rothen Thore standen und dann den verlangenden Blick nach Abhülfe des Leidens in die Höhe zu den Spitzen der beiden Kirchthürme schweifen ließen, die eben der Thürmer, sein bekanntes Signal gebend, umkreiste. O du glücklicher Thürmer! Hab’ Erbarmen, laß dich bekneipen! Ob man nicht dort oben noch etwas bekäme?

Diese lustige Frage wurde viel und ernstlich beleuchtet, und zwei cand. jur., also Diplomaten, wurden für den folgenden Tag mit einer feierlichen Anfrage bei dem erhabenen Thurmwächter um Anweisung eines Kneipraumes in seiner allerhöchsten Wohnung beauftragt. Der Erfolg ihrer diplomatischen Mission überstieg die kühnsten Erwartungen; er, der überirdische Alleinbeherrscher zweier östlicher und westlicher Reiche, erklärte sich gern bereit, den Herren den Einlaß nicht vorzuenthalten, vorausgesetzt, daß diese den nöthigen Stoff für den Lebensunterhalt mitbrächten. O, welche Labung, welche Erquickung, nach elf Uhr dem § 11 in solcher Freiheit, über alle irdischen Dinge und Bewohner – auch über den Herrn Pedell – erhaben, huldigen zu können!

Am nächsten Abend bei etwas Mondschein, sonst bedecktem Himmel, sieht man die Sieben still und ruhig, wie sonst noch nie um diese Zeit, über den Markt gehen; immer Einer den Andern zu noch größerer Ruhe mahnend, erscheinen die sieben Verschworenen an der Thurmthür; ein verabredetes Zeichen wird unten gegeben und hat beim Thürmer günstigen Erfolg; knarrend öffnet sich die Thür, und mit seltener Hast drängt sich die lustige Schaar hinein. Knarrend schließt sich wieder die Thür, und nun adieu ihr irdischen Götter, wie ihr auch alle heißt, Polizei, Gensd’arm, Pedell, adieu Universitätsrichter, adieu Curator! Es lebe § 11!

Augenblicklich herrscht zwar das Dunkel der Unterwelt: kein Lichtstrahl dringt in dieses Siebengewirr, und unterdrücktes Kichern und Lachen über den gelungenen Streich füllt den Raum. Aber allmählich entwirrt sich der Knäuel; es holpert, es stolpert Alles in heiterster Laune den nur den beiden Abgesandten bekannten verheißungsvollen Weg hinauf. Endlich ist die dornenvolle schmale Stiege überwunden, der obere Rand des edlen Naß, das Allen vorangetragen wurde, wird zuerst vom Mondschein begrüßt; es glänzt wie ein Meteor in hellem Schein und lockt nun die Folgenden zu schnellerem Gehen. Da sind sie Alle oben und werden auf’s herzlichste bewillkommnet vom überirdischen Hofstaat, dem Herrn Thürmer, seiner Frau, seinen beiden Kindern männlichen und weiblichen Geschlechts. An dem westlichen Thurm vorbei, über die verbindende Brücke schreitend und sich östlich wendend, treten jetzt die Sieben in das Gemach des Thürmers ein; es wird nun alsbald das nächtliche Revier eingerichtet und die köstliche Zeit benutzt. Parlamentarische Verhältnisse gab es zwar damals in Deutschland noch nicht, aber man hatte doch das Vorgefühl davon, und die eigenthümliche Umgebung inmitten einer freien himmlischen Region ließ es geboten erscheinen, einige gesetzliche Bestimmungen zu treffen, damit in diesem hehren Reiche alles in bester Ordnung verliefe. Das Statut wurde entworfen und enthielt 13 Paragraphen (unter Anderem durfte Niemand über die Barrière in die Tiefe springen, wenn er auch versprach, sofort wieder zu kommen); der neugeborene Bund erhielt den Namen „Thurmia“, und in seinem Banner waren die Farben blau und grau (Himmel und Dämmerung) vorherrschend.

Da für jede Stellung im Leben auch jedes Menschenkind seinen amtlichen Namen haben muß, so griff man hier ohne Zaudern aus der Reihe der Heiligen für das Siebengestirn die Namen der großen und kleinen Propheten und vergab nach den übereinstimmenden Eigenschaften der damaligen und jetzigen Träger die Namen. Da saßen sie alle in ihrer Würde, jeder nach Ansehen und Verstand, nach Gabe oder Hauspump benamset; ich sehe noch Jesaias, Jeremias, Hesekiel, Habakuk etc. Aber damit war die Namenvertheilung nicht erschöpft; auch der, dem wir diese Möglichkeit der Existenz verdankten, mußte einen Namen von classisch-biblischem Klange haben, ebenso sein Weib und seine Kinder. So wurde er Noah, sie Barbara, das Töchterlein Judith, der Sohn Amor genannt. Dem ganzen Staatswesen entsprechend, fehlte auch nicht die Ordensvertheilung; da sah man den Mondscheinorden etc.

Es war ein geräumigeres Zimmer, als man denkt, und ursprünglich wenig durch Möbel eingeengt. Die Fenster waren nach dem Rathhause zu durch Laden geschützt, während die übrigen dem vollen Mondlichte freien Eintritt gewährten; die Tafel war so gestellt, daß der Vorsitzende mit dem Gesichte dem Rathhause nebst dessen feindlichen Bewohnern zugewendet saß; rechts und links reihten sich die übrigen Mitglieder an. So überaus verlockend und reizend dieses Revier war, es, hatte doch auch seine dunkle Seite; denn gerade über der Tafel hing in langem Bogen der zur Feuerglocke [351] führende Strang, und wen kommt nicht einmal die Lust im Leben an, Etwas zu wagen! Freilich 25 Thaler Strafe für unzeitiges Signal war das Gegenmittel für zu feurige Liebhaber.

Da saßen sie denn, die alten Kneipiers, in der reellsten seligsten Seligkeit ihres Hochgenusses; es schien ihnen nichts zu fehlen; sie waren die „Glücklichen“, seliger, wie sie auf dem „hohen Olymp“ nicht sein konnten. Gesang und Trank, Witz und Scherz wechselten, wie es der Augenblick eingab.

Bald fand sich auch ein „Thurmia“-Dichter und mit ihm das Farbenlied und das „Allgemeine“, dessen Anfang Nachts, wenn der alte Noah die Thürme umhumpelte, Barbara anstimmte, indem sie rief. „Es hat ja geplumpert etc.“ Eine reizende Zugabe war die musikalische Bildung Noah’s. Wie still sassen die alten Sünder da, wenn Noah sich erweichen und aus der Posaune einen Choral ertönen ließ! Weniger rührend als erheiternd war das musikalische Auftreten des jungen Sprößlings, der eben den ersten Studien verschiedener Blech- und Holzinstrumente oblag und in den Stunden so abgerichtet war, daß er bei seinem Vortrage genau 75 Tacte abzählte und sofort von vorn anfing, wenn er durch ein leises Gelächter der Zuhörer darin unterbrochen war. Das mache ihm aber auch einer nach unter solchen Stimmungsgenossen – Nachts um halb Zwölf 75 Tacte zu zählen, ohne aus der Fassung zu kommen, zumal noch unter der Aussicht des väterlichen Schutzgeistes!

Hin und wieder schlich sich auch wohl dieser Letztere, dem allgemeinen Gelage entfliehend, auf den Rundgang. Dort, auf dem Theile, der sich dem mächtigen Kirchendache zuwendet, stellte er sich mit dem Rücken gegen die Wand, mit den Füßen gegen das Geländer und fing, durch äußere und innere Stimmung getrieben, zu philosophiren an. Wenn er dann wieder zu uns in’s Zimmer zurückkehrte, welch wunderbare Gedankensprünge und Sprüche kamen da zum Vorschein! Leben, Liebe, Elend, Sterben, Hinabstürzen vom Geländer – Alles durch einander, wie es solche Stimmung mit sich bringt. Wir bildeten ein seltsames Gemisch von Menschen, das noch seltsamer wurde, wenn der verständige, lebenserfahrene Noah sich mit seiner Thurmphilosophie dazwischen mischte.

Aber unser Thurmphilosoph war auch ein praktischer Mann – trotz seiner Neigung zum einsamen Träumen und Nachdenken; denn er verstand es, sich mit den Dienern der Unterwelt, der Polizei, obgleich er nur selten zu ihnen hinabstieg, in gutem Einvernehmen zu halten, sodaß dieselben, wenn manchmal in stiller Nachtstunde ganz wunderbare Klänge von oben an ihr Ohr schlugen und dunkle Gestalten über die Brücke schlichen, die Augen und Ohren schlossen. Aber der Verräther schlief doch nicht für lange, wie überall, wo es gilt, harmloses Wesen durch Spionage zu stören. Die alte Schlange der Bosheit, des Neides konnte es nicht ruhig mit ansehen, daß dort in höhern Regionen eine kleine Zahl lustiger Menschen hin und wieder einige zwar absonderliche, aber unschädliche Stunden verlebte; wir unschuldigen Sieben sollten durchaus, so hieß es, dort oben kirchen- und staatsverbrecherische und Gott lästernde Gespräche führen; so fand sich denn auch wirklich eines schönen Tages der betreffende Untersuchungsbeamte nebst Protokollführer in der Höhe ein, um den Ort der That zu beschauen, die verbrecherischen Schriften etc. mit Beschlag zu belegen und den ehrenwerthen, gottesfürchtigen Noah gerichtlich zu vernehmen. Noah vor dem Richter! Wohl selten hat sich aus solcher Höhe eine Gerichtsscene abgespielt. Noah war stolz, daß nichts von Allem gefunden wurde, worauf man gefahndet, und wußte auf die Fragen, ob es wahr sei, daß diese nächtlichen Herren schlechte Witze über Kirche und Staat gemacht, nur höflich zu erwidern.

„Ja, Witze machen sie, aber immer nur gute!“

Das Semester ging zu Ende; die Sieben wurden nach allen Richtungen zerstreut. – – –

Nachschrift der Redaction. Damit schweigt unser Berichterstatter. Was ist nun aus den lustigen Studenten und ihrem Wirthe geworden? Nur über drei Mitglieder der „hohen Gesellschaft“ vermögen wir Aufschluß zu geben. Der einstige Bruder Studio, der uns die obige fröhliche Geschichte erzählt hat, er ist nach zurückgelegtem Studium ein namhafter Arzt und Schriftsteller geworden. Seit einigen Monaten ist er – todt, und nur seinem Nachlasse entnahmen wir das hier Mitgetheilte. Todt ist auch der alte Thurmwächter, todt seine Gemahlin Barbara. Mannigfaches Leid war in der stillen Thurmwohnung eingekehrt, und in Verzweiflung stürzte sich im Herbst des verflossenen Jahres der getreue Wächter von seinem hohen Wachtposten auf das Straßenpflaster Halles - am anderen Morgen fand man die Leiche seiner Frau in den Fluthen der Saale.